Trennt euch nicht!

Mit Viktor Ullmanns selten gespielter Oper „Der Sturz des Antichrist“ eröffnet die Oper Leipzig ihre neue Spielzeit.

Der Sturz des Antichrist (Szenenfoto Oper Leipzig) | © Kirsten Nijhof

Theaterbesuche sind mehr als ein bloßer Zeitvertreib, lernen wir doch anhand des Bühnengeschehens so manches über uns selbst. So ist es vor allem die Motivation der handelnden Personen, die uns zur Identifikation oder zum Widerspruch anregt. Im Fall der Oper kommt zur literarischen Bedeutungsebene noch die musikalische Gestaltung, die den Text verstärken oder konterkarieren kann, die jedenfalls eine eigene emotionale Komponente beisteuert. Entscheidend für die Wirkung ist die Glaubhaftigkeit der Figuren. Die rasende Eifersucht Otellos, die finsteren Intrigen Jagos oder die engelsgleiche Unschuld Desdemonas wirken auf uns deshalb so stark, weil es sich um lebendig gestaltete Charaktere handelt, deren Handlungen psychologisch Sinn ergeben. 

In Albert Steffens Drama „Der Sturz des Antichrist“, das Viktor Ullmann für seine gleichnamige Oper wortgetreu vertonte, fehlen diese Menschen aus Fleisch und Blut, an deren Schicksalen wir Anteil nehmen könnten; stattdessen begegnen uns auf der Bühne personifizierte Prinzipien, die mehr diskutieren als handeln. Ein anthroposophisches Manifest als Textvorlage für eine Oper zu verwenden, ergibt ebenso wenig Sinn wie die Vertonung eines Parteiprogramms oder einer philosophischen Streitschrift. Dies sind schlichtweg nicht die Stoffe, aus denen überzeugendes Musiktheater entstehen kann. Dass die heutige Premiere an der Oper Leipzig trotzdem nicht zum Fiasko geraten ist, sondern sich ganz im Gegenteil sogar sehr gelohnt hat, liegt vor allem an drei Faktoren:

Zum ersten steuert Viktor Ullmanns Musik jene Emotionalität bei, die dem abstrakten Libretto fehlt. Zwischen spätromantisch schwelgenden Passagen in stark erweiterter Tonalität und expressiver Atonalität zeigt der Schönberg-Schüler ein breites Spektrum stilistischer Möglichkeiten, dem es zwar an Kohärenz mangelt, das aber sehr feinsinnig auf Situationen reagiert und wie eine zweite Beleuchtungsebene Schlaglichter setzt.

Zum zweiten haben Regisseur Balázs Kovalik und sein Team alles daran gesetzt, der statischen Vorlage möglichst viel Leben einzuhauchen. Das führt zwar dazu, dass die Bühnentechnik ein wenig zu oft bemüht und ein bisschen zu viel herumgelaufen wird, sorgt aber vor allem dafür, dass Dynamik ins Geschehen kommt, dass die Oper stets im Fluss bleibt und nicht an ihren bedeutungsschwangeren Monologen und Dialogen erstickt. 

Der dritte Grund für den Erfolg des Abends sind die Beteiligten auf der Bühne, die erkennbar alles dafür geben, dass die Aufführung ein Erfolg wird. Dies gilt vor allem für den großartigen Thomas Mohr, der wegen eines Unfalls im Rollstuhl sitzt und die sehr anspruchsvolle Partie des Regenten vom Bühnenrand aus dennoch mit unglaublicher Durchsetzungskraft singt. Seine Bühnenpräsenz ist so groß, dass man Regisseur Kovalik, der als stummes Double auf der schwebenden und schwankenden Plattform herumturnt, kaum wahrnimmt, sondern immer wieder zu Mohr schaut, der heute unfreiwillig das Klischee des an den Rollstuhl gefesselten Superschurken verkörpert. Stephan Rügamer spielt und singt die Wandlung des Künstlers von der zweifelnden, gequälten Seele hin zum selbstbewussten Wesen („Ich bin!“) sehr überzeugend, Dan Karlström und Kay Stiefermann liefern sich als Priester und Techniker ein packendes Gedanken-Duell um die Vorherrschaft von Geist oder Materie, und Sebastian Pilgrim verleiht dem Gefängniswärter eine geheimnisvolle Aura und menschliche Wärme. Stimmlich werden alle genannten Sänger ihren durchweg schwierigen Partien vollauf gerecht und auch der Chor füllt seine eher kleine Rolle überzeugend aus. 

Viele entscheidende Momente der Oper spielen sich im Orchestergraben ab – und das Hinhören lohnt sich am heutigen Abend allemal: Das Gewandhausorchester lässt sein gesamtes Spektrum  an Klangfarben aufleuchten und spielt die ungewohnte und komplexe Partitur fast wie selbstverständlich. Dies ist nicht zuletzt der souveränen Leitung Matthias Foremnys zu danken, der Ullmanns Musik ein denkbar guter Anwalt ist.

Das Publikum bedankt sich am Ende mit ungeteiltem Jubel für einen szenisch, schauspielerisch und musikalisch sehr gelungenen Opernabend. Und doch bleibt abschließend die Frage: Haben wir es bei dieser Oper mit einer verschwurbelten Philosophie-Abhandlung zu tun, die nur deshalb auf dem Spielplan steht, weil man es dem in Auschwitz ermordeten Komponisten moralisch schuldig ist? Ich denke nicht. Zum einen ist Ullmanns Musik ungeachtet des problematischen Sujets hörenswert, zum anderen enthält auch der Text bei allem Wortgeklingel durchaus Ideen, über die man nachdenken kann und sollte. Vor allem der Kampf zwischen Glaubensüberzeugungen und Wissenschaft bzw. Technik führt bis heute immer wieder zu Konflikten, wie nicht zuletzt die Corona-Pandemie eindrücklich aufzeigt. Zeitlos ist daher auch der Appell des Künstlers an die beiden widerstrebenden Prinzipien, der am Ende eingeblendet wird: „Der Menschheit wegen, Brüder, trennt euch nicht!“ Dass die Kunst als Brückenbauerin dazu einen wesentlichen Beitrag leisten könnte, gehört zu den wichtigen Erkenntnissen dieses Abends.

Frank Sindermann

25. Sptember 2021
Oper Leipzig

Viktor Ullmann: „Der Sturz des Antichrist“
Weitere Aufführungen: 1./10./17.10.2021

 

Rosenkavalier 2.0?

Wiederaufnahme: Richard Strauss’ „Arabella“ überzeugt an der Oper Leipzig durch kluge Regie und hohe musikalische Qualität.

Finale der Oper (Besetzung von 2016) | © Kirsten Nijhof

Die Gemeinsamkeiten in Handlung und Stilistik sind nicht zu übersehen; in Richard Strauss’ lyrischer Komödie „Arabella“ deshalb einen lauwarmen „Rosenkavalier“-Aufguss zu sehen, wird dem ganz eigenen Reiz dieser charmanten Oper aber nicht gerecht. Mag die Dramaturgie nicht ganz ausgereift sein, mag die Musik vielleicht nicht ganz so leicht ins Ohr gehen – ein Besuch der „Arabella“ lohnt in jedem Fall.

Dies gilt erst recht am heutigen Abend, der durch eine durchweg hohe musikalische Qualität überzeugt. Strauss-Experte Ulf Schirmer spornt das farbenreich spielende Gewandhausorchester zu wahren Höhenflügen an und hervorragende Solistinnen und Solisten, allen voran Astrid Kessler in der Titelpartie, lassen diese Aufführung zum Erlebnis werden. Kesslers ausgewogener, edel glänzender Sopran passt ideal zur sensiblen Arabella, deren menschliche Größe im berührenden Finale sichtbar wird. Thomas J. Mayer kann sich nicht immer optimal gegen das Orchester durchsetzen, stellt aber den eifersüchtigen Mandryka in seiner Ambivalenz schauspielerisch überzeugend und stimmlich differenziert dar. Olena Tokar singt die Hosenrolle der Zdenka mit lyrischer Schönheit, der gebürtige Wiener Wolfgang Bankl überzeugt als abgehalfterter Adliger mit Herz auf dem rechten Fleck und Patrick Vogel macht sich als verschmähter Graf Elemer mit sichtbarer Spielfreude zum Ei bzw. Hund.

Die Inszenierung ist geradlinig erzählt und unterhält mit etlichen komödiantischen Details. Gekonnt findet Jan Schmidt-Garre dabei den Mittelweg zwischen Liebeskomödie und Melodram, wobei die Protagonisten in Heike Scheeles Bühnenbild eine Welt im Zerfall bespielen, die erst am Schluss für die beiden Liebespaare wieder einrastet. Leider stört das ablenkende und geräuschvolle Herumschieben der einzelnen Raumelemente den Genuss der Schlussszene beträchtlich. Neben der für mich wohl immer unverständlich bleibenden Koloraturen-Show der Fiakermilli, die heute noch etwas sonderbarer klang als sonst, ist dies aber der einzige Einwand an einem rundum gelungenen Opernabend.

Allen üblichen Vergleichen zum Trotz: Richard Strauss’ „Arabella“ ist kein zweiter, schon gar kein schlechterer Rosenkavalier und Aufführungen wie die heutige unterstreichen eindrucksvoll die ganz eigenen Qualitäten dieser unterschätzten Oper.

Frank Sindermann

22. Februar 2020
Oper Leipzig

Richard Strauss: „Arabella“
weitere Aufführung: 10.07.2020, 19.30 Uhr

Der „Ring“ in Leipzig (2020)

Seit einigen Jahren hat die Oper Leipzig wieder ihren eigenen „Ring“. Seither wurde fast die gesamte Besetzung ausgetauscht – Grund genug für einen erneuten Besuch.

Szene aus „Die Walküre“ | Foto Tom Schulze 2013

Das Rheingold

Wenn Selfies mit der Wagner-Büste gemacht, Partituren im XL-Format herumgetragen werden und ein Besucher seine wiedergefundene Begleitung fragt: „Hattest du den Tarnhelm auf?“ – dann kann das nur eines bedeuten: In Leipzig wird einmal mehr Wagners „Ring des Nibelungen“ gegeben! Die diesjährige Januar-Aufführung findet innerhalb einer Woche am Mittwoch, Donnerstag, Samstag und Sonntag statt.

Die erste der vier Opern des „Rings“, „Das Rheingold“, erzählt die Vorgeschichte der Handlung; gleichzeitig ist sie durch ihre märchenhafte, teils komödiantische Handlung und die vergleichsweise kurze Spieldauer die zugänglichste der vier. Inzwischen ist Rosamund Gilmores Leipziger „Rheingold“-Inszenierung sieben Jahre alt – ob sie sich gut gehalten hat?

Aber ja! Gilmores werktreuer Ansatz funktioniert heute ebenso gut wie zur Premiere, reißt niemanden vor Begeisterung vom Hocker, treibt aber auch keinen vor Wut auf die Barrikaden. Gilmore betont die humoristischen Elemente der Oper und setzt Tänzer_innen als „mythische Elemente“ ein, die wahlweise schuftende Nibelungen oder eine Riesenschlange symbolisieren, an anderer Stelle schlicht die Bühne schrubben oder Möbel schleppen. Letzteres ist durch Carl Friedrich Oberles schlichtes Einheitsbühnenbild bedingt, das durch sinnfällige Lichtregie mal die Tiefe des Rheins, mal Bergeshöhen oder das unterirdische Nibelheim darstellt.

Der „Ring“ stellt alle Ausführenden bekanntlich vor enorme Herausforderungen. Dies gilt nicht nur für die teils exorbitant schweren Gesangspartien, sondern auch für das Orchester, welches in Wagners Musiktheaterkonzeption eine entscheidende Rolle spielt. Schon der geheimnisvolle Beginn des Vorspiels, das sich vom abgrundtiefen Kontrabass-Es bei gleichbleibender Harmonik permanent steigert, verlangt ein Höchstmaß an Orchesterkultur. Das Gewandhausorchester hat in den letzten Jahren viel Wagner gespielt und auch das „Rheingold“ steht heute bereits zum 20. Mal auf dem Spielplan – entsprechend souverän und überzeugend klingt das Ergebnis. Wagner-Experte Ulf Schirmer entlockt seinem Orchester betörende Klangfarben und nimmt sich Zeit, die Musik atmen zu lassen. Es ist ein Wagner ohne Effekthascherei und künstliche Theatralik, der durch viele gelungene Details für sich einnimmt. Je nach Geschmack kann man das auch langweilig oder routiniert nennen – mir gefällt’s! Als echter Flop sind jedoch die digitalisierten Hammerschläge in der Nibelheim-Verwandlungsmusik zu verbuchen, die in einem Video von Ulf Schirmer als große Errungenschaft angekündigt wurden, sich aber in der Praxis als künstlich klingende, billige Notlösung entpuppen. Niemand verlangt, dass 18 Ambosse live geschlagen werden, aber wenn schon digital, dann bitte wenigstens im Takt!

Sehr erfreulich stellt sich die Situation bei den Gesangssolistinnen und -solisten dar. Kay Stiefermann gibt einen hervorragenden Alberich, dessen Wandlung vom liebeshungrigen Tölpel zum neureichen Angeber und schließlich zum gedemütigten Verlierer brillant gespielt und weitgehend ermüdungsfrei gesungen ist. Mit berührender Intensität singt Stephan Klemm den Riesen Fasolt, dessen Schicksal dadurch umso mehr bestürzt. Thomas Mohr verkörpert einen energisch treibenden Loge und wird dabei sowohl der humoristischen als auch der unheimlichen Seite der Rolle gerecht. Iain Paterson als Wotan enttäuscht ein wenig. Dass der Göttervater oft nur apathisch herumsteht und kaum einmal starke Emotionen zeigt, passt zwar zur Rolle dieser passiven und lethargischen Gestalt, geht mir dann aber doch zu weit. Wotan ist zwar ein schwacher Charakter, aber keine langweilige Figur, als die er heute erscheint. Auch stößt Paterson in den hochdramatischen Passagen an stimmliche Grenzen und kämpft auch gegen Ende etwas mit seiner Kondition. Kathrin Göring überzeugt als Göttergattin Fricka durchweg, steigert sich allerdings in der „Walküre“ noch einmal deutlich. Karin Lovelius gestaltet Erdas düstere Mahnung an Wotan schauspielerisch als wahren Gänsehaut-Moment und überzeugt auch stimmlich vollauf.

Die übrigen Rollen sind insgesamt gut besetzt, wobei besonders Dan Karlström hervorzuheben ist, der hier als unglücklicher Zwerg Mime schon einen Vorgeschmack auf seine Glanzleistung im „Siegfried“ gibt.

Fazit des ersten Tages: Rosamund Gilmores Inszenierung funktioniert nach wie vor und zeichnet sich durch tänzerische Dynamik und bühnenwirksame Bilder (Alberichs Verwandlung in eine Schlange!) aus. Das Solist_innenensemble überzeugt zum größten Teil, das Gewandhausorchester ebenso.

Lesen Sie auf der zweiten Seite: „Die Walküre“

Zu viel Licht

Enrico Lübbe inszeniert „Tristan und Isolde“ als Verwirrspiel der Gefühle. Dabei kommt ihm ausgerechnet die Liebe abhanden.

Tristan und Isolde im Lichtrahmen | © Tom Schulze

Die Liebe ist seit Jahrhunderten der Stoff, aus dem Opern gemacht werden. Ob Liebeskomödien mit Happy End („Der Liebestrank“, „Die verkaufte Braut“) oder Liebesdramen („Carmen“, „Der fliegende Holländer“) – auch der aktuelle Leipziger Spielplan enthält keine Oper, deren Handlung nicht in irgendeiner Weise durch jenes wohl stärkste menschliche Gefühl motiviert wird. Dies gilt auch für „Tristan und Isolde“.

Und doch ist diese Oper anders. Die Unbedingtheit, mit der Wagner die Liebe als fundamentales Prinzip des Menschseins überhöht, die philosphische Tiefsinnigkeit, mit der er als Textdichter den Zusammenhang von Liebe, Nacht und Tod beleuchtet, und vor allem die schwelgerische, leidenschaftliche, alle Grenzen ihrer Zeit überschreitende Musik machen „Tristan und Isolde“ zu DER Liebesoper schlechthin.

Ein Großteil der etwa vier Stunden Spieldauer entfällt auf die Darstellung seelischer Zustände, während die überschaubare äußere Handlung eher knapp abgehandelt wird. Regisseur Enrico Lübbe und sein Team trennen diese beiden Ebenen fast überdeutlich. Durch einen weißen Lichtrahmen, der die ganze Bühne umschließt, grenzen sie die reale Welt, in der die Handlung der Oper spielt, von der inneren Welt ab. In dem Moment, als der Liebestrank zu wirken beginnt, stolpern Tristan und Isolde erstmals über die leuchtende Schwelle in jenen Innenraum der Gefühle, der nur ihnen beiden vorbehalten ist; gleichzeitig versinkt die Außenwelt im Dunkel. Dass der Lichtrahmen fast ununterbrochen leuchtet, wirkt etwas aufdringlich und strengt zudem auf Dauer ziemlich die Augen an; davon abgesehen, erweist sich das Konzept als plausibel und sinnfällig, wenn auch etwas plakativ. Ansonsten ist der erste Akt eher konventionell inszeniert und etwas hölzern gespielt. So gerät beispielsweise die Szene, in der Isolde Tristan zum vermeintlichen Selbstmord treibt, ziemlich unglaubwürdig und unterkühlt. Dass die beiden auch schon vor dem Genuss des Liebestranks ineinander verliebt sind, wissen das Libretto und die Musik – die Regie weiß es anscheinend nicht oder ignoriert es.

In der Liebesnacht des zweiten Akts, der wohl berühmtesten Liebesszene der Operngeschichte, kommen Doubles zum Einsatz, die hinter enervierend oft auf- und abfahrendem Vorhang die Gefühlsverwirrungen und Identitätsprobleme der Liebenden darstellen, während diese jenseits der Schwelle stehen und von einer Liebe singen, die ich ihnen leider nicht eine Minute lang abnehme. Dies liegt nicht nur an den Ablenkungen durch Drehbühne, Videoprojektion und Doubles im Hintergrund, sondern vor allem an der fehlenden Chemie zwischen Tristan und Isolde.

Und dies ist für mich das Hauptproblem des Abends: Zu keiner Zeit sehe ich Tristan und Isolde als Paar, nirgends erkenne ich die existenzialistische Wucht, mit der die Liebe über die beiden hereinbricht. Sehnsucht und Verlangen bleiben Behauptung, werden nicht gezeigt. Nicht einmal im letzten Akt, als die lang ersehnte Isolde endlich eintrifft, nicht einmal bei ihrem Liebestod wirken Tristan und Isolde wie ein Paar – geschweige denn wie leidenschaftlich Verliebte.

Dies mag auch mit am Bühnenbild liegen. Zwar sieht Étienne Pluss’ Schiffsfriedhof beeindruckend aus und zeigt auf nachvollziehbare Weise die Kälte der Lebenswirklichkeit (am Ende schneit es sicherheitshalber auch noch), aber leider lassen Leuchtstoffröhren und ein schwarzer Hintergrund die Welt der innigsten Liebe kein bisschen freundlicher oder lebendiger wirken. Hier ist einfach alles kalt und tot, nicht nur im wirklichen Leben, auch im vermeintlichen Seelenreich der Liebe. Diese in einem Interview von Lübbe als „Anderwelt“ bezeichnete Dimension ist am Ende also leider gar nicht wirklich anders. Eine Liebesoper ohne Liebe also? Zum Glück nicht!

Daniel Kirch hat bereits andernorts bewiesen, dass er alle Fähigkeiten für die immens anspruchsvolle Titelpartie mitbringt. Auch in Leipzig überzeugt er stimmlich von Anfang bis Ende und verleiht seiner Rolle in jeder Situation den passenden Ausdruck, sei Tristan himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt. Dass Kirch im dritten Akt auf dem Zahnfleisch geht und sich immer mühsamer gegen das Orchester behaupten kann, nimmt ihm wohl niemand übel: Bei dieser Marathon-Partie muss man es schon als Erfolg verbuchen, weitgehend unbeschadet über die Ziellinie zu laufen.

Meagan Miller feiert in dieser Produktion ihr Rollendebüt als Isolde. Sie glänzt vor allem in den lyrischen Passagen, die sie sehr differenziert und mit warmem Timbre gestaltet. Schwierigkeiten bereitet es ihr hingegen mitunter, gegen das volle Orchester anzukommen. Hier fehlt es ihr (noch) ein wenig an stimmlicher Durchsetzungskraft. Nach einem kleinen Einbruch am Ende des zweiten Akts findet sie im dritten wieder zur alten Form zurück und gestaltet vor allem den berühmten Liebestod sehr berührend. Ein wenig vermisse ich noch den ganz langen Atem, der aus den vielen kleinen und großen, immer neu ansetzenden Steigerungen dieses großen Schlussmonologs ein kohärentes Ganzes formte.

Die übrigen Rollen sind gut bis überragend besetzt: Den größten Applaus heimst am Ende zu Recht Sebastian Pilgrim ein, der König Marke mit geradezu erschütternder Wahrhaftigkeit und Stimmgewalt porträtiert. Barbara Kozelj singt eine herausragende Brangäne, deren warnendes „Habet acht!“ im zweiten Akt mich emotional mehr berührt als die ganze Liebesszene drumherum. Jukka Rasilainen ist sehr kurzfristig als Kurwenal eingesprungen und überzeugt dennoch darstellerisch mit am meisten. Matthias Stier als heimtückischer Melot, Martin Petzold als Hirt sowie Franz Xaver Schlecht und Alvaro Zambrano als Steuermann bzw. Seemann lassen ebenfalls kaum Wünsche offen. Die Herren des Opernchors singen heute weit besser, als sie spielen, sind aber leider nicht immer gut zu hören.

Hauptverdienst daran, dass die Liebe auch in dieser eher steril und kalt wirkenden Inszenierung zu ihrem Recht kommt, haben Dirigent Ulf Schirmer und das Gewandhausorchester. Die Musik schmachtet und schwelgt, klagt und jubelt mit einer Intensität, dass einem beim Zuhören heiß und kalt wird. Schon die ersten Takte des Vorspiels, die Schirmer gleichsam aus dem Nichts entstehen lässt, treiben mir die Tränen in die Augen und weisen den Weg für den weiteren Verlauf des Abends, der musikalisch einlöst, was er szenisch schuldig bleibt. Man merkt, dass Schirmer diese Musik in- und auswendig kennt und wirklich liebt. Auf dieser Grundlage treibt er das Orchester zu Höchstleistungen an, die ungeachtet kleinerer Schönheitsfehler Weltklasseniveau haben.

Am Ende dankt das Publikum diesen Kraftakt mit Standing Ovations, wobei der Applaus für Sebastian Pilgrim und Ulf Schirmer am lautesten ausfällt. Einen Extra-Applaus bekommt Gundel Jannemann-Fischer, die ihr betörendes Englischhorn-Solo im dritten Akt auf offener Bühne spielt und so jene alte Weise verkörpert, die allein der sterbenskranke Tristan hört. Einer der besseren Einfälle an einem Opernabend, der vor allem musikalisch überzeugt.

Frank Sindermann

05. Oktober 2019
Oper Leipzig

„Tristan und Isolde“

High Noon im Opernhaus

In Rolando Villazóns charmanter „Liebestrank“-Inszenierung reichen sich fröhlicher Klamauk und großartige Musik die Hand.

Piotr Buszewski und Bianca Tognocchi | © Kirsten Nijhof

Zwei Duellanten stehen sich in Drohgebärde gegenüber, während der Bestatter schon einmal kichernd Maß nimmt – diese Szene würde man in einem „Lucky Luke“-Comic erwarten, in Gaetano Donizettis Oper „L’elisir d’amore“ (Der Liebestrank) eher weniger. Und doch befinden wir uns unmittelbar in der ersten Leipziger Opernpremiere der neuen Saison!

Rolando Villazón, der noch vor einigen Jahren als Sänger des Nemorino mit dieser Oper grandiose Erfolge feierte, ist inzwischen – unter anderem – als Regisseur tätig und verlegt die Handlung dieser One-Hit-Oper kurzerhand an ein Western-Filmset der 40er Jahre. Dabei lässt er es sich nicht nehmen, so ziemlich alle gängigen Klischees liebevoll vorzuführen, die das Western-Genre hergibt. Die Detailverliebtheit, mit der Villazón und sein Team (Bühne: Johannes Leiacker, Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck) zu Werke gehen, verrät seine große Begeisterung für Filme ebenso wie seine Liebe zu dieser speziellen Oper. Dabei ist auf der Bühne so viel los, dass man manchmal gar nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll, um nichts zu verpassen.

Die schlechte Nachricht: Die Übertragung der Handlung aus einem italienischen Dorf an ein Filmset ist zwar charmant, sorgt aber unbestreitbar für mehr als ein Logikloch – gerade in zweiten Akt müsste man eher von Logik-Abgründen sprechen, die sich auftun, wenn auf einmal nicht nur der naive, aber herzensgute Nemorino nicht mehr zwischen Filmwelt und Wirklichkeit unterscheiden kann, sondern alle anderen Beteiligten ebenfalls „hinter den Kulissen“ unverdrossen ihren Originaltext singen, der aber nur im Kontext des Films Sinn ergäbe.

Die gute Nachricht: Für die Wirkung dieses unterhaltsamen Spektakels ist dies völlig unerheblich! Wenn Quacksalber Dulcamara mit herrlich überzogener Mimik auf seiner Pferdeattrappe vor der beweglichen Wolkentapete dahinreitet, wir Zeugen einer zünftigen Schlägerei im Saloon werden und vier Dalton-Brüder (allerdings gleich groß!) ihren Sprengstoff zünden, treten alle Bedenken weit in den Hintergrund. Der Klamauk funktioniert so wunderbar, weil Villazón genau weiß, wann Schluss mit Lustig zu sein hat. Wenn Nemrino seine schmachtende Tränen-Arie „Una furtiva lagrima“ anstimmt, hat der Spaß kurz Pause und wir erleben berührende, stille Momente voll tiefempfundener Emotion.

Dieser „Liebestrank“ im Wilden Westen funktioniert nur deshalb so gut, weil das gesamte Ensemble dieses originelle Konzept mit sichtbarem Spaß mitträgt. Mit dem polnischen Tenor Piotr Buszewski wurde ein Nemorino verpflichtet, der alles im Überfluss zu besitzen scheint, was es für diese Rolle braucht: Er spielt den unglücklich Verliebten mit einer Hingabe, die es unmöglich macht, den verpeilten jungen Mann nicht ins Herz zu schließen. Sein im besten Sinne jugendlich wirkender Tenor ist beweglich in den Koloraturen, besitzt in der tiefe ein warmes Leuchten und in der Höhe einen wunderbaren metallischen Glanz, der ihn neben die ganz Großen seines Fachs stellt.

Bianca Tognocchi gibt eine faszinierend vielschichtige Adina, deren kokette Überheblichkeit sie genauso hingebungsvoll ausspielt wie ihre spätere Verletzlichkeit. Dabei verfügt sie über einen wunderschönen Koloratursopran, mit dem sie nicht nur mühelos höchste Höhen erklimmt, sondern auch in jeder Gefühlslage andere Schattierungen hören lässt – immer schön (Belcanto!), niemals einförmig oder gar langweilig. Eine wirklich großartige Leistung!

Sejong Chang hat in seiner Doppelrolle als Regisseur und Quacksalber die Lacher stets auf seiner Seite und entpuppt sich vor allem im zweiten Akt als begnadeter Komiker. Nach einem noch etwas durchwachsenen ersten Akt, was rhythmische Präzision und stimmliche Durchsetzungskraft angeht, überzeugt er nach der Pause auch sängerisch voll und ganz. Jonathan Michie hat ebenfalls ein wenig mit dem Timing zu kämpfen, spielt und singt den überheblichen Sergeanten Belcore aber ebenfalls sehr überzeugend. Sandra Maxheimer komplettiert mit Spielwitz und geschmeidigem Mezzo das hervorragende Solistenquintett.

Der Chor ist mit sichtbarem Spaß am Schauspielern bei der Sache und singt zumeist homogen und klanglich sehr gut ausbalanciert, gerät aber manchmal rhythmisch aus der Spur, was letztlich der Dirigentin des Abends mit anzulasten ist. Giedrė Šlekytė holt wunderbare Farben aus dem Gewandhausorchester und beweist viel Sinn fürs gelungene Detail, vermag es aber nicht immer, das Geschehen auf der Bühne und im Orchestergraben zusammenzuhalten. Vor allem im ersten Akt klappert es dann doch mehr, als sprichwörtlich zum Handwerk gehört.

Das Premierenpublikum ist nach dem ungewöhnlichen, charmanten Schluss restlos begeistert und bejubelt – teilweise im Stehen – einen „Liebestrank“, der durchaus das Zeug zum neuen Publikumsrenner hat.

Apropos Liebestrank: Jene Geschichte von Tristan und Isolde, die Nemorino erst den Floh mit dem Liebestrank ins Ohr gesetzt hat, ist Thema der nächsten Opernpremiere, wenn sich nämlich am 5. Oktober der Vorhang für Wagners „Tristan und Isolde“ hebt. Im Gegensatz zum umetikettierten Bourbon des durchtriebenen Dulcamara wirkt der Trank bei Wagner allerdings wirklich – bekanntlich mit tragischen Folgen.

Frank Sindermann

14. September 2019 (Premiere)
Oper Leipzig

 

Im Rausch der Farben

Mit einer herrlich bunten, musikalisch hervorragenden „Verkauften Braut“ stimmt die Oper Leipzig auf den Sommer ein.

Solistenensemble, Komparserie, Chor der Oper Leipzig © Kirsten Nijhof

Die Deutschen, so hört und liest man es immer wieder, sind in Sachen Humor nicht gerade Weltmeister und gehen zum Lachen in den Keller. Wenn etwas tatsächlich einmal für komisch befunden wird, hat gefälligst ein sogenannter tieferer Sinn im Spaß zu stecken bzw. ist es erforderlich, unter einer vermeintlich harmlosen Oberfläche das Abgründige zu suchen. Ansonsten kann, wie es der wunderbare Loriot formuliert hat, „die Gefahr der Unterhaltung nicht ganz ausgeschlossen“ werden. Schlimmstenfalls droht sogar, wie es Peter Korfmacher in der LVZ nennt, „rückhaltloses Amüsiertheater“, was glatt als Beleidigung durchgehen kann.

Nun ist es durchaus legitim, die überkommenen sozialen Strukturen in Smetanas Verwechslungskomödie zu hinterfragen und Hans’ wenig einfühlsames Handeln seiner Geliebten gegenüber in den Vordergrund zu rücken – dies sehe ich hingegen nicht als Verpflichtung, sondern eher als eine von vielen Optionen, sich mit der Oper auseinanderzusetzen.

Auch Regisseur Christian von Goetz verlangt in seinem Programmheft-Beitrag, dass man „die Tiefen des Stücks betonen“ müsse, liefert am Ende aber vor allem eine urkomischen Bühnenshow ab, die in erster Linie das „Entertainmentpotenzial“ einlöst, von dem er selbst spricht. Die Bühne beim Soloauftritt Maries in blaues Licht zu tauchen, reicht für sich genommen nicht aus, um ein deutliches Gegengewicht zum zirkusmäßigen Umfeld herzustellen.

Mich stört das weniger: Ich fühle mich bestens unterhalten und ertappe mich stellenweise bei minutenlangem Dauergrinsen. Dies gilt vor allem in den Szenen mit dem halbseidenen Heiratsvermittler Kezal, den der fantastische Sebastian Pilgrim mit sonorer, geschmeidiger Stimme und ansteckender Spiellaune verkörpert. Wie er als Kezal zwanghaft fröhlich mit Konfetti wirft, mit tiefsten Tönen und übertrieben ausgesungenen Verzierungen kokettiert oder den Frust des Heiratsvermittlers zeigt, wenn einmal etwas nicht nach Plan läuft, macht einfach nur Spaß.

Magdalena Hinterdobler tariert in ihrem Rollendebüt als Marie gekonnt die lyrische und die komische Seite der Rolle aus und wechselt souverän zwischen berührendem Belcanto-Wohlklang und soubrettenhafter Leichtigkeit und verleiht ihrer Figur darstellerisch jene charmante Widerborstigkeit, die lyrischen Sopranen oft vorenthalten bleibt. Eine ganz hervorragende Leistung, die in jeder Hinsicht überzeugt.

Patrick Vogel singt und spielt einen jugendlichen Hans, dem eigentlich niemand böse sein kann und dessen moralisch fragwürdiger Handel mit Kezal eher wie ein spontaner Dummejungenstreich denn ein kaltschnäuziger Plan wirkt. Vogels heller Tenor überzeugt in der Höhe mit großer Strahlkraft und verfügt in der Mittellage über Leichtigkeit und Eleganz.

Auch in den übrigen Rollen bleiben keine Wünsche offen. Hervorzuheben ist vor allem Sven Hjörleifsson, der das Muttersöhnchen Wenzel und dessen Emanzipation von der Muter mit Witz und Herz spielt und singt. Dass komponiertes Stottern auch im 21. Jahrhundert noch allgemein belacht wird, ist nicht seine Schuld, gehört für mich aber zu den wenigen Aspekten der Oper, die nicht zeitlos sind.

Sandra Maxheimer und Franz Xaver Schlecht sind als Maries verunsicherte Eltern ebenfalls sehr gut besetzt, werden allerdings mitunter von Sebastian Pilgrims besonders großer Bühnenpräsenz etwas in den Hintergrund gedrängt. Martin Petzold überzeugt als abgehalfterter Zirkusdirektor Springer ebenfalls auf ganzer Linie.

Der Chor macht seinem exzellenten Ruf erneut alle Ehre und wird den hohen musikalischen Anforderungen der Oper ebenso gerecht wie den szenischen des Regisseurs, der ihn einmal vor einem Bären fliehen, ein anderes Mal sackhüpfen lässt.

Ohnehin ist eine Menge los auf der multifunktionalen Bühne Dieter Richters, die sich immer wieder wie ein Karussell von Szene zu Szene dreht und durch eine durchsichtige Wand manchmal auch Geschnisse in Nebenräumen zeigt. Mir ist die Dynamik des Bühnengeschehens manchmal etwas zu viel des Guten, aber gerade in der Zirkusszene entfaltet das bunte Treiben samt waschechten Artisten eine ganz eigene Faszination.

Ein ganz besonderes Lob gebührt Sarah Mittenbühler und ihrem Team für die fantasievollen und enorm aufwändigen Kostüme, von denen keines dem anderen zu gleichen scheint. Zusammen mit dem grellen Make-up und den kurios windschiefen Frisuren passt auch dieser Teil der Ausstattung ganz wunderbar ins Gesamtbild.

Das Gewandhausorchester unter der inspirierten und umsichtigen Leitung Christoph Gedscholds beweist schon in der höllisch schweren Ouvertüre, in welcher Bestform es heute spielt. Da klappert nichts, die wahnwitzig schnellen Läufe schnurren ab wie ein Uhrwerk und auch im weiteren Verlauf des Abends ist es eine wahre Freude, sich hin und wieder vom Bühnenspektakel ab- und dem Orchestergraben zuzuwenden, aus dem es glänzt und blitzt, poltert und stampft, sich verdunkelt und erstrahlt. Oder wie es am Ende des ersten Aktes heißt:

Violin’ und Klarinette
Jauchzen trillernd um die Wette
Selbst dem alten Rumpelbass
Macht das tolle Wesen Spass.

Frank Sindermann

15. Juni 2019 (Premiere)
Oper Leipzig

Technik, die begeistert

Ein bisschen Spaß muss sein: Michiel Dijkema inszeniert Wagners „Fliegenden Holländer“ als unterhaltsame Technik-Show.

Foto: Tom Schulze

Gut elf Jahre liegt die letzte Leipziger Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ nun bereits zurück und wird doch für viele unvergessen bleiben: Kampfhund- und Schlachthausvideos, viel nackte Haut und Blut auf der Bühne sowie ein Hauptdarsteller, der nach der Premiere das Handtuch warf, sorgten damals für einen handfesten Opern-Skandal und brachten dem jungen Regisseur Michael von zur Mühlen das ein, was man heute einen Shitstorm nennen würde. Vor diesem Hintergrund kann man Michiel Dijkemas aktuelle Inszenierung durchaus als Entschuldigung an das Leipziger Publikum verstehen.

Dijkema verzichtet konsequent auf jegliche Aktualisierung der Handlung, was er im Programmheftbeitrag plausibel damit begründet, dass Sentas romantische Schwärmerei im 19. Jahrhundert glaubhafter sei als in unserer Zeit. Überdies bricht er das Werk ironisch, indem er beispielsweise Auszüge aus einem Romanfragment Heinrich Heines auf die Bühne projizieren lässt und so eine Art Theater im Theater aufbaut. Der vielfach im Feuilleton geäußerte Vorwurf, Dijkema präsentiere eine verstaubte Märchenbuch-Version des „Holländers“, teile ich überhaupt nicht. Eher wirkt es auf mich, als traue der Regisseur der Handlung mit ihrem veralteten Frauenbild nicht so recht und setze sie deshalb augenzwinkernd in einen Theaterrahmen von anno dazumal.

Dazu gehört auch jener technische Bühnenzauber, der heute etwas altmodisch anmutet, seine Wirkung aber nach wie vor nicht verfehlt. Und Dijkema greift in die Vollen: Da zeigen gigantische Spinnräder die Industrialisierung, imposante Wale werden mit dem Holländer an Land gespült – allerdings nicht mit Plastik, sondern Goldschätzen im Bauch -, und am Ende zerfällt der Holländer dramatisch zu Staub. Dazwischen fahren Kulissenzüge wie Takelage auf und ab, die Drehbühne dreht, hebt und senkt sich im Seegang und Leinwände zeigen beeindruckende Projektionen.

Und dann ist da natürlich noch das Schiff, jenes Geisterschiff mit blutroten Segeln, das der Förderkreis der Oper Leipzig mit sagenhaften 100.000 € finanziert hat. Wie es im dritten Akt auf die Bühne geschoben wird, bis es weit in den Zuschauerraum hineinragt, gehört zum Beeindruckendsten, was ich je auf einer Theaterbühne gesehen habe. Nicht nur ich: Kaum taucht das Schiff aus dem Bühnennebel auf, werden Handys gezückt, um den Effekt mitzufilmen, es wird geraunt, und am Ende gibt es sogar Szenenapplaus – für Bühnentechnik! Das ist sicherlich übertrieben, aber zugegebenermaßen auch ganz großes Kino.

Leider geht diese Show auf Kosten der Musik. Der an sich beeindruckende aufgestockte Herrenchor der Oper Leipzig gerät im Tumult gehörig aus dem Tritt, und es tröstet nicht wirklich, dass ohnehin fast niemand zuhört. Auch sonst ist der „Holländer“ musikalisch etwas durchwachsen. Christiane Libor gibt eine grandiose Senta, die stimmlich und darstellerisch schon in der berühmten Ballade beeindruckt, im Finale aber endgültig zur Höchstform aufläuft. Schon als Brünnhilde im Leipziger Ring hat sie gezeigt, dass ihr die leisen, zarten Töne ebenso gut gelingen wie die kraftraubenden dramatischeren Partien, und dies beweist sie heute erneut. Eine hervorragende Leistung, auch schauspielerisch, wie man sie sonst nur an den größten Opernhäusern erleben kann. Brava!

Iain Paterson bleibt der Titelpartie hingegen leider einiges schuldig. So ist er stimmlich zu Anfang nicht ganz auf der Höhe und zeigt erst im letzten Akt seine Qualitäten. Vor allem bleibt er aber darstellerisch blass und verleiht dem Holländer keine eigene Perönlichkeit. Eine deutlich größere Bühnenpräsenz hat Randall Jakobsh als Daland, der Sentas kuppelnden Vater mit warm timbriertem Bass und komödiantischem Spiel zum Sympathieträger macht und so dem Holländer fast die Show stiehlt. Ladislav Elgr überzeugt als Erik bei seinem ersten Auftritt deutlich mehr als im letzten Akt, wo er hörbar zu kämpfen hat. Karin Lovelius als Mary und Dan Karlström als Steuermann liefern rundum überzeugende Rollenporträts ab.

Das Gewandhausorchester unter Christoph Gedschold spielt einen farbigen, eleganten Wagner und passt damit tadellos zu Dijkemas wenig gruseliger Lesart des „Holländers“, der stellenweise eher wie ein komische Oper wirkt. Dennoch hätte ich mir manche Passage doch noch etwas energischer und zupackender gewünscht.

Leipzig hat also wieder einen „Fliegenden Holländer“, der vor allem durch atemberaubende Bilder besticht, das etwas abgetakelte Geisteropern-Schiff durch eine leicht ironische Sicht der Dinge wieder flott macht und vor allem mit einer grandiosen Senta aufwarten kann. Der Applaus nach der Aufführung ist jedenfalls begeistert und ich stelle fest: Entschuldigung angenommen.

Frank Sindermann

30. Mai 2019 (5. Vorstellung)
Oper Leipzig

Frei bis zum Tod

Lindy Hume deutet in ihrer Leipziger „Carmen“ die Titelheldin als selbstbewusste Frau mit unbedingtem Freiheitswillen, die am Ende einem Stalker zum Opfer fällt.

Wallis Giunta, Gezim Myshketa, Chor der Oper Leipzig © Tom Schulze

„Carmen“ ist bis heute eine der meistgespielten Opern. Dies liegt neben den vielen Ohrwürmern und dem folkloristischen Flair sicherlich auch an der faszinierenden Titelheldin. Egal, welche Facette ihrer Persönlichkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt – es bleibt doch immer ein unausdeutbarer Rest, ein unergründliches Geheimnis zurück.

Die australische Regisseurin Lindy Hume stellt Carmens unbedingten Freiheitsdrang in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung und zeigt statt einer amoralischen Verführerin eine kompromisslos unabhängige Frau, die für ihre Überzeugung sogar den eigenen Tod in Kauf nimmt. Diese Sicht ist nachvollziehbar und glaubwürdig, zumal Carmen mehr als einmal die große Bedeutung der Freiheit für ihr Leben besingt.

Das eher traditionell gehaltene Bühnenbild (Dan Potra) ist gleichzeitig funktional und stimmungsvoll, wobei die atmosphärische Dichte vor allem Matthew Marshalls ausgefeiltem Beleuchtungskonzept zu verdanken ist. Jegliche Spanien-Stereotype meidend, deutet Potra die jeweilige Szenerie nur durch bewegliche Wände, einen Sternenhimmel und weitere kleine Details an, ohne den Blick auf die zentrale menschliche Tragödie zu verstellen.

Lindy Humes Regiekonzept geht über weite Strecken auf. Sie konzentriert sich auf die Personen und ihre Gefühle, die sie in starken Bildern auf die Bühne bringt. Dabei verzichtet sie weitestgehend auf szenische Spielereien. Warum sie ausgerechnet am Ende mit Kopfschuss und Kunstblut doch noch auf billige Theatereffekte setzt, weiß sie allein. Derartige Missgriffe sind jedenfalls dazu angetan, das Gesamterlebnis ganz zum Schluss noch zu ruinieren. Das war bei der albernen Dummyfigur im Leipziger „Tosca“-Finale bereits der Fall und ist hier leider nicht anders. Ein Besucher neben mir musste jedenfalls über den reißerischen und dilettantischen Effekt lauthals lachen, was die Atmosphäre der Schlussszene endgültig ruiniert hat. Schade!

Wallis Giunta gibt eine Carmen, die deutlich weniger kokett und lasziv wirkt als gewohnt. Selbst die Habañera klingt eher wie eine charmante Rechtfertigung ihrer Lebensweise denn ein erotisches Spiel. Giuntas beeindruckende Bühnenpräsenz und ihre Fähigkeit, selbst kleinste emotionale Regungen in Körpersprache umzusetzen, verleihen der scheinbar vertrauten Figur eine Vielschichtigkeit, die ich so bislang noch nicht gesehen habe. Ihr eher heller Mezzo erlaubt es Giunta, die lyrische Seite ihrer Rolle zu betonen und nicht ins Klischee der dunkel timbrierten Zigeunerin zu verfallen. Ihr Gesang ist stets kultiviert und differenziert, vielleicht an einigen Stellen fast zu kontrolliert.

Don José ist in Lindy Humes Sichtweise kein enttäuschter Liebhaber, der am Ende zum Mörder wird, sondern ein Muttersöhnchen, das sich statt der  rechtschaffenen, aber etwas naiven Micaëla der faszinierenden Carmen an den Hals wirft, ohne zu erkennen, dass sie ihn nicht einen Moment lang wirklich liebt und sein besitzergreifendes Wesen nicht erträgt. Leonardo Caimi spielt die Rolle grundsätzlich überzeugend; leider wirken seine Schritte und Gesten mitunter etwas auswendig gelernt. Als Sänger macht er eine deutlich bessere Figur. Zwar klingt er in der Höhe – zumal in den dramatischeren Passagen – etwas eng und vibratolastig, dafür gelingen ihm die lyrischeren Szenen sehr gefühlvoll und klangschön.

Gezim Myshketa ist ein imponierender Escamillo, der seinen Evergreen „Toréador, en garde!“ mit profundem Bariton und fast düsterem Ausdruck vorträgt, Olena Tokar berührt als bemitleidenswerte Micaëla zutiefst und erhält am Ende den bei weitem begeistertsten Applaus. Die Nebenrollen sind durchweg gut bis sehr gut besetzt und tragen nicht unerheblich zum musikalisch hervorragenden Gesamteindruck der Aufführung bei. Erwähnung verdient auch der großartig singende und spielende Chor, der noch vor der Ouvertüre die Bühne betritt und unverwandt ins Publikum starrt.

Das Gewandhausorchester überzeugt im farbenreichen Tutti ebenso wie in den Soli, wie sie beispielsweise in den Eingangsmusiken des zweiten und dritten Akts zu erleben sind. Matthias Foremny ist offenbar eher an den Feinheiten der Orchestrierung als an brachialen Klangeffekten gelegen, was Lindy Humes Vermeidung von spanischen Klischees gut entspricht. Auch achtet Foremny sehr sensibel und umsichtig auf die Sänger_innen. Allein in Escamillos Torero-Arie reagiert er etwas träge auf Gezim Myshketas agogische Freiheiten.

Alles in allem kann ich die Aufführung als eine äußerlich eher traditionelle, psychologisch aber durchaus originelle Sichtweise auf die altbekannte Oper empfehlen, die nicht zuletzt durch ihre hervorragende Hauptdarstellerin fasziniert.

Frank Sindermann

30. November 2018
Oper Leipzig

Weitere Aufführungen: 15./22./27.12.2018; 2./23.2., 23.3.2019




Schneeflöckchen, tanze!

Cusch Jung inszeniert an der Oper Leipzig Puccinis „La fanciulla del West“ ohne viele Überraschungen, dafür aber mit umso mehr Kunstschnee.

„La fanciulla del West“ (Oper Leipzig; Solisten, Herren des Opernchores) © Tom Schulze

Dass Puccinis Western-Oper „La fanciulla del West“ bei weitem nicht so bekannt und beliebt ist wie die Dauerbrenner „Tosca“, „La Bohème“ oder „Madama Butterfly“, liegt sicherlich hauptsächlich in ihrem Mangel an berühmten Ohrwürmern begründet, vielleicht aber auch in der völlig hanebüchenen Geschichte um Goldgräber mit Herz, die ihrer verehrten und begehrten Minnie zunächst galant den Hof machen, um sie dann anstandslos mit einem überführten Verbrecher von dannen ziehen zu lassen. Nun ja, wollte man Opernhandlungen nach ihrer Realitätsnähe und Glaubwürdigkeit beurteilen, käme man auch sonst nicht sehr weit.

Cusch Jung, Chefregisseur der Musikalischen Komödie, nimmt die Story, wie sie ist und erlaubt sich nur ganz zum Schluss ein szenisches Fragezeichen nach dem vermeintlichen Happy End. Über weite Strecken beschränkt er sich darauf, routiniert die Geschichte zu erzählen, wobei ihm besonders die Ensembleszenen des ersten Akts hervorragend gelingen. So vermeidet Jung statische Bilder und zeigt das bunte Treiben in vielen parallelen Szenen. Die Herren des Opernchors tragen das Konzept mit und präsentieren sich heute Abend nicht nur stimmlich in Höchstform, sondern verkörpern die Goldgräberbande auch darstellerisch überzeugend.

Spielt der erste Akt in einer Bergwerks-Kaue aus Stein und Stahl (Bühnenbild: Karin Fritz), finden wir uns im zweiten Akt in Minnies heimeliger Holzhütte wieder, die durch die vorbeiwirbelnden Schneeflocken noch gemütlicher wirkt. Hier zeigt sich erneut Jungs Vorliebe für pittoreske Details, die in ihrem Naturalismus mitunter unfreiwillig komisch geraten. Mögen in Musicals wie „Dracula“ oder „Der Graf von Monte Cristo“ Pyrotechnik und knarrende Särge noch als genretypisch durchgehen, wirken tanzende Schneeflocken im Opernkontext etwas albern. Leider sind die intimen Szenen des zweiten Aktes insgesamt recht einfallslos inszeniert und plätschern eher uninspiriert dahin. So bleibt das Stelldichein Minnies mit ihrem Geliebten etwas blass – zumindest szenisch; denn sängerisch lassen Meagan Miller als Minnie und Gaston Rivero als Dick Johnson kaum Wünsche offen.

Millers Spiel wird der verletzlichen Seite Minnies gleichermaßen gerecht wie ihrer Bodenständigkeit und Durchsetzungskraft. Ihr Sopran weiß in jedem Register zu überzeugen und bildet die ganze Bandbreite an Emotionen ab, die Minnie im Verlauf der Oper durchlebt; so trifft Miller den freundlich-belehrenden Tonfall der Bibelstunde ebenso gut wie die Romantik der Liebesszene oder die hochkochenden Emotionen des letzten Akts. Gaston Rivero gibt den Gauner Johnson als einen Mann voller Zweifel, den die Begegnung mit Minnie von seinem eher unfreiwillig eingeschlagenen Weg abbringt. Der Tenor beeindruckt mit Strahlkraft und Glanz, benötigt für den einen oder anderen Spitzenton jedoch etwas Anlauf. Bariton Simon Neal meistert die komplexe Rolle des Sheriffs mit beeindruckender stimmlicher und schauspielerischer Nuancierungskunst und sorgt durch seine differenzierte Darstellung dafür, dass dieser nie als Witzfigur erscheint, sondern als ernstzunehmender Charakter, in dem Recht und Ordnung gegen übermächtige Gefühle kämpfen. Auch die Nebenrollen sind durchweg sehr gut besetzt; stellvertretend genannt seien hier Randall Jakobsh, der dem resoluten Ashby mit profundem Bass Kontur verleiht, und Jonathan Michie als impulsiver und gleichzeitig empfindsamer Sonora.

Das Gewandhausorchester zeigt sich von seiner besten Seite und lenkt durch so manches wundervolle Solo beinahe vom Bühnengeschehen ab; Generalmusikdirektor Ulf Schirmer sorgt indes stets dafür, dass der dramaturgische Faden nicht abreißt. Nur selten, vor allem im ersten Akt, überdeckt das Orchester mitunter die Sänger_innen und noch seltener driftet das Geschehen im und jenseits des Orchestergrabens etwas auseinander. Nach kurzer Einspielzeit sind diese leichten Koordinationsprobleme aber überwunden.

Zum Schluss stehen Minnie und ihr Geliebter Dick Johnson an einer Grenzmauer zur Flucht bereit, die sich der selbsternannte größte Präsident aller Zeiten nicht imposanter wünschen könnte, und gehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Was am Ende bleibt, ist ein musikalisch erstklassiger Opernabend mit einer durchaus ergreifenden, geradlinig erzählten Geschichte. Inszenierung und Bühnenbild sind nicht allzu originell geraten, dafür aber stimmig und nachvollziehbar. Alles in allem dürfte sich die Produktion damit vor allem für diejenigen lohnen, die einen klassischen Opernabend erleben möchten, der weder überrascht noch schockiert, dafür aber musikalisch auf ganzer Linie überzeugt. Begeisterter Applaus für alle Beteiligten.

Frank Sindermann

29. September 2018
Oper Leipzig

Weitere Aufführungen: 28.10., 10.11., 24.11., 2.12.2018