Musikalische Wunderlampe

Das MDR-Sinfonieorchester spielt im Gewandhaus orientalische Fantasien, darunter zwei Raritäten.

Kerem Hasan | © Tristan Fewings

Mehr Zauber geht nicht. Rimski-Korsakows Dauerbrenner „Sheherazade“, Borodins „Steppenskizze“, dazu zwei passend ausgewählte Neuentdeckungen: Das Programm des Konzerts „1001 Nacht“ passt ideal in die MDR-Reihe „Zauber der Musik“ und verspricht einen ebenso abwechslungsreichen wie inspirierenden Abend. Mit Engelbert Humperdincks „Ritt in die Wüste“ und Karol Szymanowskis Orchesterliedern nach Gedichten des Hafis erklingen zwei Werke, die völlig zu Unrecht ein Schattendasein im gegenwärtigen Konzertleben fristen – schon allein für diese lohnt sich der Besuch des Konzerts.

Den Anfang macht aber ein altbewährter Klassiker, Alexander Borodins schlichte, aber wirkungsvolle „Steppenskizze aus Mittelasien“. Hinter diesem etwas sperrigen Titel verbirgt sich eine stimmungsvolle Miniatur, die vor allem von der Schönheit der zwei kontrastierenden Themen lebt. Der britische Dirigent Kerem Hasan wählt ein mittleres Tempo und und hält die Musik stets im Fluss. Die Steigerung bis zum Höhepunkt, wenn die beiden Themen gleichzeitig erklingen, gestaltet er ebenso überzeugend wie das abschließende Verlöschen im Nirgendwo. Das MDR-Sinfonieorchester spielt klangschön (Soli!), aber noch etwas unsortiert, was die Intonation (hohe Violinen) und die Präzision gemeinsamer Akkorde (Holzbläser) angeht. Es wirkt, als seien noch nicht alle Beteiligten von Anfang an zu 100 Prozent bei der Sache.

Dies kann sich bei Szymanowskis Liebesliedern niemand mehr erlauben – nicht das Orchester, nicht der Dirigent und schon gar nicht der Solist. Bei letzterem handelt es sich heute Abend um den wunderbaren Mauro Peter, dessen warmer, edler Tenor ideal zum (gerade noch) spätromantischen Stil dieser acht schwelgerischen Lieder passt. Mit intelligenter Phrasierung, perfekter Artikulation und stimmlicher Durchsetzungskraft beweist Peter einmal mehr, dass er nicht nur im klassischen Repertoire zuhause ist. In manchen Liedern hätte ich mir noch ein wenig mehr interpretatorische Tiefe gewünscht. So spiegelt sich die große emotionale Bandbreite der acht Gedichte nicht durchweg in Peters Gesang wider. Immer schön und kultiviert, aber zu ähnlich geht Peter die einzelnen Lieder an. Kerem Hasan dirigiert die farbenreiche Partitur mit Gespür für feine Details und reagiert sehr umsichtig auf den Solisten, sodass dieser zum Glück nur selten vom luxuriös besetzten Orchester übertönt wird.

Nach der Pause folgt mit Engelbert Humperdincks „Ritt durch die Wüste“ die zweite Entdeckung des Abends. Das effektvolle, dramatisch bewegte Stück ist klar von Wagner inspiriert, geht aber doch eigene Wege. Die rundum gelungene Aufführung zeigt, dass man dem Komponisten beliebter Märchenopern Unrecht tut, wenn man ihn nur auf diese reduziert. Tipp: Auch die übrigen Sätze der „Maurischen Rhapsodie“ lohnen sich!

Den Abschluss bildet Nikolai Rimski-Korsakows sinfonische Suite „Scheherazade“, ein Meisterwerk der musikalischen Charakterisierung und Instrumentation und für viele sicherlich der Höhepunkt des Abends. Den Part der Solovioline übernimmt Orin Laursen, der heute als Gast die Position des Konzertmeisters innehat. Der erste Satz beginnt vielversprechend: dräuende Blechbläserakkorde, Laursens filigranes erstes Solo… doch dann macht sich matte Müdigkeit breit. Ich höre ein Orchester, das eine Musik, die es im Schlaf spielen könnte, so spielt, als schliefe es tatsächlich. Derart unterspannt habe ich diesen Satz selten gehört. Dies liegt nicht zuletzt am Dirigenten, der mehr Einsatz fordern müsste und auch sonst eher unauffällig bleibt. Zum Glück bessern sich die Dinge im weiteren Verlauf deutlich. Hervorzuheben sind vor allem der gefühlvoll musizierte dritte Satz und das Finale, welches schon allein aufgrund seiner enormen Schwierigkeit die letzten Feierabendträume der Musiker:innen verscheucht. Warum nicht gleich so? Ein wahres Fest sind die zahlreichen Soli von Flöte, Klarinette, Fagott, Horn, Harfe – und natürlich Orin Laursen, der das verkappte Violinkonzert virtuos und mit edlem, schlankem Ton spielt. Dieser Scheherazade hört man gern zu – vielleicht sogar 1001 Nacht lang.

Eine Aufzeichnung des Konzerts ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.mdr.de/klassik/hoeren-sehen/leipzig-gewandhaus-kerem-hasan-dirigiert-100.html

Frank Sindermann

Sonntag, 14. April 2024
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Orin Laursen, Konzertmeister
Mauro Peter, Tenor
Kerem Hasan, Dirigent

Lux perpetua

Franz Welser-Möst dirigiert Verdis Requiem im ausverkauften Gewandhaus (English translation available)

Bild von lmaresz auf Pixabay

Kaum zu glauben, aber wahr: Das Gewandhausorchester hat Verdis Requiem zuletzt im Jahr 1960 aufgeführt! Das deutlich zu lange lange Warten hat sich aber gelohnt: auf einem höheren musikalischen Niveau wird man dieses Werk aktuell schwerlich hören können.

Das Gewandhausorchester spielt den anspruchsvollen Orchesterpart präzise und farbig, hält die Spannung bis zum Schluss und reagiert wach auf die Versuche des Dirigenten Franz Welser-Möst, seinen vorauseilenden Tenor wieder einzufangen. Dieses ist vor allem in der ersten halben Stunde immer wieder nötig, da Limmie Pulliam sich leider nicht davon abbringen lässt, sein eigenes (schnelleres) Tempo zu fahren. Mit seinem durchdringenden, metallischen Organ bringt Pulliam alle Voraussetzungen mit; leider macht ihm aber die Aufregung öfter einen Strich durch die Rechnung. Abgesehen von seiner Nervosität irritert der Sänger allerdings auch sonst, so zB durch lautes Husten während eines Solos seiner Kollegin Deniz Uzun. Dies ist umso bedauerlicher, als jeder ihrer Töne unbedingt hörenswert ist. Uzun führt ihre ausdrucksstarke, warme Mezzosopran-Stimme in immer neue Gefühlsregionen und wird dem theatralischen, musikdramatischen Gehalt des Requiems in besonderem Maß gerecht. Wunderbar auch ihr perfektes Zusammenspiel mit der großartigen Asmik Grigorian, die nicht nur stimmlich das ewige Licht herbeisingt, sondern das Publikum auch emotional zu berühren versteht. Ein klangschöneres, innigeres „Libera me“ habe ich nie zuvor gehört, schon gar nicht live. Punkt. Mika Kares vervollständigt das hochkarätige Solist:innenquartett. Sein kraftvoller Bass strahlt Autorität und Ernst aus, kann aber ebenso warm und einfühlsam klingen – großartig!

Der MDR-Rundfunkchor besticht durch Klangschönheit und Wandlungsfähigkeit und wird so dem geflüsterten Beginn ebenso gerecht wie den Exzessen des Dies irae. Leider ist der Chor nicht immer optimal zu hören, wie auch ganz allgemein die klangliche Balance nicht immer überzeugt. In den lauten Tutti-Passagen, aber auch schon ganz zu Anfang, übertönt das Orchester mitunter den Chor und lässt damit manche Nuancen unter den Tisch fallen. Anders gesagt: Es nützt nichts, wenn der Chor sein erstes „Requiem“ extrem leise flüstert, wenn das Orchester gleichzeitig lauter spielt. Franz Welser-Möst geht das Werk dramatisch an und bevorzugt ein eher rasches Tempo. Seine Lesart ist effektvoll und zupackend – das göttliche Licht scheint hier sozusagen nicht durch Buntglasfenster auf den Kirchenboden, sondern wird von Scheinwerfern auf die Opernbühne gestrahlt. Den Fokus auf die opernhaften Elemente zu legen, ist völlig legitim, wenn das Konzept so konsequent umgesetzt wird wie in diesem Fall. Nachdem der Schlussakkord verklungen ist, hält der Dirigent die Spannung noch lange aufrecht, bevor der begeisterte Applaus losbricht. Standing Ovations und langanhaltender Jubel sind der Dank für einen zwar nicht perfekten, aber dennoch herausragenden Konzertabend.

(Frank Sindermann)

English translation

It’s hard to believe, but true: The Gewandhaus Orchestra last performed Verdi’s Requiem in 1960! However, the exceedingly long wait was worth it: it would be difficult to hear this work performed at a higher musical level currently.

The Gewandhaus Orchestra plays the challenging orchestral part precisely and colorfully, maintains tension until the end, and is alert to the conductor Franz Welser-Möst’s attempts to catch up with his runaway tenor. This is especially necessary during the first half-hour, as Limmie Pulliam unfortunately insists on setting his own (faster) pace. With his penetrating, metallic voice, Pulliam has all the prerequisites; however, nervousness often spoils his performance. Apart from that, the singer is also otherwise distracting, such as loudly coughing during a solo of his colleague Deniz Uzun. This is all the more regrettable because every note of hers is worth listening to. Uzun leads her expressive, warm mezzo-soprano voice into ever new emotional territories and fulfills the theatrical, music-dramatic content of the Requiem to a special extent. Her perfect interplay with the wonderful Asmik Grigorian, who not only vocally summons the eternal light but also knows how to touch the audience emotionally, is marvelous. I have never heard a more beautiful, more heartfelt “Libera me,” certainly not live. Mika Kares completes the high-caliber soloist quartet. His powerful bass radiates authority and seriousness but can also sound warm and empathetic – magnificent!

The MDR radio choir impresses with its sound beauty and versatility, doing justice to both the whispered beginning and the excesses of the Dies Irae. Unfortunately, the choir is not always optimally heard, as is the case with the overall sound balance not always convincing. In loud tutti passages, and even at the very beginning, the orchestra sometimes drowns out the choir, losing some nuances in the process. In other words: It’s futile if the choir whispers its first „Requiem“ extremely softly while the orchestra plays louder at the same time. Franz Welser-Möst approaches the work dramatically and prefers a rather rapid tempo. His interpretation is effective and gripping – divine light here is not so much shining through stained glass windows onto the church floor as it is being spotlighted onto the opera stage. Focusing on the operatic elements is completely legitimate when the concept is implemented as consistently as in this case. After the final chord has faded, the conductor keeps the tension high for a long time before the enthusiastic applause breaks out. Standing ovations and prolonged cheers are the thanks for a concert evening that, although not perfect, is still outstanding.

(Frank Sindermann)

Donnerstag, 11. April 2024
Gewandhaus, Großer Saal
Giuseppe Verdi: Messa da Requiem

Gewandhausorchester
MDR-Rundfunkchor
Asmik Grigorian, Sopran
Deniz Uzun, Mezzosopran
Limmie Pulliam, Tenor
Mika Kares, Bass
Franz Welser-Möst, Dirigent

Endlich September

Ehrendirigent Herbert Blomstedt (96) dirigert zur Saisoneröffnung im Gewandhaus Sinfonien von Schubert und Berwald.

Skandinavische Alpen | Bildnachweis siehe unten

Es vermag mir nicht recht einzuleuchten, warum alte Menschen besser geeignet wären, die Sinfonie eines Neunzehnjährigen aufzuführen, wie dies ein Leipziger Musikkritiker jüngst behauptete; schaden kann ein hohes Alter andererseits auch nicht, wie der 96-jährige Herbert Blomstedt im Eröffnungskonzert der neuen Gewandhaussaison eindrucksvoll unter Beweis stellte. Bei allen physischen Beeinträchtigungen, die ein fast hundertjähriges Leben mit sich bringt – entscheidend ist die Geisteshaltung. Herbert Blomstedt hat in den letzten zehn Jahren einige seiner frischesten, lebendigsten Einspielungen vorgelegt, und auch das heutige Matineekonzert im ausverkauften Gewandhaus sprüht geradezu vor Energie. Schuberts bezaubernde Fünfte mit ihrer Mozartischen Eleganz ist bei Blomstedt in den denkbar besten Händen. Der erste Satz voller Esprit, lebendig fließend das Andante, akzentuiert ohne Grobheiten der dritte, ein quicklebendiges Finale der vierte. Ein bestens aufgelegtes Orchester erfüllt seinem Ehrendirigenten jeden Wunsch, vermutlich, ohne dessen sparsamer Gesten wirklich zu bedürfen.

Nach der Pause dann Werke des schwedischen Komponisten Franz Berwald, dessen Musik Blomstedt immer wieder aufgeführt und mehr oder weniger bekannt gemacht hat, nicht zuletzt in Leipzig. Das Tongemälde „Erinnerung an die norwegischen Alpen“ überzeugt vor allem durch seine stimmungsvolle Atmosphäre und eine klangliche Weite, die dem erhabenen Sujet angemessen ist. Blomstedts gelassenes Dirigat lädt das reizvolle, unspektakuläre Stück nicht unnötig auf, sondern lässt es seine knapp zehn Minuten lang fließen – eine gute Entscheidung. Besonderer Respekt gebührt Blomstedt dafür, dass er das selten gespielte Stück für die Konzerte dieser Woche erstmals erarbeitet hat.

Berwalds „Sinfonie Singulière“ ist ein völlig anderes musikalisches Kaliber und hätte sich einen festen Platz im Repertoire mehr als verdient. Blomstedt hat die Urtextausgabe der Sinfonie seinerzeit selbst herausgegeben und sie seither oft genug gespielt, um sie auch heute noch auswendig dirigieren zu können. Für das Orchester ist Berwalds originelle, aber mitunter sperrige Sinfonik kein Selbstläufer, was sich beispielsweise an einigen rhythmischen Unebenheiten im ersten Satz zeigt. Dafür gerät der herausragende Mittelsatz mustergültig, vor allem der tief empfundene langsame Rahmenteil. Auch der schroffe, wechselhafte Schlusssatz überzeugt durchweg. Den größten Anteil daran haben die Musiker:innen des Gewandhausorchesters, von denen hier stellvertretend die Flötistinnen genannt seien: Von den berückenden Kantilenen im langsamen Satz der Schubert-Sinfonie bis zu Berwalds fragmentarisch knappen Antwort-Floskeln meistern sie alle Herausforderungen technisch souverän und musikalisch überzeugend.

Am Ende steht der Saal und jubelt „seinem“ gerührten Dirigenten zu, der es immer noch versteht, Publikum und Orchester durch seine Musik und seine Persönlichkeit zu inspirieren. Dies gelingt vor allem deshalb, weil das Gewandhausorchester seinen Ehrendirigenten musikalisch auf Händen trägt und mittlerweile fürsorglich am Arm führt. Ohne diese herzerwärmende Unterstützung wäre alles nichts.

(Frank Sindermann)

10. September 2023, 11 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent

Foto: User „Moralist“ auf Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Klassisches Ebenmaß

Valentino Worlitzsch spielt Elgars Cellokonzert erfreulich unsentimental, Michhail Gerts erweist sich als würdige Vertretung für den erkrankten Michael Sanderling.

Valentino Worlitzsch | (c) Felix Broede

Die Werke Edward Elgars werden außerhalb Großbritanniens nach wie vor selten gespielt. Es gibt allerdings einige Ausnahmen: die wunderbaren „Enigma“-Variationen, die effektvoll auftrumpfenden „Pomp and Circumstance“-Märsche und das Cellokonzert. Letzteres erklingt nun zum ersten Mal seit 2010 im Großen Concert; den Solopart übernimmt Valentino Worlitzsch, 1. Solo-Cellist des Gewandhausorchesters.

Von der eröffnenden dramatischen Geste des ersten bis zum virtuosen Schluss des letzten Satzes überzeugt Worlitzsch mit gestalterischer Intelligenz und Kreativität sowie wohldosierter Melancholie, die nie in rührselige Sentimentalität abgleitet. Mit klangvollem Sepia-Ton kreiert Worlitzsch genau jene nostalgische Atmosphäre, die dieses Konzert für mich auszeichnet. In den technisch anspruchsvollsten Passagen leiden vereinzelt rhythmische Präzision und Sauberkeit der Intonation; dem hervorragenden Gesamteindruck tut dies jedoch kaum Abbruch. Das Gewandhausorchester unter Leitung des kurzfristig eingesprungenen Dirigenten Mihhail Gerts erweist sich als idealer Dialogpartner des Solisten, steuert aber auch immer wieder eigene Akzente bei.

Für die Zugabe kündigt Worlitzsch an, einen Satz aus einer Cellosuite spielen zu wollen. Süffisant konterkariert er sogleich die Erwartungshaltung des Publikums: Nicht Bach, sondern Reger ist der Komponist! Dessen Cellosuiten atmen ganz den Geist des verehrten Vorbilds und unterscheiden sich vor allem in harmonischer Hinsicht von diesem.

Ein weiteres Vorbild Max Regers war Wolfgang Amadeus Mozart. Dessen Adagio und Fuge c-Moll bildeten den Auftakt des Konzerts, wobei das angespannte, präzise gespielte Adagio mehr zu gefallen wusste als die etwas holpernde Fuge. Regers Mozart-Variationen beschließen nach der Pause das Konzert. Das Gewandhausorchester zeigt sich ausnahmslos von seiner besten Seite und wirft die Frage auf, warum dieses Werk nicht viel häufiger aufgeführt wird. Gerts arbeitet die Charakteristika der einzelnen Variationen plastisch heraus und zeigt, dass er Regers strukturelles Denken ebenso ernst nimmt wie den publikumswirksamen Klangrausch. Und nun klappt es auch mit der Fuge. Begeisterter Applaus.

Frank Sindermann

29. September 2022
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Mihhail Gerts, Dirigent
Valentino Worlitzsch, Violoncello 

Mehr als Meer

Im „Zauber der Musik“ spielen Sinfonieorchester und Chor des MDR Musik von Ethel Smyth und Ralph Vaughan Williams.

Foto: pixabay

Der heutige „Zauber der Musik“ beginnt mit einem selten gespielten Werk – zu selten gespielt, könnte man sagen, denn die Ouvertüre zu Ethel Smyth‘ Oper „The Wreckers“ ist ebenso interessant wie effektvoll und findet nach dem Applaus zu urteilen beim Publikum großen Anklang. Zugleich dienen die technischen Schwierigkeiten des Werks den Musiker:innen des MDR-Sinfonieorchesters als ideale Vorbereitung auf das große, überaus anspruchsvolle Werk des Abends: Ralph Vaughan Williams‘ „Sea Symphony“, die das Meer im Namen trägt, in der es aber um weitaus mehr als das Meer geht.

Das Meer wird nämlich nicht im Sinne eines Naturbildes tonmalerisch nachgeahmt, sondern dienst als Metapher für die individuelle Lebensreise und die Reise der Menschheit auf der Suche nach neuen Ufern und dem Sinn des Lebens. Die tiefsinnigen Texte Walt Whitmans sind dem MDR-Rundfunkchor sowie Solo-Sopran und -Bariton anvertraut, die auf ganzer Linie überzeugen. Dirigent Dennis Russell-Davies entlockt dem Orchester wundervolle Farben und vereint strukturelle Klarheit mit dem nötigen „Zauber der Musik“-Glanz. Der Chor zeigt sich in Höchstform und wird den wechselnden, dabei stets hohen Anforderungen vollauf gerecht. Manchmal ist die Klangbalance zwischen Chor und Orchester nicht ideal, jedoch tritt dieses Problem zum Glück nur in besonders lauten Tutti-Passagen auf. Bariton Christopher Maltman überzeugt mit würdevoller Autorität und stimmlicher Durchsetzungskraft, Sopranistin Eleanor Lyons gestaltet klangschön und mit ergreifender Schlichtheit.

In berückender Stille endet diese durchweg beeindruckende Aufführung eines zentralen Werks der britischen Sinfonik – ein mehr als würdiger Beitrag zu Vaughn Williams‘ 150. Geburtstag.

Frank Sindermann

Hörtipp: https://youtu.be/2w4hHS5Ys2U

Sonntag, 8. Mai 2022
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Christopher Maltman, Bariton
Eleanor Lyons, Sopran
Dennis Russell Davies, Dirigent

Sinn und Leben

François-Xavier Roth entzündet im Gewandhaus ein wahres Feuerwerk der Klangeffekte.

Hector Berlioz, 1832 (Ausschnitt aus einem Porträt von Emile Signol)

François-Xavier Roth ist für seine intelligent konzipierten Konzertprogramme bekannt und das heutige Konzert im Großen Saal des Gewandhauses bildet da keine Ausnahme: Trennen Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ und Bernd Richard Deutschs Konzert für Saxophonquartett und Orchester auch fast 200 Jahre, so sind es doch beides Werke von ausgesprochenen Klangforschern, die das Farbspektrum des Orchesters auf ihre je eigene Weise zu erweitern suchen.

Der österreichische Komponist Bernd Richard Deutsch ließ sich zu seinem heute Abend uraufgeführten Konzert durch das Spiel des Raschèr Saxophone Quartets inspirieren, das bereits viele Werke aus der Taufe gehoben hat. Die vielfältigen  Möglichkeiten dieser Quartettformation, deren Instrumente einzeln völlig unterschiedlich klingen, aber dennoch zur vollkommenen klanglichen Einheit verschmelzen können, kombiniert Deutsch mit einem großen Orchester, dessen ohnehin unerschöpfliche Farbpalette er noch spieltechnisch differenziert.

Was man am Ende in diesem traditionell dreisätzigen Werk zu hören bekommt, ist per se nicht neu oder besonders avanciert; der Reiz liegt vor allem in der originellen Kombination der einzelnen Elemente, die für eine kurzweilige knappe halbe Stunde sorgt. Daneben überzeugt vor allem das raffinierte Spiel mit Rhythmus und Metrum, beispielsweise im ersten Satz oder dem „Agitato“-Teil des zweiten. Immer wieder klingen dabei andere Komponisten stilistisch an, lassen garstige Sarkasmen an Schostakowitsch denken, brutale Ostinati an Strawinsky oder komplexe Überlagerungen an Charles Ives. Wenn der Komponist im Fragebogen angibt, er wolle mit seiner Musik „eine bestimmte Zeitspanne mit Sinn und Leben füllen“, so ist ihm dies sicherlich gelungen, wie auch der große Applaus zeigt, den er nach der Aufführung entgegennehmen darf; ob ihm mit diesem postmodernen Klangzauber auch etwas Bleibendes gelungen ist, bleibt indes abzuwarten.

Ein wirkliches Ereignis ist es auf jeden Fall, dem Raschèr Saxophone Quartet zuzuhören. Während Deutsch in seinem Konzert die vier Saxophone oft solistisch hervortreten lässt, bietet die Zugabe, der „Contrapunctus IV“ aus Bachs „Kunst der Fuge“ Gelegenheit, die vollendete Klangkultur des Quartetts in Reinform zu genießen.

Von den Saxophonen ist es kein weiter Weg zu Berlioz, wurde doch deren Erfinder, Adolphe Sax, von Berlioz sehr geschätzt und wohnte auch in dessen Nähe, wie der Dirigent am Ende des Konzerts charmant erläutert. Die Experimentierfreude, mit der Berlioz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die damaligen Grenzen des Orchesterklangs erweiterte, wird exemplarisch in seiner „Symphonie fantastique“ hörbar, die nicht nur mindestens vier Harfen erfordert, sondern auch Glocken und exotische Instrumente wie Piston-Kornetts und Ophikleiden.

Nachdem François-Xavier Roth mit seinem Ensemble Les Siècles erst 2019 eine großartige Einspielung der Sinfonie auf Originalinstrumenten der damaligen Zeit vorgelegt hat, muss er heute mit dem modernen Instrumentarium des Gewandhausorchesters vorliebnehmen und auch auf die Ophikleiden verzichten. Dass das Ergebnis unter dem Strich nicht minder überzeugend ausfällt, liegt neben dem an allen Pulten hervorragend spielenden Orchester vor allem an der nervösen Spannung, die Roth während des gesamten Liebesdramas in fünf Sätzen niemals ganz auflöst. Selbst die Ballszene des zweiten Satzes lässt bei allem Glanz eher an hektischen Trubel als unbeschwertes Tanzen denken. Einzig im dritten Satz breitet sich eine tiefe Ruhe aus, bleibt die Zeit beinahe stehen. Vor allem freut mich, dass Roth die beiden letzten Sätze tatsächlich so bedrohlich und infernalisch anlegt, wie Berlioz sie meines Erachtens auch empfunden und gemeint hat. Von Herbert Blomstedt wurde der Hexensabbat 2018 eher zum launigen Karnevalsschwank umgedeutet (Link zur Rezension); davon kann bei Roth keine Rede sein: Mit vollem Körpereinsatz lässt er den Fiebervisionen ihren Lauf und  stampft im Eifer des Gefechts auch einmal mit dem Fuß auf. Großer Jubel, teils stehend vorgebracht, belohnt eine in jeder Hinsicht herausragende und erinnerungswürdige Darbietung.

Frank Sindermann

28. Oktober 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
François-Xavier Roth, Dirigent
Raschèr Saxophone Quartet

Anspruchsvolles Debüt

Die US-amerikanische Dirigentin Karina Canellakis dirigiert im Gewandhaus Werke von Matthus und Beethoven.

Karina Canellakis | Foto: Mathias Bothor

Man hätte Karina Canellakis für ihr Debüt mit dem Gewandhausorchester sicherlich mehr Publikum gewünscht – eine wirkliche Überraschung ist der ziemlich leere Saal allerdings nicht. Zum einen sind die Anrechte für diese Spielzeit erneut ausgesetzt worden, wodurch viele Stammplätze unbelegt bleiben, zum anderen steht mit Siegfried Matthus‘ „Holofernes“ ein Werk auf dem Programm, das nicht unbedingt zum spontanen Kartenkauf animiert: Was den einen als verstaubte, politisch erwünschte Gebrauchsmusik gilt, ist für die anderen immer noch zu modern.  

Aus heutiger Sicht fällt es sicherlich leicht, Kompositionen wie den „Holofernes“ als Auftragskunst zu belächeln, die heute aus der Zeit gefallen wirkt und nur noch dann entstaubt wird, wenn es einen entsprechenden äußeren Anlass gibt – in diesem Fall die Feier des Jubiläums „40 Jahre Neues Gewandhaus“. Doch mit dieser herablassenden Haltung wird man weder dem Komponisten noch dem Werk gerecht. Wenn man sich unvoreingenommen auf Musik und Text einlässt, erhält man Denkanstöße, die heute nicht weniger aktuell sind als 1981. Beispielsweise hat der Gedanke, dass das Wissen um die eigene Endlichkeit dem Leben erst Sinn verleiht, in Zeiten der Erforschung ewigen Lebens nichts von seiner Aktualität verloren. Leider erschließen sich derartige Ideen vor allem denjenigen, die eifrig im Programmheft mitlesen; denn die expressive, teils an Berg, teils an Strawinsky erinnernde Musik des Orchesters deckt allzu oft die Gesangspartie zu. Dies ist nicht der bestens vorbereiteten Dirigentin Karina Canellakis, schon gar nicht dem stimmgewaltigen, ausdrucksstarken  Bariton Christoph Pohl anzulasten, sondern vor allem dem Komponisten, dessen Orchestersatz deutlich filigraner sein müsste, um der Singstimme den nötigen Raum zu geben. Wie Christoph Pohl den Größenwahn, aber auch die Verzweiflung des Holofernes darstellt, ist musikdramatische Gestaltungskunst auf höchstem Niveau – soweit man es denn hören kann …

Im zweiten Teil des Konzerts steht mit Beethovens „Eroica“ ein Werk auf dem Programm, zu dem eigentlich alles mehrfach gesagt scheint, das jedenfalls einer Dirigentin kaum die Chance gibt, sich bei ihrem Debüt zu profilieren. Zum Glück versucht Canellakis dies gar nicht erst. Ihr Beethoven ist eher klassisch als romantisch angelegt, nicht besonders revolutionär, dafür fein ausgehört und bis ins Detail stimmig. Dem Kopfsatz nimmt sie etwas von seiner Schärfe, den Trauermarsch hält sie stets im Fluss und das Scherzo hat man schon zupackender, aber kaum quirliger gehört. Wie Canellakis im Finale schließlich das Hauptthema organisch entstehen lässt und den prometheischen Taumel in die endlose Schlusskadenz steuert, ist gekonnt und lässt auf ein weiteres Konzert mit der agilen, völlig uneitlen Dirigentin hoffen. Dieser Beethoven ist nicht extrem im Ausdruck oder den Tempi, nicht prinzipiell neu in der Deutung, aber trotzdem – oder deswegen – einfach großartig.

Frank Sindermann

7. Oktober 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Karina Canellakis, Dirigentin
Christoph Pohl, Bariton

 

Raum und Zeit

Das Gewandhaus-Quartett und Bernd Glemser spielen Klavierquintette von Kochan und Brahms.

Wassily Kandinsky: Komposition VIII (1923)

Dass Musik als Kunstform nicht nur eine zeitliche, sondern ebenso eine räumliche Dimension besitzt, ist mir beim Hören von Günter Kochans Klavierquintett in der heutigen Kammermusik-Stunde des Gewandhaus-Quartetts einmal mehr bewusst geworden. Melodische Verläufe und ganz generell durch Metrum und Rhythmus definierte Prozesse spielen in Kochans spätem Gattungsbeitrag nur eine untergeordnete Rolle, das vor allem von ständigen Kontrasten zwischen Enge und Weite, zwischen klanglicher Zusammenballung und Entfaltung geprägt ist. 

Das Gewandhaus-Quartett hat das Klavierquintett vor etwa 20 Jahren selbst uraufgeführt und nutzt nun die Gelegenheit, es im Rahmen des „Fokus: 40 Jahre Neues Gewandhaus“ noch einmal ins Programm zu nehmen. Da es zu dem Werk kaum greifbare Informationen gibt – auch das Programmheft liefert nur biografische Notizen zum Komponisten – und auch die Noten nicht leicht greifbar sind, fühlt sich die heutige Aufführung zumindest für mich wie eine spannende Black Box an. Überraschend war sicherlich für einen Großteil des zahlreich anwesenden Publikums allein schon die Kürze der Komposition, deren vier Sätze zusammen keine Viertelstunde dauern. Allzu sehr bedauere ich dies allerdings offen gesagt nicht, denn ungeachtet mancher interessanter Klangeffekte und emotionaler Zuspitzungen finde ich keinen rechten Bezug zu dem Werk; vor allem irritiert mich, wie wenig Streichquartett und Klavier miteinander interagieren, wie viel Potenzial der Besetzung also ungenutzt bleibt.

Johannes Brahms spielt in fast jedem seiner Werke mit der zeitlichen Dimension der Musik. Was schon bei vermeintlich einfachen Kompositionen wie dem Wiegenlied „Guten Abend , gut‘ Nacht“ zu rhythmischen Verschiebungen zwischen Gesang und Klavierbegleitung führt, sorgt beim Hören der Sinfonien oder der Kammermusik bisweilen fast für eine Art metrischer Orientierungslosigkeit. Das Gewandhaus-Quartett und Pianist Bernd Glemser harmonieren bestens miteinander und meistern daher die zahlreichen derartigen Hürden – von einigen Unstimmigkeiten über das Tempo ganz zu Beginn abgesehen – mit bewundernswerter Souveränität. Sie spielen einen klanglich polierten, emotional bewegenden Brahms von geradezu klassischer Ausgewogenheit. Im ersten Satz fehlt es mir etwas an Leidenschaft, das Spiel wirkt streckenweise etwas zu routiniert (man vergleiche die zupackende Einspielung des Quatuor Ébène mit Akiko Yamamoto!), aber dies ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Die süße Melancholie des zweiten Satzes wird ebenso überzeugend dargestellt wie das unheimlich glühende Feuer des dritten – und spätestens im Finale geben die Musiker:innen dann auch ihre vornehme Zurückhaltung auf und bringen das Konzert zu einem effektvollen Abschluss.

Frank Sindermann

3. Oktober 2021
Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Gewandhaus-Quartett
Bernd Glemser, Klavier

Trennt euch nicht!

Mit Viktor Ullmanns selten gespielter Oper „Der Sturz des Antichrist“ eröffnet die Oper Leipzig ihre neue Spielzeit.

Der Sturz des Antichrist (Szenenfoto Oper Leipzig) | © Kirsten Nijhof

Theaterbesuche sind mehr als ein bloßer Zeitvertreib, lernen wir doch anhand des Bühnengeschehens so manches über uns selbst. So ist es vor allem die Motivation der handelnden Personen, die uns zur Identifikation oder zum Widerspruch anregt. Im Fall der Oper kommt zur literarischen Bedeutungsebene noch die musikalische Gestaltung, die den Text verstärken oder konterkarieren kann, die jedenfalls eine eigene emotionale Komponente beisteuert. Entscheidend für die Wirkung ist die Glaubhaftigkeit der Figuren. Die rasende Eifersucht Otellos, die finsteren Intrigen Jagos oder die engelsgleiche Unschuld Desdemonas wirken auf uns deshalb so stark, weil es sich um lebendig gestaltete Charaktere handelt, deren Handlungen psychologisch Sinn ergeben. 

In Albert Steffens Drama „Der Sturz des Antichrist“, das Viktor Ullmann für seine gleichnamige Oper wortgetreu vertonte, fehlen diese Menschen aus Fleisch und Blut, an deren Schicksalen wir Anteil nehmen könnten; stattdessen begegnen uns auf der Bühne personifizierte Prinzipien, die mehr diskutieren als handeln. Ein anthroposophisches Manifest als Textvorlage für eine Oper zu verwenden, ergibt ebenso wenig Sinn wie die Vertonung eines Parteiprogramms oder einer philosophischen Streitschrift. Dies sind schlichtweg nicht die Stoffe, aus denen überzeugendes Musiktheater entstehen kann. Dass die heutige Premiere an der Oper Leipzig trotzdem nicht zum Fiasko geraten ist, sondern sich ganz im Gegenteil sogar sehr gelohnt hat, liegt vor allem an drei Faktoren:

Zum ersten steuert Viktor Ullmanns Musik jene Emotionalität bei, die dem abstrakten Libretto fehlt. Zwischen spätromantisch schwelgenden Passagen in stark erweiterter Tonalität und expressiver Atonalität zeigt der Schönberg-Schüler ein breites Spektrum stilistischer Möglichkeiten, dem es zwar an Kohärenz mangelt, das aber sehr feinsinnig auf Situationen reagiert und wie eine zweite Beleuchtungsebene Schlaglichter setzt.

Zum zweiten haben Regisseur Balázs Kovalik und sein Team alles daran gesetzt, der statischen Vorlage möglichst viel Leben einzuhauchen. Das führt zwar dazu, dass die Bühnentechnik ein wenig zu oft bemüht und ein bisschen zu viel herumgelaufen wird, sorgt aber vor allem dafür, dass Dynamik ins Geschehen kommt, dass die Oper stets im Fluss bleibt und nicht an ihren bedeutungsschwangeren Monologen und Dialogen erstickt. 

Der dritte Grund für den Erfolg des Abends sind die Beteiligten auf der Bühne, die erkennbar alles dafür geben, dass die Aufführung ein Erfolg wird. Dies gilt vor allem für den großartigen Thomas Mohr, der wegen eines Unfalls im Rollstuhl sitzt und die sehr anspruchsvolle Partie des Regenten vom Bühnenrand aus dennoch mit unglaublicher Durchsetzungskraft singt. Seine Bühnenpräsenz ist so groß, dass man Regisseur Kovalik, der als stummes Double auf der schwebenden und schwankenden Plattform herumturnt, kaum wahrnimmt, sondern immer wieder zu Mohr schaut, der heute unfreiwillig das Klischee des an den Rollstuhl gefesselten Superschurken verkörpert. Stephan Rügamer spielt und singt die Wandlung des Künstlers von der zweifelnden, gequälten Seele hin zum selbstbewussten Wesen („Ich bin!“) sehr überzeugend, Dan Karlström und Kay Stiefermann liefern sich als Priester und Techniker ein packendes Gedanken-Duell um die Vorherrschaft von Geist oder Materie, und Sebastian Pilgrim verleiht dem Gefängniswärter eine geheimnisvolle Aura und menschliche Wärme. Stimmlich werden alle genannten Sänger ihren durchweg schwierigen Partien vollauf gerecht und auch der Chor füllt seine eher kleine Rolle überzeugend aus. 

Viele entscheidende Momente der Oper spielen sich im Orchestergraben ab – und das Hinhören lohnt sich am heutigen Abend allemal: Das Gewandhausorchester lässt sein gesamtes Spektrum  an Klangfarben aufleuchten und spielt die ungewohnte und komplexe Partitur fast wie selbstverständlich. Dies ist nicht zuletzt der souveränen Leitung Matthias Foremnys zu danken, der Ullmanns Musik ein denkbar guter Anwalt ist.

Das Publikum bedankt sich am Ende mit ungeteiltem Jubel für einen szenisch, schauspielerisch und musikalisch sehr gelungenen Opernabend. Und doch bleibt abschließend die Frage: Haben wir es bei dieser Oper mit einer verschwurbelten Philosophie-Abhandlung zu tun, die nur deshalb auf dem Spielplan steht, weil man es dem in Auschwitz ermordeten Komponisten moralisch schuldig ist? Ich denke nicht. Zum einen ist Ullmanns Musik ungeachtet des problematischen Sujets hörenswert, zum anderen enthält auch der Text bei allem Wortgeklingel durchaus Ideen, über die man nachdenken kann und sollte. Vor allem der Kampf zwischen Glaubensüberzeugungen und Wissenschaft bzw. Technik führt bis heute immer wieder zu Konflikten, wie nicht zuletzt die Corona-Pandemie eindrücklich aufzeigt. Zeitlos ist daher auch der Appell des Künstlers an die beiden widerstrebenden Prinzipien, der am Ende eingeblendet wird: „Der Menschheit wegen, Brüder, trennt euch nicht!“ Dass die Kunst als Brückenbauerin dazu einen wesentlichen Beitrag leisten könnte, gehört zu den wichtigen Erkenntnissen dieses Abends.

Frank Sindermann

25. Sptember 2021
Oper Leipzig

Viktor Ullmann: „Der Sturz des Antichrist“
Weitere Aufführungen: 1./10./17.10.2021

 

Anspruchsvoller Auftakt

Das Gewandhausorchester eröffnet seine 241. Saison mit Werken von Gubaidulina und Rachmaninoff.

Sofia Gubaidulina, 1981 (Detail) | © Dmitri N. Smirnov (Lizenz: CC BY 2.5)

Mit fast 90 Jahren ist Sofia Gubaidulina noch immer eine Visionärin, die mit musikalischen Mitteln den letzten Dingen nachspürt. In ihrem Tripelkonzert für Violine, Violoncello, Bajan und Orchester, uraufgeführt 2017 in Boston, nimmt sie die Dreierbesetzung zum Anlass, „Drei-heiten“ auf unterschiedlichsten musikalischen Ebenen zu untersuchen; vom fundamentalen harmonischen Prinzip des Dreiklangs bis zur dreiteiligen Form des Konzerts reichen die Bezüge zur Zahl drei, welche am Ende auf die göttliche Trinität verweisen. Somit ist dieses Werk wie viele andere der Komponistin Ausdruck tiefer Religiosität, wenn auch weniger offensichtlich als das „Offertorium“ oder die „Sieben Worte“.

Entgegen der gewählten Gattungsbezeichnung nimmt Gubaidulina das konzertante Element im Tripelkonzert sehr zurück. Kaum einmal spielen die Solist:innen zusammen, über weite Strecken agieren sie eher nach- als miteinander. Gleichzeitig bietet das Werk nur wenig Raum für virtuose Selbstdarstellung. Dass die Solopartien dennoch alles andere als nebensächlich wirken, liegt vor allem an den hervorragenden Solist:innen. Anders als Martynas Levickis, der heute aus unerfindlichen Gründen Akkordeon statt Bajan spielt, waren Baiba Skride (Violine) und Harriet Krijgh (Violoncello) bereits an der Uraufführung beteiligt, und man merkt ihnen an, dass ihnen das Konzert ebenso viel bedeutet wie dem Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, der es mit ihnen gemeinsam aus der Taufe gehoben hat.

Als Eröffnungsstück stellt das Werk nicht nur für die Musiker:innen eine Herausforderung dar: Der tiefe Ernst der Komposition, die Strenge, mit der die eher abstrakten Prämissen durchexerziert werden, und das Fehlen leicht fasslicher melodischer Gestalten erfordern vom Publikum große Konzentration. Dieses bedankt sich am Ende mit freundlichem Applaus, der zwar keine Begeisterung ausdrückt, wohl aber Respekt vor einer Komponistin, die auch im hohen Alter unbeirrt sagt, was sie sagen muss. Ihr zuzuhören, lohnt jede Mühe.

Rachmaninoffs 2. Sinfonie schließt sich nach der Pause überraschend gut an, obwohl sie mehr als ein Jahrhundert vor Gubaidulinas Tripelkonzert entstanden ist. Wie nur wenige weitere Werke des Komponisten belegt diese Sinfonie den hohen satztechnischen Anspruch einer Musik, die allzu oft auf schöne, um nicht zu sagen: kitschige Melodien reduziert wurde und immer noch wird. Leider wird Andris Nelsons der hohen Komplexität der Sinfonie heute nicht vollauf gerecht. Während der Kopfsatz unter rhythmischen Unstimmigkeiten und einer suboptimalen Klangbalance leidet, gewinnt die Aufführung dann zwar von Satz zu Satz deutlich an Qualität; insgesamt vermisse ich aber immer wieder den langen Atem, der die wunderbaren Einzelbeiträge des Orchesters zum großen Ganzen verwöbe. Nichts wirkt hier logisch zwingend, die Steigerungswellen entfalten kaum Sogwirkung, das Timing ist oft nicht auf den Punkt. Mitunter gerät der musikalische Zusammenhalt sogar fast ins Wanken, wie etwa kurz nach der langen Generalpause im Adagio. Dass die Aufführung trotzdem hörenswert ist, liegt vor allem an der großen Spielfreude aller Beteiligten, an den hervorragenden Soli – nicht nur der Klarinette! – und natürlich dem unnachahmlichen Klang des Gewandhausorchesters, der zu Rachmaninoff perfekt passt und anscheinend kaum unter der Corona-Zwangspause gelitten hat. Nelsons weiß dies und kostet es in vollen Zügen aus; dass diese Musik aber weit mehr ist als eine Aneinanderreihung schwelgerischer Klänge, wird heute leider nur selten hörbar.

Der begeisterte Applaus am Ende des Konzerts ist sicherlich nicht nur dem effektvollen Schluss der Sinfonie geschuldet, sondern auch Ausdruck der Freude darüber, dass Veranstaltungen wie diese nun endlich wieder möglich sind. Hoffen wir, dass dies möglichst lange so bleibt.

Frank Sindermann

17. September 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Baiba Skride, Violine
Harriet Krijgh, Violoncello
Martynas Levickis, Akkordeon