Meeresstille und glückliche Fahrt

Das Gewandhausorchester spielt Schumann zum Niederknien, Hélène Grimaud enttäuscht auf ganzer Linie.

Meeresstille (pixabay-Lizenz)

Entweder hat Hélène Grimaud ihren pianistischen Zenit bereits überschritten oder sie ist heute Abend einfach nicht gut in Form – einen anderen Schluss lässt ihre bestenfalls mittelmäßige Interpretation des Schumann-Klavierkonzerts eigentlich nicht zu. Schon die technische Bewältigung enttäuscht, mehr als einmal spielt die Pianistin schlicht falsche Töne, wirkt ihr Passagenspiel eher bemüht als gekonnt. Von natürlichem Fluss oder gar Brillanz keine Spur. Alles klingt stumpf, der Anschlag uneinheitlich bis beliebig, allzu viel versinkt mulmig im Pedal. Dazu schwankt Grimaud stellenweise derart im Tempo, dass Andris Nelsons mit dem Gewandhausorchester nur mühsam nachziehen kann. Mitunter misslingt dies auch, z. B. im Finale des ersten Satzes, wo Klavier und Orchester metrisch eigene Wege gehen. Der zweite Satz gelingt etwas besser, aber auch hier wirkt vieles belanglos, bleibt die Poesie auf der Strecke. Der Schlusssatz läuft zumindest glatt, wenn auch uninspiriert durch. Aus pianistischer Sicht ist dies insgesamt die schlechteste Aufführung des Konzerts, die ich je gehört habe, was umso bedauerlicher ist, als das Gewandhausorchester Grimaud einen mustergültigen Orchesterpart zu Füßen legt, ihr also gleichsam den roten Teppich aurollt. Vielleicht geht es der Pianistin heute tatsächlich nicht gut, was auch erklären würde, dass sie sich trotz erheblichem Applaus nicht zu einer Zugabe überreden lässt.

So enttäuschend das Schumann-Konzert, so begeisternd die beiden anderen Werke des Abends. Mendelssohns Konzertouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ erfreut vom zurückhaltend-geheimnisvollen Anfang bis zum energiegeladenen Ende. Die Zweiteilung in Meeresstille und glückliche Fahrt wird mustergültig herausgearbeitet, die individuellen Leistungen der Gewandhaus-Musiker_innen sind nahezu makellos, unter ihnen vor allem jener erste Windhauch der Soloflöte, der die Meeresstille beendet, und die strahlenden Trompeten, welche die glückliche Fahrt feiern.

Und dann erst die „Rheinische“ – wie sehr wünschte ich mir, statt der eher anständigen als beeindruckenden Bruckner-Deutungen würden die Mendelssohn- und Schumann-Sinfonien auf CD veröffentlicht! Die heutige Aufführung der dritten Schumann-Sinfonie kann man nicht anders als maßstabsetzend nennen. Der kraftvolle Optimismus des Kopfsatzes, die Eleganz des zweiten, der sakrale Ernst des vierten – hier bleiben nirgends Wünsche offen. Ein Orchester in Höchstform und ein bis in die Zehenspitzen motivierter Dirigent bescheren dem Publikum ein musikalisches Großereignis, das ich nicht so bald vergessen werde. Besonders erfreulich ist dieser gelungene Abschluss des Konzertabends nach dem verunglückten Klavierkonzert im ersten Teil, nach dessen Untiefen das Gewandhaus seine glückliche Fahrt vom Konzertbeginn fast noch glücklicher – und beglückender – fortsetzt.

Frank Sindermann

17. Januar 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Hélène Grimaud, Klavier

Erben-Gemeinschaft

Frank-Michael Erben feiert 25-jähriges Jubiläum als Primarius des Gewandhaus-Quartetts; das Publikum feiert mit.

Gewandhaus-Quartett © Jens Gerber

Das Streichquartett ist wohl der Inbegriff gleichberechtigten Musizierens. Dennoch sind im heutigen Kammerkonzert die Ohren und Augen vor allem auf Primarius Frank-Michael Erben gerichtet, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum in jener Funktion feiert. Dass zu dieser Aufgabe neben dem Musizieren auch ein erheblicher Organisationsaufwand gehört, betont Gewandhausdirektor Andreas Schulz in seiner augenzwinkernden Laudatio. Diese Vorgänge hinter den Kulissen bleiben dem Publikum in der Regel verborgen; die hohe musikalische Qualität des Gewandhaus-Quartetts lässt sich hingegen seit vielen Jahren in Konzerten und auf Tonträgern erleben.

So auch heute. Haydns sogenanntes „Kaiserquartett“ erfährt eine frische und elegante Interpretation, die Extreme meidet und damit im besten Sinne klassisch daherkommt. Schon im ersten Satz verzichten die Musiker_innen des Gewandhausquartetts auf billige folkloristische Effekte und überzeugen stattdessen durch Klangschönheit und Ausgewogenheit, ohne dabei die Widerhaken der Musik zu ignorieren. Der Variationensatz erfreut durch edlen Glanz; gleichwohl könnte das Thema stellenweise noch etwas klarer heraustreten; Im dritten Satz beeindruckt das feine Pianospiel, während der vierte vor allem durch seine fast greifbare Spielfreude besticht.

Mit Robert Schumanns 3. Streichquartett betreten wir ausdrucksmäßig ein völlig anderes Gebiet. Die Musiker_innen um Frank-Michael Erben zeigen sich nun von ihrer leidenschaftlichen Seite, vor allem in der dramatisch synkopierten letzten Variation des 2. Satzes. Der langsame Satz, für mich eine der schönsten und berührendsten Schöpfungen des Komponisten, wird zum Höhepunkt dieses an Ohrwurmmelodien armen, musikalisch aber umso reicheren Quartetts, wenn auch gelegentliche Intonationsprobleme die Dissonanzen noch ein wenig verschärfen. Im Finalsatz überzeugt vor allem die deutliche Herausarbeitung der Kontraste. Licht und Schatten liegen in diesem Satz musikalisch dicht beeinander und werden vom Gewandhausquartett klar getrennt.

Nach der Pause steht Schuberts Streichquintett auf dem Programm. Der als Gast hinzukommende Cellist Andreas Timm fügt sich hervorragend ins Ensemble ein, setzt aber auch eigene Akzente. Erben hat dieses Werk aufgrund der besonderen biografischen Bedeutung für seinen Werdegang als Musiker gewählt und man merkt ihm die hohe Wertschätzung dieser Musik an. Die scheinbar endlos sich erstreckenden Melodielinien des ersten Satzes, das Erlöschen des bewegenden zweiten, der schroffe, zwischen Tanz und Taumeln schwankende dritte, der abwechslungsreiche und farbige vierte Satz: Sie alle werden heute Abend zum Erlebnis. Das Publikum ist begeistert und beklatscht das Ensemble, vor allem aber den sichtlich gerührten heutigen Jubilar, ausgiebig und herzlich.

Frank Sindermann

13. Januar 2019
Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Gewandhaus-Quartett
Andreas Timm, Violoncello

Manueller Fokus

Andris Nelsons überzeugt im Gewandhaus mit einer sehr persönlichen Sicht auf Mendelssohn und Schumann.

Schärfentiefe (CC0, pixabay)

Die Gewandhauskonzerte dieser und der nächsten Woche sind Teil des Saisonschwerpunkts „Fokus: Mendelssohn & Schumann“, was an sich so notwendig ist wie Bach-Wochen beim Thomanerchor oder ein Wagner-Special in Bayreuth – hat doch das Gewandhausorchester Mendelssohn und Schumann ohnehin permanent im Autofokus. Auch die beiden Sinfonien des heutigen Konzerts wurden beide bereits in der vergangenen Saison gespielt, harren also auch nicht gerade ungeduldig der heutigen Aufführung.

Zum Glück deaktiviert Andris Nelsons zumindest musikalisch den Autofokus und zeigt seinen ganz eigenen Blick auf dieses Leipziger Standardrepertoire, präsentiert also das gängige Schnappschuss-Motiv gleichsam aus neuer Perspektive und mit einem manuellen Fokus, der andere Details scharfstellt als üblich.

Dies kommt vor allem Schumanns 2. Sinfonie zugute, deren große emotionale Tiefe Nelsons vor allem im ergreifenden langsamen Satz (Adagio espressivo) mit großem Ernst auslotet. Vom unsagbar zarten Anheben der Musik über die verhangenen Kontrapunkt-Abschnitte bis zum verklingenden Schluss entfaltet sich ein weite Klanglandschaft, deren Details Nelsons mit hoher Schärfentiefe belichtet.

Die Stimmung des Adagios färbt auch auf die übrigen Sätze ab, was den Kopfsatz geheimnisvoll, stellenweise fast düster wirken lässt. Erst gegen Ende weicht die Zurückhaltung emphatischer Freude. Das Scherzo kommt kontrastreich und spannend daher, die Streicher spielen ihre rasanten Figuren klar und präzise.

Der Finalsatz fällt gegen die grandiosen ersten drei leider etwas ab. Neben einigen spieltechnischen Ungenauigkeiten liegt dies vor allem an einer gewissen interpretatorischen Unentschlossenheit, die den Schlussjubel zwar zulässt, ihn aber nicht konsequent genug ausspielt. Man vergleiche z. B. Michael Gielen mit dem SWR-Orchester, der es am Schluss in Rekordtempo krachen lässt, oder Christoph von Dohnány mit dem Cleveland Orchestra, bei dem die letzten Paukentöne wie Hammerschläge des Schicksals zelebriert werden. Man muss diesen Lesarten nicht zustimmen, kann sie übertrieben oder pathetisch finden, aber sie sind prägnant und eindeutig, während das Finale heute etwas im Ungefähren verschwimmt.

Von Mendelssohn steht neben der schön gespielten, als Stück aber eher unspannenden „Ruy Blas“-Ouvertüre seine „Italienische“ Sinfonie auf dem Programm. Andris Nelsons lebt den freudigen Überschwang des eröffnenden Allegros körperlich aus und überträgt seine Begeisterung mühelos auf das Gewandhausorchester, das in jeder Hinsicht, vor allem aber in Holzbläser-Hinsicht, vollauf begeistert. So klingt es, wenn Energie zu Musik wird, wenn Begeisterung auf technisches Können trifft, wenn einzelne Instrumente in idealer Weise zu einem Klangkörper verschmelzen.

Das hohe musikalische Niveau wird in diesem Fall über alle vier Sätze gehalten. Die würdevolle Prozession des „Andante con moto“, das elegante Menuett, das wirbelnde Tanz-Finale: Ihnen allen verleiht Nelsons ihren ganz spezifischen Charakter – deutlich, aber ohne Übertreibung.

Angesichts der herausragenden Qualität der heutigen Aufführungen gerät die Frage nach Sinn oder Unsinn eines Mendelssohn- und Schumann-Schwerpunkts im Gewandhaus am Ende doch wieder in den Hintergrund. In diesem Sinne freue ich mich schon auf den nächsten Fokus. Mein Tipp: Beethoven.

Frank Sindermann

10. Januar 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent