Sinn und Leben

François-Xavier Roth entzündet im Gewandhaus ein wahres Feuerwerk der Klangeffekte.

Hector Berlioz, 1832 (Ausschnitt aus einem Porträt von Emile Signol)

François-Xavier Roth ist für seine intelligent konzipierten Konzertprogramme bekannt und das heutige Konzert im Großen Saal des Gewandhauses bildet da keine Ausnahme: Trennen Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ und Bernd Richard Deutschs Konzert für Saxophonquartett und Orchester auch fast 200 Jahre, so sind es doch beides Werke von ausgesprochenen Klangforschern, die das Farbspektrum des Orchesters auf ihre je eigene Weise zu erweitern suchen.

Der österreichische Komponist Bernd Richard Deutsch ließ sich zu seinem heute Abend uraufgeführten Konzert durch das Spiel des Raschèr Saxophone Quartets inspirieren, das bereits viele Werke aus der Taufe gehoben hat. Die vielfältigen  Möglichkeiten dieser Quartettformation, deren Instrumente einzeln völlig unterschiedlich klingen, aber dennoch zur vollkommenen klanglichen Einheit verschmelzen können, kombiniert Deutsch mit einem großen Orchester, dessen ohnehin unerschöpfliche Farbpalette er noch spieltechnisch differenziert.

Was man am Ende in diesem traditionell dreisätzigen Werk zu hören bekommt, ist per se nicht neu oder besonders avanciert; der Reiz liegt vor allem in der originellen Kombination der einzelnen Elemente, die für eine kurzweilige knappe halbe Stunde sorgt. Daneben überzeugt vor allem das raffinierte Spiel mit Rhythmus und Metrum, beispielsweise im ersten Satz oder dem „Agitato“-Teil des zweiten. Immer wieder klingen dabei andere Komponisten stilistisch an, lassen garstige Sarkasmen an Schostakowitsch denken, brutale Ostinati an Strawinsky oder komplexe Überlagerungen an Charles Ives. Wenn der Komponist im Fragebogen angibt, er wolle mit seiner Musik „eine bestimmte Zeitspanne mit Sinn und Leben füllen“, so ist ihm dies sicherlich gelungen, wie auch der große Applaus zeigt, den er nach der Aufführung entgegennehmen darf; ob ihm mit diesem postmodernen Klangzauber auch etwas Bleibendes gelungen ist, bleibt indes abzuwarten.

Ein wirkliches Ereignis ist es auf jeden Fall, dem Raschèr Saxophone Quartet zuzuhören. Während Deutsch in seinem Konzert die vier Saxophone oft solistisch hervortreten lässt, bietet die Zugabe, der „Contrapunctus IV“ aus Bachs „Kunst der Fuge“ Gelegenheit, die vollendete Klangkultur des Quartetts in Reinform zu genießen.

Von den Saxophonen ist es kein weiter Weg zu Berlioz, wurde doch deren Erfinder, Adolphe Sax, von Berlioz sehr geschätzt und wohnte auch in dessen Nähe, wie der Dirigent am Ende des Konzerts charmant erläutert. Die Experimentierfreude, mit der Berlioz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die damaligen Grenzen des Orchesterklangs erweiterte, wird exemplarisch in seiner „Symphonie fantastique“ hörbar, die nicht nur mindestens vier Harfen erfordert, sondern auch Glocken und exotische Instrumente wie Piston-Kornetts und Ophikleiden.

Nachdem François-Xavier Roth mit seinem Ensemble Les Siècles erst 2019 eine großartige Einspielung der Sinfonie auf Originalinstrumenten der damaligen Zeit vorgelegt hat, muss er heute mit dem modernen Instrumentarium des Gewandhausorchesters vorliebnehmen und auch auf die Ophikleiden verzichten. Dass das Ergebnis unter dem Strich nicht minder überzeugend ausfällt, liegt neben dem an allen Pulten hervorragend spielenden Orchester vor allem an der nervösen Spannung, die Roth während des gesamten Liebesdramas in fünf Sätzen niemals ganz auflöst. Selbst die Ballszene des zweiten Satzes lässt bei allem Glanz eher an hektischen Trubel als unbeschwertes Tanzen denken. Einzig im dritten Satz breitet sich eine tiefe Ruhe aus, bleibt die Zeit beinahe stehen. Vor allem freut mich, dass Roth die beiden letzten Sätze tatsächlich so bedrohlich und infernalisch anlegt, wie Berlioz sie meines Erachtens auch empfunden und gemeint hat. Von Herbert Blomstedt wurde der Hexensabbat 2018 eher zum launigen Karnevalsschwank umgedeutet (Link zur Rezension); davon kann bei Roth keine Rede sein: Mit vollem Körpereinsatz lässt er den Fiebervisionen ihren Lauf und  stampft im Eifer des Gefechts auch einmal mit dem Fuß auf. Großer Jubel, teils stehend vorgebracht, belohnt eine in jeder Hinsicht herausragende und erinnerungswürdige Darbietung.

Frank Sindermann

28. Oktober 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
François-Xavier Roth, Dirigent
Raschèr Saxophone Quartet

Anspruchsvolles Debüt

Die US-amerikanische Dirigentin Karina Canellakis dirigiert im Gewandhaus Werke von Matthus und Beethoven.

Karina Canellakis | Foto: Mathias Bothor

Man hätte Karina Canellakis für ihr Debüt mit dem Gewandhausorchester sicherlich mehr Publikum gewünscht – eine wirkliche Überraschung ist der ziemlich leere Saal allerdings nicht. Zum einen sind die Anrechte für diese Spielzeit erneut ausgesetzt worden, wodurch viele Stammplätze unbelegt bleiben, zum anderen steht mit Siegfried Matthus‘ „Holofernes“ ein Werk auf dem Programm, das nicht unbedingt zum spontanen Kartenkauf animiert: Was den einen als verstaubte, politisch erwünschte Gebrauchsmusik gilt, ist für die anderen immer noch zu modern.  

Aus heutiger Sicht fällt es sicherlich leicht, Kompositionen wie den „Holofernes“ als Auftragskunst zu belächeln, die heute aus der Zeit gefallen wirkt und nur noch dann entstaubt wird, wenn es einen entsprechenden äußeren Anlass gibt – in diesem Fall die Feier des Jubiläums „40 Jahre Neues Gewandhaus“. Doch mit dieser herablassenden Haltung wird man weder dem Komponisten noch dem Werk gerecht. Wenn man sich unvoreingenommen auf Musik und Text einlässt, erhält man Denkanstöße, die heute nicht weniger aktuell sind als 1981. Beispielsweise hat der Gedanke, dass das Wissen um die eigene Endlichkeit dem Leben erst Sinn verleiht, in Zeiten der Erforschung ewigen Lebens nichts von seiner Aktualität verloren. Leider erschließen sich derartige Ideen vor allem denjenigen, die eifrig im Programmheft mitlesen; denn die expressive, teils an Berg, teils an Strawinsky erinnernde Musik des Orchesters deckt allzu oft die Gesangspartie zu. Dies ist nicht der bestens vorbereiteten Dirigentin Karina Canellakis, schon gar nicht dem stimmgewaltigen, ausdrucksstarken  Bariton Christoph Pohl anzulasten, sondern vor allem dem Komponisten, dessen Orchestersatz deutlich filigraner sein müsste, um der Singstimme den nötigen Raum zu geben. Wie Christoph Pohl den Größenwahn, aber auch die Verzweiflung des Holofernes darstellt, ist musikdramatische Gestaltungskunst auf höchstem Niveau – soweit man es denn hören kann …

Im zweiten Teil des Konzerts steht mit Beethovens „Eroica“ ein Werk auf dem Programm, zu dem eigentlich alles mehrfach gesagt scheint, das jedenfalls einer Dirigentin kaum die Chance gibt, sich bei ihrem Debüt zu profilieren. Zum Glück versucht Canellakis dies gar nicht erst. Ihr Beethoven ist eher klassisch als romantisch angelegt, nicht besonders revolutionär, dafür fein ausgehört und bis ins Detail stimmig. Dem Kopfsatz nimmt sie etwas von seiner Schärfe, den Trauermarsch hält sie stets im Fluss und das Scherzo hat man schon zupackender, aber kaum quirliger gehört. Wie Canellakis im Finale schließlich das Hauptthema organisch entstehen lässt und den prometheischen Taumel in die endlose Schlusskadenz steuert, ist gekonnt und lässt auf ein weiteres Konzert mit der agilen, völlig uneitlen Dirigentin hoffen. Dieser Beethoven ist nicht extrem im Ausdruck oder den Tempi, nicht prinzipiell neu in der Deutung, aber trotzdem – oder deswegen – einfach großartig.

Frank Sindermann

7. Oktober 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Karina Canellakis, Dirigentin
Christoph Pohl, Bariton

 

Raum und Zeit

Das Gewandhaus-Quartett und Bernd Glemser spielen Klavierquintette von Kochan und Brahms.

Wassily Kandinsky: Komposition VIII (1923)

Dass Musik als Kunstform nicht nur eine zeitliche, sondern ebenso eine räumliche Dimension besitzt, ist mir beim Hören von Günter Kochans Klavierquintett in der heutigen Kammermusik-Stunde des Gewandhaus-Quartetts einmal mehr bewusst geworden. Melodische Verläufe und ganz generell durch Metrum und Rhythmus definierte Prozesse spielen in Kochans spätem Gattungsbeitrag nur eine untergeordnete Rolle, das vor allem von ständigen Kontrasten zwischen Enge und Weite, zwischen klanglicher Zusammenballung und Entfaltung geprägt ist. 

Das Gewandhaus-Quartett hat das Klavierquintett vor etwa 20 Jahren selbst uraufgeführt und nutzt nun die Gelegenheit, es im Rahmen des „Fokus: 40 Jahre Neues Gewandhaus“ noch einmal ins Programm zu nehmen. Da es zu dem Werk kaum greifbare Informationen gibt – auch das Programmheft liefert nur biografische Notizen zum Komponisten – und auch die Noten nicht leicht greifbar sind, fühlt sich die heutige Aufführung zumindest für mich wie eine spannende Black Box an. Überraschend war sicherlich für einen Großteil des zahlreich anwesenden Publikums allein schon die Kürze der Komposition, deren vier Sätze zusammen keine Viertelstunde dauern. Allzu sehr bedauere ich dies allerdings offen gesagt nicht, denn ungeachtet mancher interessanter Klangeffekte und emotionaler Zuspitzungen finde ich keinen rechten Bezug zu dem Werk; vor allem irritiert mich, wie wenig Streichquartett und Klavier miteinander interagieren, wie viel Potenzial der Besetzung also ungenutzt bleibt.

Johannes Brahms spielt in fast jedem seiner Werke mit der zeitlichen Dimension der Musik. Was schon bei vermeintlich einfachen Kompositionen wie dem Wiegenlied „Guten Abend , gut‘ Nacht“ zu rhythmischen Verschiebungen zwischen Gesang und Klavierbegleitung führt, sorgt beim Hören der Sinfonien oder der Kammermusik bisweilen fast für eine Art metrischer Orientierungslosigkeit. Das Gewandhaus-Quartett und Pianist Bernd Glemser harmonieren bestens miteinander und meistern daher die zahlreichen derartigen Hürden – von einigen Unstimmigkeiten über das Tempo ganz zu Beginn abgesehen – mit bewundernswerter Souveränität. Sie spielen einen klanglich polierten, emotional bewegenden Brahms von geradezu klassischer Ausgewogenheit. Im ersten Satz fehlt es mir etwas an Leidenschaft, das Spiel wirkt streckenweise etwas zu routiniert (man vergleiche die zupackende Einspielung des Quatuor Ébène mit Akiko Yamamoto!), aber dies ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Die süße Melancholie des zweiten Satzes wird ebenso überzeugend dargestellt wie das unheimlich glühende Feuer des dritten – und spätestens im Finale geben die Musiker:innen dann auch ihre vornehme Zurückhaltung auf und bringen das Konzert zu einem effektvollen Abschluss.

Frank Sindermann

3. Oktober 2021
Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Gewandhaus-Quartett
Bernd Glemser, Klavier