Im Eröffnungskonzert der Clara-Schumann-Festwochen spielt Lauma Skride deren Klavierkonzert mit Bravour. Zuvor erleben Betsy Jolas’ „Letters from Bachville“ ihre Uraufführung.

Lauma Skride | © Marco Borggreve

Uraufführung im Gewandhaus. Noch bevor ich den Saal betrete, sehe ich sie vor meinem inneren Auge: die zu erwartende übertrieben große Orchesterbesetzung, die zahlreichen, Trommeln, Gongs, Röhrenglocken, Klavier, Celesta etc. Ich trete ein und finde meine Vorahnung bestätigt. Seufzend lese ich das Programmheft mit dem Fragebogen, den in diesem Fall die renommierte französische Komponistin Betsy Jolas ausgefüllt hat. Sie wolle, so schreibt sie, mit ihrer Musik kommunizieren, verbinde mit dem Gewandhausorchester Johann Sebastian Bach und ihr neues Werk werde umherschweifen. So wenig ich mit derartigen Aussagen anfangen kann – in diesem Punkt stimme ich der Komponistin nach dem Hören ihres neuen Werkes zu: Es schweift tatsächlich umher, von hier nach dort, ohne erkennbare Richtung. Da es den Titel „Letters from Bachville“ trägt, erklingen natürlich die Töne B-A-C-H und es werden Melodien des Thomaskantors zitiert, die in diesem atonalen Umfeld ungefähr so passend wirken wie deutsche Sätze in einem finnischen Roman. Zwar weist die Programmheft-Einführung darauf hin, dass „Letters“ ja nicht nur Buchstaben, sondern auch Briefe seien – allein, der punktuelle, aphoristische Charakter der Musik lässt zumindest für mich nichts Kohärentes entstehen, das an einen Brief erinnerte. Andererseits gibt es ja auch kurze Briefe. So schrieb Friedrich der Große an Voltaire den kürzestmöglichen Brief überhaupt: „I“ heißt es darin in denkbar knappem Latein, „Geh!“. Heute Abend also die „Briefe“ B, A, C, und H?

Clara Schumanns Klavierkonzert, das heute im Mittelpunkt des Interesses steht, ist zwar inzwischen gut auf Tonträgern dokumentiert, fristet im Konzertleben aber immer noch ein Schattendasein. Ann-Katrin Zimmermann wirft im Programmheft die interessante Frage auf, ob man dieses Konzert auch dann noch heute spielen würde, wenn es nicht von einer Frau komponiert worden wäre. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass dies nicht der Fall wäre, freue ich mich doch, jenes Werk einmal im Konzert zu erleben, das die sechzehnjährige Clara 1835 im Gewandhaus uraufgeführt hat.

Dies gilt noch mehr, wenn das Konzert derart überzeugend gespielt wird wie am heutigen Abend von Lauma Skride, die nicht nur die hohen technischen Hürden mühelos überspringt, sondern auch der Poesie den nötigen Raum gibt. Das gilt vor allem für das wunderschöne Duett mit dem Solocello im originellen zweiten Satz.

Nach der Pause erklingt Robert Schumanns sogenannte „Frühlingssinfonie“. Das Gewandhausorchester hat sich schon im Klavierkonzert von seiner besten Seite gezeigt, legt aber nun noch eine ganze Schippe drauf, was Klangschönheit, rhythmischen Drive und Spielfreude anbelangt. Dies liegt nicht zuletzt an Andris Nelsons, der trotz Sicherheits-Partitur auf dem Pult seinen Schumann bestens kennt und alles aus dem Orchester herausholt. So spannungsgeladen hört man die Durchführung des ersten Satzes kaum einmal, so fein ausgearbeitet das Larghetto selten, das Scherzo fast nie so tänzerisch und niemals ein derart klanglich aufpoliertes Finale. Dieses Orchester IST Schumann, Punkt.

Frank Sindermann

12. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Lauma Skride, Klavier

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