Pianissimo

Igor Levit spielt Beethovens c-Moll-Konzert eher poetisch als rebellisch, Herbert Blomstedt hält ein Plädoyer für Wilhelm Stenhammar.

Wilhelm Stenhammar | public domain

Für mich beginnt das Konzertvergnügen im Gewandhaus oft bereits mit Ann-Katrin Zimmermanns Programmheft-Texten, die sich neben der Fülle an sachlichen Informationen vor allem durch ihre kreative und bildhafte Sprache auszeichnen. Dass Zimmermann in ihrer offensichtlichen und ansteckenden Begeisterung für die Musik und ihre Vermittlung bisweilen etwas über das Ziel hinausschießt und auch vor Kitsch und Pathos nicht immer zurückschreckt, ändert nichts daran, dass ihre Texte mir wirklich Freude machen.

Im heutigen Konzert muss ich allerdings etwas schmunzeln, da der russische Pianist Igor Levit Beethovens c-Moll-Konzert völlig anders interpretiert, als Zimmermanns Programmheftbeitrag vermuten ließe. Liest sich ihr Text wie ein Thriller, in dem Klavier und Pauke ein Duell auf Leben und Tod ausfechten, betont Levit eher die poetische Seite dieses wundervollen Werks und stößt vor allem im langsamen Satz an die Grenzen des Unhörbaren vor. Auch das Gewandhausorchester unter Leitung seines Ehrendirigenten Herbert Blomstedt spielt ein derart feines, klangvolles Pianissimo, dass mir die Tränen kommen. Es ist jener Mut zum wirklich leisen Spiel, den ich oft vermisse. Lieber ein paar verunglückte Horn-Töne am Ende eines traumhaft schönen Largos als durchgängiges Mezzoforte-Einerlei. Großartig!

Die Rahmensätze gelingen nicht minder gut; vor allem erfreut mich Levits sehr genaue Artikulation und Phrasierung, bei der kein Ton dem Zufall überlassen bleibt. Dass der musikalische Fluss bei aller Detailarbeit immer erhalten bleibt, unterscheidet Levit von Pianisten à la András Schiff, deren mikroskopische Tontüftelei das Gesamtbild manchmal etwas starr werden lässt. Herbert Blomstedt gehört aktuell für mich zu den bedeutendsten Beethoven-Dirigenten überhaupt. Größtmögliche Texttreue verbindet sich bei ihm mit einem frischen, beinahe jugendlichen, Zugriff zu einer mustergültigen Darstellung des „klassischen“ Beethoven, der vielleicht manchmal etwas zu harmlos, niemals aber belanglos wirkt.

Im zweiten Teil des Konzerts dirigert Blomstedt die 1915 vollendete zweite Sinfonie seines schwedischen Landsmanns Wilhelm Stenhammar, die hierzulande kaum gespielt wird. So ungerecht und willkürlich dies zunächst erscheinen mag, so nachvollziehbar ist es angesichts der immensen Komplexität des Werkes, die man beim ersten Hören nicht einmal ansatzweise erfassen kann. Auch ich verspüre heute – trotz intensiver Vorbereitung mit Partitur und Tonträgern – hin und wieder ein Gefühl leichter Überforderung. Ein Problem habe ich damit vor allem deshalb, weil die satztechnischen Kunstgriffe mitunter etwas zu vordergründig wirken und nicht durch eingängige Melodik oder dergleichen wirkungsvoll eingebunden sind. An Brahms bewundere ich am meisten seine Fähigkeit, selbst komplizierteste musikalische Verläufe so zu „verpacken“, dass man die Musik auch genießen kann, ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, was eigentlich musikalisch passiert. Diese publikumswirksame Oberfläche fehlt Stenhammars Sinfonie ein wenig, was sie meines Erachtens auch von den Sinfonien des von ihm bewunderten Jean Sibelius unterscheidet.

Ich danke Herbert Blomstedt, dass er das Gewandhauspublikum auf dieses bemerkenswerte Werk aufmerksam gemacht hat; meine Bewunderung beschränkt sich aber (noch) auf dessen intellektuelle Qualität, während es mich emotional eher unberührt lässt. Dies mag auch mit Blomstedts eher ruhigem, analytischem Dirigat zu tun haben, liegt aber wohl auch im Werk selbst begründet. Vielleicht muss die Sinfonie – oder ich – noch einige Jahre reifen, bevor sich zu meiner Bewunderung Begeisterung gesellt.

Frank Sindermann

28. März 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent
Igor Levit, Klavier

Musikalische Zauberei

Louis Langrée dirigiert Werke von Dukas, Jongen und Franck. Sie kennen Joseph Jongen noch nicht? Dann wird es höchste Zeit!

Louis Langrée © Benoit Linero

Joseph Jongens „Symphonie concertante“ für Orgel und Orchester ist für mich persönlich die Neuentdeckung des Jahres. Originell, abwechslungsreich und stilistisch vielgestaltig zeigt sich jenes Werk, das der Belgier Jongen in den Jahren 1926/27 ursprünglich für eine riesige Kaufhausorgel in Philadelphia komponierte. Die enorme Virtuosität des Orgelparts ist vor diesem Hintergrund durchaus verständlich, ging es doch darum, die erweiterte Orgel möglichst effektvoll in Szene zu setzen. Dass Jongen damit den kompositorischen Anspruch trotzdem nicht über Bord geworfen hat, zeigt sich schon in den streng fugierten Eröffnungstakten. Auch darf die Orgel zwar immer wieder solistisch brillieren, wird aber meistens in den Orchestersatz integriert.

Gewandhausorganist Michael Schönheit erweist sich als wahrer Tasten- und Pedalzauberer, der nicht nur die technischen Herausforderungen souverän meistert (in manchen Fällen allerdings auch souverän umschifft), sondern vor allem die musikalischen Verläufe plausibel gestaltet. Dabei wird er dem feierlichen Ernst des ersten Satzes ebenso gerecht wie der vertrackten Rhythmik und Metrik des zweiten oder dem zarten Klangaquarell des dritten. In rasanten Perpetuum mobile der abschließenden Toccata zündet Michael Schönheit dann schließlich ein wahres Feuerwerk der Virtuosität, das einfach nur Spaß macht. Bravo!

Dass auch das Gewandhausorchester heute Abend in Topform ist, hat es bereits in Dukas‘ unverwüstlichem „Zauberlehrling“ bewiesen, der wohl auch dafür gesorgt haben dürfte, dass im Saal nicht noch mehr Sitze frei geblieben sind. Unter der zurückhaltenden, äußerlich eher unspektakulären Leitung des Gastdirigenten Louis Langrée bleibt das Orchester dem Klassik-Evergreen nichts schuldig und verzaubert mit großem Spielwitz und wunderbar getimten Einsätzen. Besonders gut gefällt mir heute jene Stelle, an der Kontrafagott und Bassklarinette kauzig schnarrend die Besen wieder auferstehen lassen. Auch die geheimnisvoll magische Atmosphäre des Beginns ist wunderbar getroffen.

Als drittes Werk steht heute César Francks D-Moll-Sinfonie auf dem Pogramm. Dass Louis Langrée dieses komplexe Werk auswendig dirigiert, zeigt seine Vertrautheit mit dieser Musik; davon wiederum profitiert die Aufführung ungemein. Selten habe ich den Kopfsatz zugleich so melodisch fließend und klanglich differenziert gehört; leider sind manche dynamischen Steigerungen etwas unausgewogen und erreichen ihren jeweiligen Höhepunkt zu früh, was das eigentliche Ziel der Entwicklung etwas seiner Wirkung beraubt. Der überaus kunstvoll angelegte Mittelsatz mit seinem berührenden Englischhorn-Solo lässt keinerlei Wünsche offen. Im festlichen Finalsatz gehen Klangzauber und musikalische Logik eine perfekte Symbiose ein und bilden so den gelungenen Abschluss eines in jeder Hinsicht bereichernden Konzerts. Eines frage ich mich jedoch am Ende: Kann man von Chromatik träumen? Ich werde es herausfinden.

Frank Sindermann

7. März 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Louis Langrée, Dirigent
Michael Schönheit, Orgel