Ehrendirigent Herbert Blomstedt zeigt sich im Gewandhaus erneut als überzeugter Anwalt Franz Berwalds und treibt Berlioz die Dämonen aus.
Franz Berwalds ebenso interessante wie eigenwillige Sinfonien konnten sich hierzulande bis heute nicht im Konzertbetrieb durchsetzen, und vielleicht wird es auch niemals dazu kommen. Dass sie in Deutschland überhaupt gespielt werden, ist vor allem Herbert Blomstedt zu verdanken, der sie immer wieder mit unterschiedlichen Orchestern in aller Welt aufführt. Berwalds Dritte, die sogenannte „Sinfonie singulière“, zeichnet sich vor den übrigen Sinfonien durch besonders große Originalität und Zugänglichkeit aus, was sie zum Appetitanreger auf Berwalds sonstiges Schaffen geradezu prädestiniert.
Bereits der geheimnisvolle Beginn des ersten Satzes unterscheidet sich deutlich von allem, was Mitte des 19. Jahrhunderts sonst komponiert wurde. Blomstedt dirigiert schon die ersten aufsteigenden leeren Quarten unruhig und vorwärts drängend, mit einer inneren Anspannung, die dem ganzen Satz eine nervöse Grundstimmung verleiht. Das passt wunderbar zu dieser skurrilen Musik, die eher von kleinen Motivpartikeln als großen Linien lebt, eher von schroffen Einwürfen als kontinuierlichem Verlauf. Leider trägt das Gewandhausorchester durch gelegentliche metrische Unsicherheiten eher unfreiwillig noch weiter zum ohnehin schon hektischen Gesamteindruck bei. Diese Sinfonie gehört eben nicht zum Standardrepertoire – was zu beweisen war.
Im Mittelsatz zeigt sich das Orchester dann von seiner besten Seite. Der gesangliche Beginn der Streicher überzeugt durch Homogenität und Wärme, die schmerzlich absteigende Sequenz der Holzbläser über grummelndem Tremolo erzeugt eine geradezu unheimliche Atmosphäre. Zu den formalen Experimenten der Sinfonie zählt Berwalds Idee, das Scherzo in den langsamen Satz zu integrieren. Dieses beginnt nach einen überraschenden Paukenschlag und soll laut Berwalds Anweisung „ungewöhnlich schnell und leicht“ gespielt werden. In Anlehnung daran hätte ich mir für diesen Teil noch etwas mehr Witz und Akzentuierung gewünscht, denn was Blomstedt und seine Musiker_innen dem Satz an Leichtigkeit und Tempo geben, lässt er an Kontur und Farbe etwas vermissen.
Der zackige, etwas martialische Schlusssatz gelingt wiederum sehr überzeugend. Seine vielen überraschenden Wendungen, so zum Beispiel eine Rückkehr des Adagios kurz vor Schluss, werden stimmig umgesetzt und der von Berwald mitten in der wilden Fahrt mit voller Absicht ungebremst gegen die Wand gefahrene Schluss beeindruckt durch seine Präzision und Unerbittlichkeit. Alles in allem eine sehr gelungene Aufführung.
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„Das war ja wildromantisch, kann man sagen!“ Diese Worte einer begeisterten Konzertbesucherin charakterisieren Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ durchaus treffend – wobei sie mir heute Abend deutlich zu romantisch und zu wenig wild dargeboten wird.
Gewiss, die ersten drei Sätze sind wunderbar musiziert: Der gut ausbalancierte Ensembleklang des bewegten ersten Satzes, die elegant glänzende Tanzseligkeit des zweiten, das betörende Duett von Oboe und Englischhorn im pastoralen dritten – all dies lässt keine Wünsche offen. Doch was ist mit den Alptraumszenen des vierten und fünften Satzes? Warum dirigiert Herbert Blomstedt diese komponierten Horrorvisionen derart heiter-beschwingt, als sei alles nur ein harmloser Faschingsschwank?
Ein vergleichender Blick ins Konzertarchiv der Berliner Philharmoniker, das mehrere Aufnahmen der Sinfonie enthält, darunter eine mit Blomstedt, enthüllt gravierende Unterschiede in der Interpretation dieser Sätze, die sich allein schon in der Mimik der Dirigenten zeigen. Blomstedt wippt und schwingt und lächelt dabei freudig, als dirigere er Mozarts „Kleine Nachtmusik“. Wie Blomstedt während des heutigen Konzerts schaut, kann ich nicht sehen, aber die Musik klingt exakt so.
Es handelt sich aber nun einmal um die grauenvolle Wahnvorstellung eines Hexensabbats und nicht um ein Lagerfeuer mit Bibi Blocksberg. Dem tiefreligiösen Blomstedt muss die Thematik zwangsläufig fremd sein und es wirkt, als ignoriere er bewusst die verstörende Dimension der Musik und betrachte sie lieber als launige Komödie mit viel Theaterdonner. Damit wird er meiner Überzeugung nach der Sinfonie aber nicht gerecht, zumindest nicht den letzten beiden Sätzen. Wenn Werner Kopfmüller in seiner Rezension (LVZ vom 15./16.9., S. 14) auf der einen Seite konstatiert, dass die in der Musik dargestellten Schreckensgestalten „einem Bild von Hieronymus Bosch entstiegen sein könnten“, auf der anderen Seite aber berichtet, dass Blomstedt beim Dirigieren der Sabbatnacht „der Schalk aus den Augen blitzt“, jene mithin so „hinreißend witzig musiziert“ sei, dass sich sogar „der ein oder andere im Orchester das Schmunzeln nicht verkneifen kann“, dann offenbart er hier den ganzen Widerspruch dieser Interpretation. Hieronymus Bosch’ Darstellungen des jüngsten Gerichts bringen mich nämlich nur höchst selten zum Schmunzeln – eigentlich überhaupt nicht.
Aber warum dann überhaupt diese Sinfonie dirigieren, wenn einem das Dämonische an ihr ethisch widerstrebt? Welche ästhetische Haltung steckt dahinter? Einen möglichen Erklärungsansatz bietet Karl Rosenkranz’ „Ästhetik des Häßlichen“ von 1853, für den das Hässliche durch Überzeichnung im Humor letztlich aufgehoben wird:
„Aber die Karikatur löst die Widrigkeit ins Lächerliche auf, indem sie alle Formen des Häßlichen, aber auch des Schönen in sich aufzunehmen vermag. Daß sie in ihrer Verzerrung schön werde, unsterblicher Heiterkeit voll, ist jedoch nur möglich durch den Humor, der sie ins Phantastische übertreibt.“
Wie in einer „Sinfonie fantastique“, zum Beispiel?
Frank Sindermann
13. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester Leipzig
Herbert Blomstedt, Dirigent