Fokus Böhmen: Smetana

Alan Gilbert dirigiert Smetana für Groß und Klein; Malte Arkona liest aus dem Tagebuch von Friedrich Sahne und hört ein Fagott schnarchen.

Mündung der Moldau © Hans Weingartz

Wenn in einem einzigen Konzertprogramm auf musikalische Weise von prächtigen Burgen, tanzenden Nixen, reißenden Stromschnellen, kriegerischen Amazonen, schnarchenden Rittern, Feldern und Wäldern sowie den Hussitenkriegen erzählt wird, dann steht ganz eindeutig Bedřich Smetanas Tondichtung „Má Vlast“ auf dem Programm. Während die unverwüstliche „Moldau“ nach wie vor regelmäßig gespielt wird, sind die übrigen fünf sinfonischen Dichtungen des Zyklus hierzulande eher selten zu hören. Im Rahmen des Saisonschwerpunkts „Fokus Böhmen“ erklingt das gesamte Werk nun erstmals seit zehn Jahren im Gewandhaus.

Alan Gilbert ist kein Dirigent der Extreme. Statt den durchaus vorhandenen kitschigen und pathetischen Zügen der Musik allzu sehr nachzugeben, sucht er inmitten von Triangel-Gebimmel und Paukenschlägen erfolgreich nach den feineren musikalischen Details und demonstriert auf diese Weise eindrucksvoll Smetanas melodischen Erfindungsreichtum, vor allem aber seine große Instrumentationskunst. Vom geheimnisvollen „Es war einmal“ der Harfe im eröffnenden „Vyšehrad“ bis zum Siegestaumel am Schluss von „Blaník“ spannt Gilbert einen überzeugenden dramaturgischen Bogen, der die vielfältigen Eindrücke und emotionalen Kontraste mühelos zusammenhält. 

Das Gewandhausorchester ist stilistisch in dieser Musik zu Hause und das merkt man ihm auch durchweg an. Angesichts der zahlreichen Solopassagen und Herausforderungen für nahezu alle Instrumente fällt es schwer, die Leistung der Musiker_innen individuell zu würdigen; stellvertretend seien hier die grandiosen Holzbläser genannt, die nicht nur zu Beginn der „Moldau“ virtuos die Quellen sprudeln lassen (Flöte, Klarinette), sondern auch den Gesang eines Hirtenjungen in „Blaník“ (Oboe, Klarinette) oder das Schnarchen des Prinzen Ctirad in „Šárka“ kongenial zum Leben erwecken.

Auch im Familienkonzert am Samstag Nachmittag geht es dann um jenes Schnarchen, das sich Moderator Malte Arkona erst einmal vom Fagottisten Eckehard Kupke einzeln vorspielen lässt. Im Wanderoutfit führt Arkona die Kinder und Erwachsenen durch die böhmische Landschaft und erzählt etwas über den Komponisten und sein Werk. Die immer wieder eingestreuten launigen Bemerkungen bereiten dabei nicht nur den Kindern Spaß: So bezeichnet er die Streichergruppe mal als Streichelzoo, mal als Streichelorchester, sinniert über die Vorteile der 2. Violine, falls man die erste einmal verlegt habe, wundert sich darüber, dass man mit Holzblasen Geld verdienen könne und erzählt, dass Smetanas Name übersetzt „Sahne“ bedeute.

Die Kinder lauschen von ihren eigens ausgegebenen Sitzerhöhungen aus gebannt und sind auch während der Musikdarbietungen recht konzentriert bei der Sache. Manche setzen die selbst gebastelten blickdichten Hörbrillen auf, um sich nicht durch die Augen ablenken zu lassen, andere dirigieren hingegen fleißig mit.

Als Ort zum Staunen und Entdecken zeigt sich das Gewandhaus bereits vor dem eigentlichen Konzert, indem es den großen und kleinen Besucher_innen die Möglichkeit bietet, Instrumente selbst auszuprobieren oder die Bastelstation zu besuchen und sich so das imposante Gebäude auf spielerische Art zu erschließen. 

Das Programmheft mit seinen Rätseln und Illustrationen lädt dazu ein, sich auch nach dem Konzert weiter mit Smetana und seinem Werk zu beschäftigen. An einer Stelle ist zu lesen: „Smetana heißt übersetzt »Sahne«, erste Sahne klingt auch seine Musik.“ Dies stimmt natürlich und gilt vor allem, wenn sie so gut gespielt und so liebevoll vermittelt wird wie in den Großen Concerten dieser Woche.

Frank Sindermann

22./24. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Malte Arkona, Moderation (24.11.)


Fokus Böhmen: Dvořák

Alan Gilbert und das Gewandhausorchester beschwören eine Hexe und tanzen Furiant; Truls Mørk spielt die Mutter aller Cellokonzerte.

Truls Mørk © Johs Boe

Große Gesten sind seine Sache nicht, weder im Auftreten, noch in der Musik; entsprechend vermeidet Truls Mørk in Dvořáks Cellokonzert emotionale Extreme. Was er dadurch der Dramatik des Konzerts, insbesondere des Kopfsatzes, schuldig bleibt, gleicht er durch sein einfühlsames, klangsinnliches Spiel mehr als aus. Die weit ausschwingenden melodischen Linien lassen staunend erleben, wieviel Musik auf einen einzigen Bogenstrich passt. Minutiös befolgt Mørk auch noch die unscheinbarsten Vorgaben des Komponisten, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen.

Dies trifft auf das Gewandhausorchester leider nicht in gleichem Maße zu, das vor allem im dynamischen Bereich allzu ungenau spielt und das Cello mehr als einmal fast überdeckt. Auch manche Soli, z. B. der Querflöte, klingen viel lauter als vorgeschrieben und treten teils zu stark hervor. Diese Tendenz zur mangelnden klanglichen Differenzierung ist auch schon bei Konzertbeginn zu erleben. Dirigent Alan Gilbert holt das Maximum an Wirkung aus Dořáks musikalisch gewagter, dabei aber auch arg plakativer „Mittagshexe“ heraus und interpretiert das tschechische Schauermärchen als mitreißenden Psychothriller – allein: Nicht selten gerät im Eifer des Gefechts die Klangbalance aus dem Gleichgewicht. Vielleicht verlange ich zuviel, vielleicht reicht für manche Details auch schlicht die Probenzeit nicht?

Andererseits erweist sich nach der Pause Dvořáks sechste Sinfonie als Musterbeispiel an Orchesterkultur und zeigt, dass es auch deutlich besser geht. Die von Anfang bis Ende spürbare Spielfreude, das musikantische Feuer, das nicht nur im Furiant entfacht wird, gehen hier zum Glück nicht zulasten der musikalischen Feinarbeit, sondern stiften jene Einheit von stimmigem Gesamtbild und klarem Detail, die ich im ersten Konzertteil noch etwas vermisst habe. 

Frank Sindermann

15. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Truls Mørk, Violoncello

Trallali, trallaley

Matthias Goerne singt im Großen Concert Lieder von Gustav Mahler; Neeme Järvi unternimmt einen Ausflug in deprimierende musikalische Landschaften.

Matthias Goerne – Foto: Caroline de Bon

Das Programm des heutigen Großen Concerts ähnelt ein wenig jenen Opern-Doppelabenden, an denen jeweils zwei kürzere Einakter kombiniert werden, die außer ihrer Spieldauer oft wenig gemeinsam haben. Auch die Bezüge zwischen Gustav Mahlers Wunderhorn-Liedern und Schostakowitsch’ letzter Sinfonie sind derart allgemein, dass man den Teil vor und nach der Pause getrost als getrennte Konzerte verstehen kann.

Die emotionale Bandbreite der ausgewählten Wunderhorn-Lieder reicht von verliebter Schwärmerei bis zu dunkler Todesangst und erfordert ein rasches Umschalten des Sängers, Matthias Goerne ist nicht ohne Grund einer der gefragtesten Liedinterpreten unserer Tage und beherrscht die Klaviatur menschlicher Gefühle virtuos. Vom sehnsuchtsvollen „Urlicht“ bis zum gespenstisch-fatalistischen „Tamboug’sell“ und dem verzweifelten „Trallali, trallaley“ des Soldaten in „Revelge“ trifft Goerne so gut wie immer die richtige Stimmung; nur in der „Fischpredigt“ vermisse ich etwas den spöttischen Humor, der dieses Lied so großartig macht. Und das „Rheinlegendchen“ passt für mich generell eher zu einer Frauenstimme, hätte aber vor allem mehr nach Volkslied klingen dürfen.

Goernes unverwechselbarer Bariton tönt warm und dunkel wie eh und je, wenn auch nicht mehr ganz so flexibel und unangestrengt wie früher. Durch sein recht starkes Vibrato leidet bedauerlicherweise mitunter die Textverständlichkeit, vor allem in der tiefen Lage. Daran trägt auch das Gewandhausorchester unter Neeme Järvi eine gewisse Schuld, das zwar differenziert und klangschön (Solovioline!), aber leider oft etwas zu laut musiziert.  Besonders stark ist Goerne in den kantablen Passagen, denen er mit seinem samtenen Bariton einen warmen Glanz verleiht und so Momente berührender Schönheit erschafft.

Mit Schönheit hat Schostakowitsch’ 15. und letzte Sinfonie nicht mehr viel am Hut. Ausgelaugt, hohl und leer wirkt die Musik über weite Strecken, wie eine Zugfahrt durch öde Landschaften und wird dadurch zum bewegenden, aber auch deprimierenden Zeugnis eines Mannes, der den Tod vor Augen hat. Mein persönliches Problem: So ergreifend die Umstände der Entstehung auch sein mögen, wird die Musik dadurch trotzdem nicht besser. Es mag ja sein, dass Stalin Rossinis „Tell“-Ouvertüre gern mochte; sie im Jahr 1971 als Zitat in den ersten Satz einer Sinfonie einzufügen, ergibt aber musikalisch trotzdem keinen Sinn. Da kann das Orchester noch so präzise spielen, Järvi ein noch so großer Kenner dieser Musik sein – auf mich wirkt sie wie ein gequälter letzter, leider letztlich misslungener, Versuch. Am eindringlichsten wirkt noch der Schluss: Nach und nach verstummt das Orchester, bis nur noch Liegetöne der Streicher und ein im Leerlauf klapperndes Schlagwerk zurückbleiben. Als sei schlicht der Strom abgeschaltet worden, kommt schließlich auch dieser letzte Rest Musik zum Stillstand. Der Rest ist Schweigen.

Frank Sindermann

8. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Neeme Järvi, Dirigent
Matthias Goerne, Bariton

Die traurigste Musik

Das Orchestre national de Lyon gastiert unter Leonard Slatkin im Gewandhaus und erinnert an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren.

Leonard Slatkin © Cindy McTee

Samuel Barbers „Adagio for Strings“ ist in Amerika beinahe Pflichtprogramm, wenn um berühmte Persönlichkeiten getrauert oder an Krieg und Terror erinnert wird. Es erklang bei den Beerdigungen John F. Kennedys, Grace Kellys und Albert Einsteins ebenso wie in den Filmen „Platoon“ oder „Der Soldat James Ryan“. Dies ist naheliegend und verständlich und bringt doch einen bedauerlichen Effekt mit sich: Jenes wunderschön traurige Streicherstück ist inzwischen vollkommen funktionalisiert und damit zur musikalischen Untermalung geworden. Wo immer es erklingt, muss davon ausgegangen werden, dass es einen wichtigen außermusikalischen Grund gibt, der die jeweilige Aufführung legitimiert.

Dies ist schade, denn das Adagio kann durchaus für sich stehen; sein Schmerz und seine Traurigkeit können beim Hören mit ganz eigenen Assoziationen verknüpft werden; auch kann die Musik rein ästhetisch gehört werden. Dies bietet sich heute Abend besonders an, denn Leonard Slatkin und das Orchestre national de Lyon musizieren überaus subtil und klangschön. Mit sparsamen Gesten leitet Slatkin das Streichorchester, das fast zu einem Instrument verschmilzt. Wie die Musik fast unmerklich anhebt, sich suggestiv steigert und schließlich verlischt, ist schlicht bewundernswert. 

Mit Rachmaninoffs Klavierkonzerten konnte ich persönlich nie viel anfangen, woran auch die heutige Aufführung nichts ändert. Rhythmische Ungenauigkeiten und ein teils zu lautes Orchester im ersten und dritten Satz und das etwas ziellose Auf und Ab zwischen Anspannung und Kontemplation ergeben ein unruhiges, unscharfes Bild. Khatia Buniatishvilis Spiel ist technisch zwar nicht über jeden Zweifel erhaben, dafür aber durchaus originell, wenn auch manchmal etwas gewollt. Am meisten überzeugt mich der Mittelsatz. Was Buniatishvili und die Musiker_innen des Lyoner Orchesters dem abgenudelten Schmachtfetzen an lyrischen Feinheiten entlocken, überrascht und erfreut zugleich. Als Zugabe spielt Khatia Buniatishvili eine Klavierfassung der Bachschen Arie „Schafe können sicher weiden“; mich berührt sie damit mehr als im ganzen Rachmaninoff zuvor.

Im zweiten Teil des Konzerts stehen Werke Ravels und Debussys auf dem Programm, die dem Orchester viele Möglichkeiten bieten, seine Klasse unter Beweis zu stellen. Vom flirrenden Holzbläser-Beginn des „Tombeau de Couperin“ bis zum letzten Aufbranden des Meeres in „La Mer“ zeigt sich in jedem Takt, wie vertraut das Orchester mit dieser Musik ist. Leonard Slatkin entlockt den Lyonern wahre Zauberklänge und lässt hoffen, dass dieser Besuch in Leipzig sich möglichst bald wiederholen möge.

Frank Sindermann

6. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Orchestre national de Lyon
Leonard Slatkin, Dirigent
Khatia Buniatishvili, Klavier


Ein Requiem zum Jubiläum

Jaap van Zweden dirigiert im Gewandhaus die wohl unpassendste Geburtstagsmusik aller Zeiten sowie Werke von Mozart und Beethoven in c-Moll.

David Fray (c) Paulo Roversi (von IMG Artists)

So hatten sich das die japanischen Auftraggeber ganz und gar nicht vorgestellt: Statt zum 2600-jährigen Bestehen der Mikado-Dynastie eine prächtige Festmusik zu komponieren, lieferte Benjamin Britten ihnen ausgerechnet ein sinfonisches Requiem, das er auch noch seinen eigenen Eltern widmete. Dass dieser Beitrag damals nicht gespielt wurde, überrascht nicht; dass die Sinfonia da Requiem seither zu einem der beliebtesten Werke des britischen Komponisten wurde, allerdings ebensowenig: Selten sind Trauer, Zorn und Trost so ergreifend in Musik gefasst worden. Jaap van Zweden vermittelt den Stimmungsgehalt sehr überzeugend und legt gleichzeitig eine Sorgfalt im Detail an den Tag, die andere Dirigenten bei diesem Werk mitunter vermissen lassen. Ein Beispiel: Oft werden die erschreckenden Eröffnungstakte der Sinfonia bereits extrem laut gespielt, sodass ich im heutigen Konzert zunächst fast ein wenig enttäuscht bin und mich frage, ob hier nicht ausdrucksmäßig noch etwas Luft nach oben wäre. Ein Blick in die Partitur verrät allerdings, dass Britten am Anfang „ff“ vorschreibt, bei der Reprise hingegen „fff“, diese also noch lauter gespielt haben möchte. Und tatsächlich: Bei der Wiederkehr der pochenden Anfangstakte steigert van Zweden die Lautstärke noch einmal signifikant.

Diese Aufmerksamkeit fürs Detail zeichnet auch die zwei anderen Aufführungen des Abends aus, allerdings kommen diese interpretatorisch eher altbacken daher und überzeugen mich nur halb. Dies gilt vor allem für Mozarts dramatisches c-Moll-Konzert, das viel zu harmlos angegangen wird. Dies wird vor allem im Vergleich zur Lesart Alexander Shelleys deutlich, der dieses Konzert am selben Ort vor zwei Wochen dirigiert hat und mit dem MDR-Sinfonieorchester eine im Detail weniger perfekte, emotional aber um Längen mitreißendere, frischere Version präsentiert hat. Auch David Frays Spiel überzeugt mich weniger als dasjenige Gabriela Monteros, die noch klarer, vor allem aber engagierter gespielt hat. Technisch gibt es bei Fray nichts zu beanstanden – ganz im Gegenteil – und stilistisch haben er und das Gewandhausorchester sich auch nichts vorzuwerfen – und dennoch: Mehr als aufpolierter Durchschnitt, als gepflegte Langeweile entsteht heute leider nicht.

Frays Zugabe, Bachs Choralvorspiel über „Nun komm der Heiden Heiland“ in der Busoni-Fassung, ist wunderbar differenziert gespielt. Fray arbeitet die einzelnen Register derart prägnant heraus, dass man meint, eine Orgel oder ein Kammerensemble zu hören.

Nach der Pause folgt dann Beethovens Fünfte, deren ersten Satz van Zweden eher zügig angeht. Das Orchester braucht einige Takte, um in den Tritt zu kommen, folgt dann aber präzise den differenzierten Gesten des Dirigenten, der energiegeladen den vollen Aktionsradius des Podiums ausschöpft. Trotzdem bleibt dieser Satz ein wenig blass und gerät zum ausdrucksmäßig etwas langweiligen Kompromiss zwischen romantischem Drängen und klassischer Beherrschung. Das Andante ist hingegen unbedingt hörenswert. Mit viel Liebe zum Detail und dem nötigen langen Atem wird dieser Satz zum Höhepunkt der Aufführung. Auch das geheimnisvoll-skurrile Scherzo und der triumphale Schlusssatz reißen mit und entfalten einen Sog, der sogar die schier endlosen Schlussfloskeln übersteht. Dass der erlösende Schlussakkord dann noch klanglich extra aufgebrezelt wird, sei um der Wirkung willen verziehen.

Frank Sindermann

25. Oktober 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Jaap van Zweden, Dirigent
David Fray, Klavier