Das Gewandhausorchester eröffnet die 240. Saison coronabedingt mit einem reinen Beethoven-Programm.
Es ist ein wirklich schönes Gefühl, nach Monaten der Corona-Unterbrechung wieder ein Konzert des Gewandhausorchesters im Großen Saal erleben zu können. Das „Sommerfestival“ im Mendelssohn-Saal war zwar ein gut gemeintes und gut gemachtes Trostpflaster, doch erst heute habe ich das Gefühl, dass es wieder „richtig“ losgeht. Zur Eröffnung der 240. Saison sind die Musikerinnen und Musiker jedenfalls hoch motiviert, das Podium frisch renoviert und auf dem Programm stehen Dauerbrenner von der Best-of-Klassik-Playlist, die eigentlich immer gefallen. Als Solist gibt Krystian Zimerman sein lang ersehntes Gewandhaus-Debüt, nachdem er hier bereits im vergangenen Jahr mit einem Klavierabend für Begeisterung gesorgt hat (https://brahmsianer.de/keine-frage-des-alters). Herz, was begehrst du mehr?
Nach freundlichen Worten des Gewandhausdirektors und des Orchestervorstands beginnt das Konzert mit Beethovens Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“, die vor allem daran krankt, dass der Komponist sie als multifunktionales Gebrauchsstück konzipiert hat, das neben seiner ursprünglichen Bestimmung auch zu weiteren Anlässen spielbar sein sollte. Herausgekommen ist entsprechend „irgendein“ Eröffnungsstück, das irgendwie zu jeder Einweihung passt, sei es ein neues Konzerthaus oder ein neues Podium für dasselbe. Das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons spielt engagiert, was das Stück für mich persönlich aber auch nicht interessanter macht. Dass eine der wenigen charakteristischen Stellen, nämlich die virtuosen Begleitfiguren im Fagott, klanglich zugedeckt werden, ist da umso bedauerlicher.
Musikalisch ungleich interessanter wird es in Beethovens drittem Klavierkonzert. Leider wird Solist Krystian Zimerman den hohen Erwartungen nicht in jenem Maß gerecht, das man von ihm erwarten konnte: Technische Ungenauigkeiten und eine undifferenzierte Artikulation trüben den Genuss leider erheblich. Im ersten Satz, den Nelsons relativ schnell angeht, wirkt Zimermans Spiel mitunter kurzatmig und eher gehetzt als souverän, im Schlusssatz setzt er das rechte Pedal allzu oft als Verschleierungswerkzeug ein. Welch großartiger Pianist Zimerman eigentlich ist, scheint vor allem im lyrischen Mittelsatz auf, der mich aber trotzdem bei weitem nicht so berührt wie die in jeder Hinsicht herausragende Aufführung im letzten Jahr mit Igor Levit und Herbert Blomstedt (https://brahmsianer.de/pianissimo). Dies liegt auch an Nelsons, der das überreiche Potenzial der Musik und des Gewandhausorchesters an diesem Abend nicht ansatzweise ausschöpft. Wie ein Künstler, der ratlos vor den schönsten und hochwertigsten Farben und Pinseln steht und nicht weiß, was er damit überhaupt malen soll, liefert Nelsons routiniert die Partitur ab, ohne besondere eigene Akzente zu setzen. Malen nach Zahlen ist aber für ein solches Orchester zu wenig, auch – oder erst recht – wenn das Bild von Beethoven stammt.
In der fünften Sinfonie sieht es kaum anders aus: Das Orchester zeigt sich von seiner besten Seite, der Dirigent fällt eher durch das hektische Umblättern der Partitur auf (bei Beethoven 5!), als dass er durch mitreißende Ideen aufhorchen ließe. Da kann die Oboe im ersten Satz noch so gefühlvoll ihr Solo spielen, können im zweiten Satz die Trompeten um die Wette strahlen – es wird kein kohärentes Ganzes daraus. Erwartet man nach den (zu?) schnellen Eröffnungstakten des Kopfsatzes noch, es mit einer rasanten, dynamischen Interpretation zu tun zu bekommen, verliert sich dieser Impetus sofort danach wieder. Und der Finalsatz vermeidet zwar durch sein schnelles Tempo hohles Pathos, ohne dass aber etwas anderes an dessen Stelle träte. Ich verstehe einfach nicht, worauf Nelsons mit dieser Fünften hinaus will, und das ist sehr bedauerlich, ist sie doch an allen Pulten glänzend gespielt. Bleibt abzuwarten, was Herbert Blomstedt dem Orchester in den nächsten Großen Concerten zu entlocken vermag.
Auch wenn mich der Abend musikalisch etwas enttäuscht hat, ist meine Freude über den musikalischen Neubeginn am Augustusplatz dennoch ungebrochen. Das Orchester hat jedenfalls aufs Schönste bewiesen, dass es die Zwangspause bestens überstanden hat.
Frank Sindermann
12. September 2020
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Krystian Zimerman, Klavier