Inbrunst im Herzen

Klaus Florian Vogt erklärt und singt im Gewandhaus Auszüge aus Wagner-Opern.

Szenenentwurf für den 3. Akt der Oper Tannhäuser von Max und Otthold Brückner
Szenenentwurf für den 3. Akt der Oper Tannhäuser von Max und Otthold Brückner

Moderierte Konzerte sind heute fast ausschließlich bei Familienprogrammen üblich – was schade ist, wie das heutige Konzert im Gewandhaus mit Startenor Klaus Florian Vogt beweist. Charmant und launig führt Vogt das Publikum durch die storytechnischen Verwicklungen der Wagner-Schnipsel und lockert dadurch nicht nur die oft sehr weihevolle Atmosphäre auf, sondern bietet einen echten inhaltlichen Mehrwert – zumindest für Wagner-Neulinge, die Programmheft und Einführungsveranstaltung ignoriert haben.

Nicht jeder Gag zündet beim Publikum, mal liefert Vogt ein vergessenes Detail nach, manche Aussagen zu den Operninhalten sind diskussionswürdig – dies ändert aber nichts an der insgesamt frischen Herangehensweise, zumal dadurch dem aus Opernhäppchen zusammengewürfelten Programm eine Art roter Faden hinzugefügt wird. Tannhäuser, Tristan, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung in einem Konzert? Kann man machen, muss man aber nicht. Am Ende zählt ohnehin die musikalische Qualität, und die ist schlicht und einfach phänomenal.

Das Gewandhausorchester zeigt sich von seiner besten Seite und besticht durch wunderbar zarte und homogene Streicher (Tannhäuser-Ouvertüre), klangschöne Holzbläser (Waldweben) und strahlendes Blech (Götterdämmerung). Wunderbare Soli (Gundel Jannemann-Fischer mit ihrem betörenden Englischhorn-Solo von der Saalempore) treffen auf vollkommene Orchesterkultur. Andris Nelsons leitet das Orchester mit Sinn für Klang und Details, überdreht aber manchmal den Lautstärkepegel. Ein Wagner-Orchester auf dem Podium ist etwas anderes als ein ebensolches im Orchestergraben…

Star des Abends ist selbstverständlich Startenor Klaus Florian Vogt, über dessen Qualitäten als Wagner-Sänger unter Wagnerianern immer wieder diskutiert wird. Das heutige Konzert zeigt einen Tenor auf der Höhe seiner Kunst, ausgestattet mit einer zwar ungewöhnlich hellen, aber kraftvollen Stimme, die schmachtenden Liebesliedern (“Winterstürme wichen dem Wonnemond”) ebenso gerecht wird wie dramatischen Gefühlsausbrüchen (“Rom-Erzählung”). Vogt ist dabei nicht nur ein großartiger Sänger, sondern auch ein begnadeter Schauspieler, der die Emotionen der verkörperten Personen eindringlich darzustellen vermag.

Vogts eingestreute Erklärungen und Witzchen sorgen von Anfang an für einen direkten Draht zum Publikum – was für das Orchester nicht in gleichem Maße gilt. Leider wendet Andris Nelsons Vogt permanent den Rücken zu, was mitunter zu leichten Koordinationsproblemen führt. Offenbar versteht sich Vogt nicht nur im gemeinsamen Bühnenprogramm mit Harald Schmidt als Vermittler, sondern auch im Konzertsaal. Wenn der ehemalige Hornist selbst zum Instrument greift, um Siegfrieds Hornmotiv zu blasen und den gescheiterten ersten Versuch mit den Worten “Jetzt wissen Sie, warum ich Sänger werden wollte” quittiert, hat er die Lacher selbstredend auf seiner Seite.

Das Häppchenkonzept des Konzerts geht nicht immmer auf – im Tannhäuser besser als im Tristan, in der Walküre besser als in Siegfried – sorgt aber immerhin für Abwechslung und ermöglicht den Wagner-Skeptiker:innen im Publikum vielfältige Eindrücke. Besser gesungen wird man diese Musik derzeit jedenfalls nirgends hören können.


Ein Wagner-Abend der Extraklasse, unterhaltsam und bewegend zugleich.

Wertung:

5 von 5 Punkten

Frank Sindermann

Den richtigen Ton treffen

Isabelle Faust und das Gewandhausorchester eröffnen im Rahmen des Demokratie-Wochenendes die 245. Saison.

Isabelle Faust
Isabelle Faust | © Felix Broede

Was passiert, wenn aus individueller Klasse kein übergreifendes Ganzes wird, wenn die nötige Motivation fehlt, alles zu geben, das ließ sich im jüngsten Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Slowakei beobachten. Was geschieht, wenn hervorragende Musiker:innen mit höchster Motivation und Freude an der Musik zusammenspielen, konnte das Publikum im Eröffnungskonzert der 245. Gewandhaus-Saison erleben. Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons wirkte so motiviert und gleichzeitig entspannt wie lange nicht mehr und übertrug seine Begeisterung für die Musik auf alle Beteiligten. Jene vielbeschworene „Emotionalität“, die dem DFB-Team offenbar gefehlt hat – hier war sie in jeder Minute greifbar.

Drei Glockenschläge läuten das Konzert ein. Diese ersten Töne der neuen Saison stammen aus Arvo Pärts “Cantus in memoriam Benjamin Britten”, einem kurzen Werk, das exemplarisch zeigt, warum Pärt unter den noch lebenden Komponisten einer der publikumswirksamsten ist. Aus der traditionsreichen Idee des Augmentationskanons gestaltet Pärt eine komplexe und dennoch hörend nachvollziehbare Struktur. Die Streichergruppen setzen nacheinander ein, wobei sukzessive der Tonraum von den höchsten Höhen bis zu den tiefsten Bässen durchmessen wird. Gleichzeitig verdoppeln sich bei jedem Einsatz die Tondauern. Trotz dieses beinahe mathematisch anmutenden Konzepts entfaltet der “Cantus” eine mitreißende Klangwirkung. Nelsons Dirigat ist stringent und klar, sodass auch bei zunehmender Komplexität und Klangfülle stets die polyphone Struktur erkennbar bleibt. Ein gelungener Auftakt!

Die nun folgende Ansprache der Transformationsforscherin Maja Göpel im Rahmen des Demokratie-Wochenendes unter dem Motto “Den richtigen Ton treffen” erinnert ein wenig an politische Sonntagsreden. Außer einigen gut gemeinten Musik-Metaphern dürfte das Publikum aus Göpels äußerst knappen Ausführungen über die aktuelle Bedrohung der Demokratie wohl nur wenig Neues mitnehmen.

Antonín Dvořáks Violinkonzert wird eher selten aufgeführt und tatsächlich zählt es wohl nicht zu seinen besten Werken. Oder? Die heutige Aufführung durch Isabelle Faust und das Gewandhausorchester lässt jedenfalls an diesem Urteil zweifeln. Wenn das Konzert mit solch einer Hingabe musiziert wird, braucht es keinen Vergleich zu scheuen. Oder doch? Egal. Im Hier und Jetzt genieße ich eine musikalische Sternstunde. Fausts körperliches Spiel, das teils beinahe an Tanzen erinnert, und Nelsons sichtbare Freude am gemeinsamen Musizieren entfalten eine Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Der zupackend zackige Beginn des ersten Satzes zeigt sofort, wohin die Reise gehen soll, und tatsächlich bewegt sich diese Aufführung auf konstant hohem Energielevel. Wie sich Nelsons und Faust die Bälle zuspielen und Isabelle Faust immer wieder freudestrahlend Kontakt zum Orchester sucht und findet, ist eine wahre Freude. Ob im gefühlvollen, aber nie schleppenden zweiten Satz oder dem feurigen Finale: Hier ist das Vergnügen aller Beteiligten mit Händen zu greifen. Die beinahe auf ihren Sitzen hüpfende Holzbläsergruppe ist nur ein beliebiges Beispiel für ein Orchester, das lebt und atmet, schwingt und tanzt. Andris Nelsons inspiriert und motiviert, lauscht auf Orchester und Solistin, stampft auch einmal mit dem Fuß auf – mehr Musizierfreude geht nicht. Als Zugabe spielt Faust eine Solo-Fantasie des chronisch unterschätzten Georg Philipp Telemann und gibt dem Publikum damit eine weitere Gelegenheit, ihrem beseelten und wandlungsfähigen Spiel zu lauschen.


Jean Sibelius’ zweite Sinfonie ist vor allem für ihr episches Finale bekannt, bietet aber in jedem Satz aufregende Hörerlebnisse – und ernorme Herausforderungen für das Orchester. Den ersten Satz gestaltet Nelsons dramatisch, ohne seine Schroffheiten zu glätten oder seine Brüche zu kitten. Dies ist wirkungsvoll und spannend, gar keine Frage. Leider reizt Nelsons die dynamischen Möglichkeiten bereits hier fast vollständig aus, sodass er im Finale nicht mehr viel nachlegen kann. Im zweiten Satz gestaltet Nelsons mit dem Orchester einen meisterhaften Spannungsbogen. Dies gelingt vor allem deshalb, weil er stets intensiv auf das Orchester hört und sehr genau darauf reagiert, was das Orchester ihm anbietet. Vollkommenes Pizzicatospiel, strahlendes Blech, virtuoses Paukenspiel – das Gewandhausorchester präsentiert sich zum Saisonauftakt in Bestform. Das Scherzo nimmt Nelsons spannungsgeladen und beinahe atemlos, wobei ihm der Übergang zum letzten Satz leider etwas unklar gerät. Das Finale besticht vor allem durch orchestrale Prachtentfaltung. Die etwa fünfminütige Schlusssteigerung wird zum krönenden Abschluss eines herausragenden Konzertabends. Das begeisterte Publikum belohnt eine technisch beeindruckende, vor allem aber durchweg inspirierte Leistung mit stehenden Ovationen.


Ein gelungener Saisonauftakt, bei dem stets der richtige Ton getroffen wurde!

Wertung:

5 von 5 Punkten

Frank Sindermann

Musikalische Wunderlampe

Das MDR-Sinfonieorchester spielt im Gewandhaus orientalische Fantasien, darunter zwei Raritäten.

Kerem Hasan | © Tristan Fewings

Mehr Zauber geht nicht. Rimski-Korsakows Dauerbrenner „Sheherazade“, Borodins „Steppenskizze“, dazu zwei passend ausgewählte Neuentdeckungen: Das Programm des Konzerts „1001 Nacht“ passt ideal in die MDR-Reihe „Zauber der Musik“ und verspricht einen ebenso abwechslungsreichen wie inspirierenden Abend. Mit Engelbert Humperdincks „Ritt in die Wüste“ und Karol Szymanowskis Orchesterliedern nach Gedichten des Hafis erklingen zwei Werke, die völlig zu Unrecht ein Schattendasein im gegenwärtigen Konzertleben fristen – schon allein für diese lohnt sich der Besuch des Konzerts.

Den Anfang macht aber ein altbewährter Klassiker, Alexander Borodins schlichte, aber wirkungsvolle „Steppenskizze aus Mittelasien“. Hinter diesem etwas sperrigen Titel verbirgt sich eine stimmungsvolle Miniatur, die vor allem von der Schönheit der zwei kontrastierenden Themen lebt. Der britische Dirigent Kerem Hasan wählt ein mittleres Tempo und und hält die Musik stets im Fluss. Die Steigerung bis zum Höhepunkt, wenn die beiden Themen gleichzeitig erklingen, gestaltet er ebenso überzeugend wie das abschließende Verlöschen im Nirgendwo. Das MDR-Sinfonieorchester spielt klangschön (Soli!), aber noch etwas unsortiert, was die Intonation (hohe Violinen) und die Präzision gemeinsamer Akkorde (Holzbläser) angeht. Es wirkt, als seien noch nicht alle Beteiligten von Anfang an zu 100 Prozent bei der Sache.

Dies kann sich bei Szymanowskis Liebesliedern niemand mehr erlauben – nicht das Orchester, nicht der Dirigent und schon gar nicht der Solist. Bei letzterem handelt es sich heute Abend um den wunderbaren Mauro Peter, dessen warmer, edler Tenor ideal zum (gerade noch) spätromantischen Stil dieser acht schwelgerischen Lieder passt. Mit intelligenter Phrasierung, perfekter Artikulation und stimmlicher Durchsetzungskraft beweist Peter einmal mehr, dass er nicht nur im klassischen Repertoire zuhause ist. In manchen Liedern hätte ich mir noch ein wenig mehr interpretatorische Tiefe gewünscht. So spiegelt sich die große emotionale Bandbreite der acht Gedichte nicht durchweg in Peters Gesang wider. Immer schön und kultiviert, aber zu ähnlich geht Peter die einzelnen Lieder an. Kerem Hasan dirigiert die farbenreiche Partitur mit Gespür für feine Details und reagiert sehr umsichtig auf den Solisten, sodass dieser zum Glück nur selten vom luxuriös besetzten Orchester übertönt wird.

Nach der Pause folgt mit Engelbert Humperdincks „Ritt durch die Wüste“ die zweite Entdeckung des Abends. Das effektvolle, dramatisch bewegte Stück ist klar von Wagner inspiriert, geht aber doch eigene Wege. Die rundum gelungene Aufführung zeigt, dass man dem Komponisten beliebter Märchenopern Unrecht tut, wenn man ihn nur auf diese reduziert. Tipp: Auch die übrigen Sätze der „Maurischen Rhapsodie“ lohnen sich!

Den Abschluss bildet Nikolai Rimski-Korsakows sinfonische Suite „Scheherazade“, ein Meisterwerk der musikalischen Charakterisierung und Instrumentation und für viele sicherlich der Höhepunkt des Abends. Den Part der Solovioline übernimmt Orin Laursen, der heute als Gast die Position des Konzertmeisters innehat. Der erste Satz beginnt vielversprechend: dräuende Blechbläserakkorde, Laursens filigranes erstes Solo… doch dann macht sich matte Müdigkeit breit. Ich höre ein Orchester, das eine Musik, die es im Schlaf spielen könnte, so spielt, als schliefe es tatsächlich. Derart unterspannt habe ich diesen Satz selten gehört. Dies liegt nicht zuletzt am Dirigenten, der mehr Einsatz fordern müsste und auch sonst eher unauffällig bleibt. Zum Glück bessern sich die Dinge im weiteren Verlauf deutlich. Hervorzuheben sind vor allem der gefühlvoll musizierte dritte Satz und das Finale, welches schon allein aufgrund seiner enormen Schwierigkeit die letzten Feierabendträume der Musiker:innen verscheucht. Warum nicht gleich so? Ein wahres Fest sind die zahlreichen Soli von Flöte, Klarinette, Fagott, Horn, Harfe – und natürlich Orin Laursen, der das verkappte Violinkonzert virtuos und mit edlem, schlankem Ton spielt. Dieser Scheherazade hört man gern zu – vielleicht sogar 1001 Nacht lang.

Eine Aufzeichnung des Konzerts ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.mdr.de/klassik/hoeren-sehen/leipzig-gewandhaus-kerem-hasan-dirigiert-100.html

Frank Sindermann

Sonntag, 14. April 2024
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Orin Laursen, Konzertmeister
Mauro Peter, Tenor
Kerem Hasan, Dirigent

Endlich September

Ehrendirigent Herbert Blomstedt (96) dirigert zur Saisoneröffnung im Gewandhaus Sinfonien von Schubert und Berwald.

Skandinavische Alpen | Bildnachweis siehe unten

Es vermag mir nicht recht einzuleuchten, warum alte Menschen besser geeignet wären, die Sinfonie eines Neunzehnjährigen aufzuführen, wie dies ein Leipziger Musikkritiker jüngst behauptete; schaden kann ein hohes Alter andererseits auch nicht, wie der 96-jährige Herbert Blomstedt im Eröffnungskonzert der neuen Gewandhaussaison eindrucksvoll unter Beweis stellte. Bei allen physischen Beeinträchtigungen, die ein fast hundertjähriges Leben mit sich bringt – entscheidend ist die Geisteshaltung. Herbert Blomstedt hat in den letzten zehn Jahren einige seiner frischesten, lebendigsten Einspielungen vorgelegt, und auch das heutige Matineekonzert im ausverkauften Gewandhaus sprüht geradezu vor Energie. Schuberts bezaubernde Fünfte mit ihrer Mozartischen Eleganz ist bei Blomstedt in den denkbar besten Händen. Der erste Satz voller Esprit, lebendig fließend das Andante, akzentuiert ohne Grobheiten der dritte, ein quicklebendiges Finale der vierte. Ein bestens aufgelegtes Orchester erfüllt seinem Ehrendirigenten jeden Wunsch, vermutlich, ohne dessen sparsamer Gesten wirklich zu bedürfen.

Nach der Pause dann Werke des schwedischen Komponisten Franz Berwald, dessen Musik Blomstedt immer wieder aufgeführt und mehr oder weniger bekannt gemacht hat, nicht zuletzt in Leipzig. Das Tongemälde „Erinnerung an die norwegischen Alpen“ überzeugt vor allem durch seine stimmungsvolle Atmosphäre und eine klangliche Weite, die dem erhabenen Sujet angemessen ist. Blomstedts gelassenes Dirigat lädt das reizvolle, unspektakuläre Stück nicht unnötig auf, sondern lässt es seine knapp zehn Minuten lang fließen – eine gute Entscheidung. Besonderer Respekt gebührt Blomstedt dafür, dass er das selten gespielte Stück für die Konzerte dieser Woche erstmals erarbeitet hat.

Berwalds „Sinfonie Singulière“ ist ein völlig anderes musikalisches Kaliber und hätte sich einen festen Platz im Repertoire mehr als verdient. Blomstedt hat die Urtextausgabe der Sinfonie seinerzeit selbst herausgegeben und sie seither oft genug gespielt, um sie auch heute noch auswendig dirigieren zu können. Für das Orchester ist Berwalds originelle, aber mitunter sperrige Sinfonik kein Selbstläufer, was sich beispielsweise an einigen rhythmischen Unebenheiten im ersten Satz zeigt. Dafür gerät der herausragende Mittelsatz mustergültig, vor allem der tief empfundene langsame Rahmenteil. Auch der schroffe, wechselhafte Schlusssatz überzeugt durchweg. Den größten Anteil daran haben die Musiker:innen des Gewandhausorchesters, von denen hier stellvertretend die Flötistinnen genannt seien: Von den berückenden Kantilenen im langsamen Satz der Schubert-Sinfonie bis zu Berwalds fragmentarisch knappen Antwort-Floskeln meistern sie alle Herausforderungen technisch souverän und musikalisch überzeugend.

Am Ende steht der Saal und jubelt „seinem“ gerührten Dirigenten zu, der es immer noch versteht, Publikum und Orchester durch seine Musik und seine Persönlichkeit zu inspirieren. Dies gelingt vor allem deshalb, weil das Gewandhausorchester seinen Ehrendirigenten musikalisch auf Händen trägt und mittlerweile fürsorglich am Arm führt. Ohne diese herzerwärmende Unterstützung wäre alles nichts.

(Frank Sindermann)

10. September 2023, 11 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent

Foto: User „Moralist“ auf Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Klassisches Ebenmaß

Valentino Worlitzsch spielt Elgars Cellokonzert erfreulich unsentimental, Michhail Gerts erweist sich als würdige Vertretung für den erkrankten Michael Sanderling.

Valentino Worlitzsch | (c) Felix Broede

Die Werke Edward Elgars werden außerhalb Großbritanniens nach wie vor selten gespielt. Es gibt allerdings einige Ausnahmen: die wunderbaren „Enigma“-Variationen, die effektvoll auftrumpfenden „Pomp and Circumstance“-Märsche und das Cellokonzert. Letzteres erklingt nun zum ersten Mal seit 2010 im Großen Concert; den Solopart übernimmt Valentino Worlitzsch, 1. Solo-Cellist des Gewandhausorchesters.

Von der eröffnenden dramatischen Geste des ersten bis zum virtuosen Schluss des letzten Satzes überzeugt Worlitzsch mit gestalterischer Intelligenz und Kreativität sowie wohldosierter Melancholie, die nie in rührselige Sentimentalität abgleitet. Mit klangvollem Sepia-Ton kreiert Worlitzsch genau jene nostalgische Atmosphäre, die dieses Konzert für mich auszeichnet. In den technisch anspruchsvollsten Passagen leiden vereinzelt rhythmische Präzision und Sauberkeit der Intonation; dem hervorragenden Gesamteindruck tut dies jedoch kaum Abbruch. Das Gewandhausorchester unter Leitung des kurzfristig eingesprungenen Dirigenten Mihhail Gerts erweist sich als idealer Dialogpartner des Solisten, steuert aber auch immer wieder eigene Akzente bei.

Für die Zugabe kündigt Worlitzsch an, einen Satz aus einer Cellosuite spielen zu wollen. Süffisant konterkariert er sogleich die Erwartungshaltung des Publikums: Nicht Bach, sondern Reger ist der Komponist! Dessen Cellosuiten atmen ganz den Geist des verehrten Vorbilds und unterscheiden sich vor allem in harmonischer Hinsicht von diesem.

Ein weiteres Vorbild Max Regers war Wolfgang Amadeus Mozart. Dessen Adagio und Fuge c-Moll bildeten den Auftakt des Konzerts, wobei das angespannte, präzise gespielte Adagio mehr zu gefallen wusste als die etwas holpernde Fuge. Regers Mozart-Variationen beschließen nach der Pause das Konzert. Das Gewandhausorchester zeigt sich ausnahmslos von seiner besten Seite und wirft die Frage auf, warum dieses Werk nicht viel häufiger aufgeführt wird. Gerts arbeitet die Charakteristika der einzelnen Variationen plastisch heraus und zeigt, dass er Regers strukturelles Denken ebenso ernst nimmt wie den publikumswirksamen Klangrausch. Und nun klappt es auch mit der Fuge. Begeisterter Applaus.

Frank Sindermann

29. September 2022
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Mihhail Gerts, Dirigent
Valentino Worlitzsch, Violoncello 

Sinn und Leben

François-Xavier Roth entzündet im Gewandhaus ein wahres Feuerwerk der Klangeffekte.

Hector Berlioz, 1832 (Ausschnitt aus einem Porträt von Emile Signol)

François-Xavier Roth ist für seine intelligent konzipierten Konzertprogramme bekannt und das heutige Konzert im Großen Saal des Gewandhauses bildet da keine Ausnahme: Trennen Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ und Bernd Richard Deutschs Konzert für Saxophonquartett und Orchester auch fast 200 Jahre, so sind es doch beides Werke von ausgesprochenen Klangforschern, die das Farbspektrum des Orchesters auf ihre je eigene Weise zu erweitern suchen.

Der österreichische Komponist Bernd Richard Deutsch ließ sich zu seinem heute Abend uraufgeführten Konzert durch das Spiel des Raschèr Saxophone Quartets inspirieren, das bereits viele Werke aus der Taufe gehoben hat. Die vielfältigen  Möglichkeiten dieser Quartettformation, deren Instrumente einzeln völlig unterschiedlich klingen, aber dennoch zur vollkommenen klanglichen Einheit verschmelzen können, kombiniert Deutsch mit einem großen Orchester, dessen ohnehin unerschöpfliche Farbpalette er noch spieltechnisch differenziert.

Was man am Ende in diesem traditionell dreisätzigen Werk zu hören bekommt, ist per se nicht neu oder besonders avanciert; der Reiz liegt vor allem in der originellen Kombination der einzelnen Elemente, die für eine kurzweilige knappe halbe Stunde sorgt. Daneben überzeugt vor allem das raffinierte Spiel mit Rhythmus und Metrum, beispielsweise im ersten Satz oder dem „Agitato“-Teil des zweiten. Immer wieder klingen dabei andere Komponisten stilistisch an, lassen garstige Sarkasmen an Schostakowitsch denken, brutale Ostinati an Strawinsky oder komplexe Überlagerungen an Charles Ives. Wenn der Komponist im Fragebogen angibt, er wolle mit seiner Musik „eine bestimmte Zeitspanne mit Sinn und Leben füllen“, so ist ihm dies sicherlich gelungen, wie auch der große Applaus zeigt, den er nach der Aufführung entgegennehmen darf; ob ihm mit diesem postmodernen Klangzauber auch etwas Bleibendes gelungen ist, bleibt indes abzuwarten.

Ein wirkliches Ereignis ist es auf jeden Fall, dem Raschèr Saxophone Quartet zuzuhören. Während Deutsch in seinem Konzert die vier Saxophone oft solistisch hervortreten lässt, bietet die Zugabe, der „Contrapunctus IV“ aus Bachs „Kunst der Fuge“ Gelegenheit, die vollendete Klangkultur des Quartetts in Reinform zu genießen.

Von den Saxophonen ist es kein weiter Weg zu Berlioz, wurde doch deren Erfinder, Adolphe Sax, von Berlioz sehr geschätzt und wohnte auch in dessen Nähe, wie der Dirigent am Ende des Konzerts charmant erläutert. Die Experimentierfreude, mit der Berlioz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die damaligen Grenzen des Orchesterklangs erweiterte, wird exemplarisch in seiner „Symphonie fantastique“ hörbar, die nicht nur mindestens vier Harfen erfordert, sondern auch Glocken und exotische Instrumente wie Piston-Kornetts und Ophikleiden.

Nachdem François-Xavier Roth mit seinem Ensemble Les Siècles erst 2019 eine großartige Einspielung der Sinfonie auf Originalinstrumenten der damaligen Zeit vorgelegt hat, muss er heute mit dem modernen Instrumentarium des Gewandhausorchesters vorliebnehmen und auch auf die Ophikleiden verzichten. Dass das Ergebnis unter dem Strich nicht minder überzeugend ausfällt, liegt neben dem an allen Pulten hervorragend spielenden Orchester vor allem an der nervösen Spannung, die Roth während des gesamten Liebesdramas in fünf Sätzen niemals ganz auflöst. Selbst die Ballszene des zweiten Satzes lässt bei allem Glanz eher an hektischen Trubel als unbeschwertes Tanzen denken. Einzig im dritten Satz breitet sich eine tiefe Ruhe aus, bleibt die Zeit beinahe stehen. Vor allem freut mich, dass Roth die beiden letzten Sätze tatsächlich so bedrohlich und infernalisch anlegt, wie Berlioz sie meines Erachtens auch empfunden und gemeint hat. Von Herbert Blomstedt wurde der Hexensabbat 2018 eher zum launigen Karnevalsschwank umgedeutet (Link zur Rezension); davon kann bei Roth keine Rede sein: Mit vollem Körpereinsatz lässt er den Fiebervisionen ihren Lauf und  stampft im Eifer des Gefechts auch einmal mit dem Fuß auf. Großer Jubel, teils stehend vorgebracht, belohnt eine in jeder Hinsicht herausragende und erinnerungswürdige Darbietung.

Frank Sindermann

28. Oktober 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
François-Xavier Roth, Dirigent
Raschèr Saxophone Quartet

Anspruchsvolles Debüt

Die US-amerikanische Dirigentin Karina Canellakis dirigiert im Gewandhaus Werke von Matthus und Beethoven.

Karina Canellakis | Foto: Mathias Bothor

Man hätte Karina Canellakis für ihr Debüt mit dem Gewandhausorchester sicherlich mehr Publikum gewünscht – eine wirkliche Überraschung ist der ziemlich leere Saal allerdings nicht. Zum einen sind die Anrechte für diese Spielzeit erneut ausgesetzt worden, wodurch viele Stammplätze unbelegt bleiben, zum anderen steht mit Siegfried Matthus‘ „Holofernes“ ein Werk auf dem Programm, das nicht unbedingt zum spontanen Kartenkauf animiert: Was den einen als verstaubte, politisch erwünschte Gebrauchsmusik gilt, ist für die anderen immer noch zu modern.  

Aus heutiger Sicht fällt es sicherlich leicht, Kompositionen wie den „Holofernes“ als Auftragskunst zu belächeln, die heute aus der Zeit gefallen wirkt und nur noch dann entstaubt wird, wenn es einen entsprechenden äußeren Anlass gibt – in diesem Fall die Feier des Jubiläums „40 Jahre Neues Gewandhaus“. Doch mit dieser herablassenden Haltung wird man weder dem Komponisten noch dem Werk gerecht. Wenn man sich unvoreingenommen auf Musik und Text einlässt, erhält man Denkanstöße, die heute nicht weniger aktuell sind als 1981. Beispielsweise hat der Gedanke, dass das Wissen um die eigene Endlichkeit dem Leben erst Sinn verleiht, in Zeiten der Erforschung ewigen Lebens nichts von seiner Aktualität verloren. Leider erschließen sich derartige Ideen vor allem denjenigen, die eifrig im Programmheft mitlesen; denn die expressive, teils an Berg, teils an Strawinsky erinnernde Musik des Orchesters deckt allzu oft die Gesangspartie zu. Dies ist nicht der bestens vorbereiteten Dirigentin Karina Canellakis, schon gar nicht dem stimmgewaltigen, ausdrucksstarken  Bariton Christoph Pohl anzulasten, sondern vor allem dem Komponisten, dessen Orchestersatz deutlich filigraner sein müsste, um der Singstimme den nötigen Raum zu geben. Wie Christoph Pohl den Größenwahn, aber auch die Verzweiflung des Holofernes darstellt, ist musikdramatische Gestaltungskunst auf höchstem Niveau – soweit man es denn hören kann …

Im zweiten Teil des Konzerts steht mit Beethovens „Eroica“ ein Werk auf dem Programm, zu dem eigentlich alles mehrfach gesagt scheint, das jedenfalls einer Dirigentin kaum die Chance gibt, sich bei ihrem Debüt zu profilieren. Zum Glück versucht Canellakis dies gar nicht erst. Ihr Beethoven ist eher klassisch als romantisch angelegt, nicht besonders revolutionär, dafür fein ausgehört und bis ins Detail stimmig. Dem Kopfsatz nimmt sie etwas von seiner Schärfe, den Trauermarsch hält sie stets im Fluss und das Scherzo hat man schon zupackender, aber kaum quirliger gehört. Wie Canellakis im Finale schließlich das Hauptthema organisch entstehen lässt und den prometheischen Taumel in die endlose Schlusskadenz steuert, ist gekonnt und lässt auf ein weiteres Konzert mit der agilen, völlig uneitlen Dirigentin hoffen. Dieser Beethoven ist nicht extrem im Ausdruck oder den Tempi, nicht prinzipiell neu in der Deutung, aber trotzdem – oder deswegen – einfach großartig.

Frank Sindermann

7. Oktober 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Karina Canellakis, Dirigentin
Christoph Pohl, Bariton

 

Raum und Zeit

Das Gewandhaus-Quartett und Bernd Glemser spielen Klavierquintette von Kochan und Brahms.

Wassily Kandinsky: Komposition VIII (1923)

Dass Musik als Kunstform nicht nur eine zeitliche, sondern ebenso eine räumliche Dimension besitzt, ist mir beim Hören von Günter Kochans Klavierquintett in der heutigen Kammermusik-Stunde des Gewandhaus-Quartetts einmal mehr bewusst geworden. Melodische Verläufe und ganz generell durch Metrum und Rhythmus definierte Prozesse spielen in Kochans spätem Gattungsbeitrag nur eine untergeordnete Rolle, das vor allem von ständigen Kontrasten zwischen Enge und Weite, zwischen klanglicher Zusammenballung und Entfaltung geprägt ist. 

Das Gewandhaus-Quartett hat das Klavierquintett vor etwa 20 Jahren selbst uraufgeführt und nutzt nun die Gelegenheit, es im Rahmen des „Fokus: 40 Jahre Neues Gewandhaus“ noch einmal ins Programm zu nehmen. Da es zu dem Werk kaum greifbare Informationen gibt – auch das Programmheft liefert nur biografische Notizen zum Komponisten – und auch die Noten nicht leicht greifbar sind, fühlt sich die heutige Aufführung zumindest für mich wie eine spannende Black Box an. Überraschend war sicherlich für einen Großteil des zahlreich anwesenden Publikums allein schon die Kürze der Komposition, deren vier Sätze zusammen keine Viertelstunde dauern. Allzu sehr bedauere ich dies allerdings offen gesagt nicht, denn ungeachtet mancher interessanter Klangeffekte und emotionaler Zuspitzungen finde ich keinen rechten Bezug zu dem Werk; vor allem irritiert mich, wie wenig Streichquartett und Klavier miteinander interagieren, wie viel Potenzial der Besetzung also ungenutzt bleibt.

Johannes Brahms spielt in fast jedem seiner Werke mit der zeitlichen Dimension der Musik. Was schon bei vermeintlich einfachen Kompositionen wie dem Wiegenlied „Guten Abend , gut‘ Nacht“ zu rhythmischen Verschiebungen zwischen Gesang und Klavierbegleitung führt, sorgt beim Hören der Sinfonien oder der Kammermusik bisweilen fast für eine Art metrischer Orientierungslosigkeit. Das Gewandhaus-Quartett und Pianist Bernd Glemser harmonieren bestens miteinander und meistern daher die zahlreichen derartigen Hürden – von einigen Unstimmigkeiten über das Tempo ganz zu Beginn abgesehen – mit bewundernswerter Souveränität. Sie spielen einen klanglich polierten, emotional bewegenden Brahms von geradezu klassischer Ausgewogenheit. Im ersten Satz fehlt es mir etwas an Leidenschaft, das Spiel wirkt streckenweise etwas zu routiniert (man vergleiche die zupackende Einspielung des Quatuor Ébène mit Akiko Yamamoto!), aber dies ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Die süße Melancholie des zweiten Satzes wird ebenso überzeugend dargestellt wie das unheimlich glühende Feuer des dritten – und spätestens im Finale geben die Musiker:innen dann auch ihre vornehme Zurückhaltung auf und bringen das Konzert zu einem effektvollen Abschluss.

Frank Sindermann

3. Oktober 2021
Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Gewandhaus-Quartett
Bernd Glemser, Klavier

Anspruchsvoller Auftakt

Das Gewandhausorchester eröffnet seine 241. Saison mit Werken von Gubaidulina und Rachmaninoff.

Sofia Gubaidulina, 1981 (Detail) | © Dmitri N. Smirnov (Lizenz: CC BY 2.5)

Mit fast 90 Jahren ist Sofia Gubaidulina noch immer eine Visionärin, die mit musikalischen Mitteln den letzten Dingen nachspürt. In ihrem Tripelkonzert für Violine, Violoncello, Bajan und Orchester, uraufgeführt 2017 in Boston, nimmt sie die Dreierbesetzung zum Anlass, „Drei-heiten“ auf unterschiedlichsten musikalischen Ebenen zu untersuchen; vom fundamentalen harmonischen Prinzip des Dreiklangs bis zur dreiteiligen Form des Konzerts reichen die Bezüge zur Zahl drei, welche am Ende auf die göttliche Trinität verweisen. Somit ist dieses Werk wie viele andere der Komponistin Ausdruck tiefer Religiosität, wenn auch weniger offensichtlich als das „Offertorium“ oder die „Sieben Worte“.

Entgegen der gewählten Gattungsbezeichnung nimmt Gubaidulina das konzertante Element im Tripelkonzert sehr zurück. Kaum einmal spielen die Solist:innen zusammen, über weite Strecken agieren sie eher nach- als miteinander. Gleichzeitig bietet das Werk nur wenig Raum für virtuose Selbstdarstellung. Dass die Solopartien dennoch alles andere als nebensächlich wirken, liegt vor allem an den hervorragenden Solist:innen. Anders als Martynas Levickis, der heute aus unerfindlichen Gründen Akkordeon statt Bajan spielt, waren Baiba Skride (Violine) und Harriet Krijgh (Violoncello) bereits an der Uraufführung beteiligt, und man merkt ihnen an, dass ihnen das Konzert ebenso viel bedeutet wie dem Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, der es mit ihnen gemeinsam aus der Taufe gehoben hat.

Als Eröffnungsstück stellt das Werk nicht nur für die Musiker:innen eine Herausforderung dar: Der tiefe Ernst der Komposition, die Strenge, mit der die eher abstrakten Prämissen durchexerziert werden, und das Fehlen leicht fasslicher melodischer Gestalten erfordern vom Publikum große Konzentration. Dieses bedankt sich am Ende mit freundlichem Applaus, der zwar keine Begeisterung ausdrückt, wohl aber Respekt vor einer Komponistin, die auch im hohen Alter unbeirrt sagt, was sie sagen muss. Ihr zuzuhören, lohnt jede Mühe.

Rachmaninoffs 2. Sinfonie schließt sich nach der Pause überraschend gut an, obwohl sie mehr als ein Jahrhundert vor Gubaidulinas Tripelkonzert entstanden ist. Wie nur wenige weitere Werke des Komponisten belegt diese Sinfonie den hohen satztechnischen Anspruch einer Musik, die allzu oft auf schöne, um nicht zu sagen: kitschige Melodien reduziert wurde und immer noch wird. Leider wird Andris Nelsons der hohen Komplexität der Sinfonie heute nicht vollauf gerecht. Während der Kopfsatz unter rhythmischen Unstimmigkeiten und einer suboptimalen Klangbalance leidet, gewinnt die Aufführung dann zwar von Satz zu Satz deutlich an Qualität; insgesamt vermisse ich aber immer wieder den langen Atem, der die wunderbaren Einzelbeiträge des Orchesters zum großen Ganzen verwöbe. Nichts wirkt hier logisch zwingend, die Steigerungswellen entfalten kaum Sogwirkung, das Timing ist oft nicht auf den Punkt. Mitunter gerät der musikalische Zusammenhalt sogar fast ins Wanken, wie etwa kurz nach der langen Generalpause im Adagio. Dass die Aufführung trotzdem hörenswert ist, liegt vor allem an der großen Spielfreude aller Beteiligten, an den hervorragenden Soli – nicht nur der Klarinette! – und natürlich dem unnachahmlichen Klang des Gewandhausorchesters, der zu Rachmaninoff perfekt passt und anscheinend kaum unter der Corona-Zwangspause gelitten hat. Nelsons weiß dies und kostet es in vollen Zügen aus; dass diese Musik aber weit mehr ist als eine Aneinanderreihung schwelgerischer Klänge, wird heute leider nur selten hörbar.

Der begeisterte Applaus am Ende des Konzerts ist sicherlich nicht nur dem effektvollen Schluss der Sinfonie geschuldet, sondern auch Ausdruck der Freude darüber, dass Veranstaltungen wie diese nun endlich wieder möglich sind. Hoffen wir, dass dies möglichst lange so bleibt.

Frank Sindermann

17. September 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Baiba Skride, Violine
Harriet Krijgh, Violoncello
Martynas Levickis, Akkordeon

 

 

Leidenschaft und Pralinés

Mit einem reinen Richard-Strauss-Programm meldet sich das Gewandhausorchester aus der Corona-Zwangspause.

Pralinen | © Pixabay

Bis vor wenigen Wochen hätte wohl niemand damit gerechnet, dass das Gewandhausorchester in dieser Spielzeit noch Konzerte geben würde – und dann auch noch in derart großer Besetzung! Andris Nelsons betont in seiner kurzen Ansprache, wie sehr sich alle darauf freuen, wieder live spielen zu dürfen, und der herzliche Applaus des Publikums beweist, dass man auch hier ein „echtes“ Konzert den diversen Streaming-Formaten der letzten Monate vorzieht. 

Das Orchester zeigt sich nicht nur hoch motiviert, sondern auch technisch in allerbester Form und spielt gleich zu Beginn einen „Don Juan“, der alles hat, was man sich nur wünschen kann. Der Streicher spielen wie aus einem Guss, die Holzbläser steuern wunderschöne Soli bei und fast durchweg überzeugt das Zusammenspiel der Orchestergruppen durch Präzision und Homogenität. Nelsons betont eher den dramatischen Charakter des Werks und lässt es mitunter derart krachen, dass im Tutti die klangliche Transparenz leidet. Der durchhörbarste „Don Juan“ ist dies sicher nicht, dafür ein beseelter, spannungsreicher und im besten Sinne aufregender.

Während in der nachfolgenden „Burleske“ das Orchester weiterhin keine Wünsche offen lässt, kann mich das Spiel der divenhaften Yuja Wang nicht komplett überzeugen. Über ihre stupende Virtuosität und Kraft muss man nicht diskutieren und der Energielevel ist durchweg hoch – mir fehlt allerdings jene Portion Humor, die zu einer Burleske einfach gehört. Bei Strauss ist dieser Humor zwar manchmal etwas bissig, aber nie verbissen. Wangs Spiel ist mir etwas zu unpersönlich, zu glatt, ohne Augenzwinkern. Unter Ulk verbuchen muss ich allerdings die mühsam erklatschte Zugabe der Pianistin, spielt sie Mendelssohns „Lied ohne Worte“ fis-Moll op. 67/2 doch derart schludrig und unpräzise in der Artikulation, dass auch mir die Worte fehlen – darum: schnell in die Pause!

Ann-Katrin Zimmermann ist geübt darin, jedes gespielte Werk in ihren unterhaltsamen Programmhefttexten gleichsam „schönzuschreiben“. Sogar ein saft- und kraftloses Werk wie Strauss’ „Schlagobers“-Suite wirkt nach der Lektüre ihrer Worte gar nicht mehr ganz so langweilig und aufgeblasen, wie es in Wahrheit ist. Um ehrlich zu sein, finde ich den Einführungstext sogar deutlich unterhaltsamer als die Musik selbst, was für ersteren und gegen letztere spricht. Frau Zimmermann wirft jedenfalls mit Konditoren-Metaphern um sich, dass es eine Freude ist, und behauptet zum Schluss: „Also ich find’s fantastisch.“ Ich hingegen kann diesem aufgewärmten Quatsch-Ballett leider wenig abgewinnen. Gegen feine Pralinen, wie Tschaikowski sie im „Nussknacker“ serviert, habe ich ja überhaupt nichts, aber bei Strauss gibt es eher ein „All you can eat“ Windbeutel-Buffet. Sicher, die Musik ist elegant gesetzt, hier und da schimmert der „Rosenkavalier“ durch und ein brillanter Instrumentator ist Strauss auch hier – leider ist das Werk aber inhaltlich ziemlich leer, ein orchestral aufpoliertes Nichts. Dies ist vor allem deshalb schade, weil das Gewandhausorchester das überzuckerte Gebäck keineswegs anbrennen lässt. Das schöne Flötensolo im „Tanz des (Baldrian-)Tees“, die von Konzertmeister Andreas Buschatz sehr gefühlvoll gespielte Kadenz im „Tanz des (kalten) Kaffees“ und die hervorragenden Beiträge von Schlagzeug, Celesta und Harfen holen alles aus dieser sinfonischen Kalorienbombe heraus, was es nur zu holen gibt. Dass dies alles in allem nicht sehr viel ist, kann man natürlich nicht dem Orchester und seinem stets aufmerksamen Dirigenten anlasten.

„Muss Musik, muss Kunst immer ein Kommentar zur Zeitgeschichte sein?“, fragt Ann-Katrin Zimmermann in einer Art Verteidigungsrede und verweist darauf, dass auch gefällige Musik von der Kunstfreiheit gedeckt sei. Dem mag ich gar nicht widersprechen. Sicherlich kann Musik vieles sein, kann Finger in Wunden legen oder eine utopische Gegenwelt beschwören, kann zum Lachen und zum Weinen bringen. Nur eines sollte sie meines Erachtens niemals sein: langweilig wie Kuchen von vorgestern. 

Frank Sindermann

24. Juni 2021
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent