Rosenkavalier 2.0?

Wiederaufnahme: Richard Strauss’ „Arabella“ überzeugt an der Oper Leipzig durch kluge Regie und hohe musikalische Qualität.

Finale der Oper (Besetzung von 2016) | © Kirsten Nijhof

Die Gemeinsamkeiten in Handlung und Stilistik sind nicht zu übersehen; in Richard Strauss’ lyrischer Komödie „Arabella“ deshalb einen lauwarmen „Rosenkavalier“-Aufguss zu sehen, wird dem ganz eigenen Reiz dieser charmanten Oper aber nicht gerecht. Mag die Dramaturgie nicht ganz ausgereift sein, mag die Musik vielleicht nicht ganz so leicht ins Ohr gehen – ein Besuch der „Arabella“ lohnt in jedem Fall.

Dies gilt erst recht am heutigen Abend, der durch eine durchweg hohe musikalische Qualität überzeugt. Strauss-Experte Ulf Schirmer spornt das farbenreich spielende Gewandhausorchester zu wahren Höhenflügen an und hervorragende Solistinnen und Solisten, allen voran Astrid Kessler in der Titelpartie, lassen diese Aufführung zum Erlebnis werden. Kesslers ausgewogener, edel glänzender Sopran passt ideal zur sensiblen Arabella, deren menschliche Größe im berührenden Finale sichtbar wird. Thomas J. Mayer kann sich nicht immer optimal gegen das Orchester durchsetzen, stellt aber den eifersüchtigen Mandryka in seiner Ambivalenz schauspielerisch überzeugend und stimmlich differenziert dar. Olena Tokar singt die Hosenrolle der Zdenka mit lyrischer Schönheit, der gebürtige Wiener Wolfgang Bankl überzeugt als abgehalfterter Adliger mit Herz auf dem rechten Fleck und Patrick Vogel macht sich als verschmähter Graf Elemer mit sichtbarer Spielfreude zum Ei bzw. Hund.

Die Inszenierung ist geradlinig erzählt und unterhält mit etlichen komödiantischen Details. Gekonnt findet Jan Schmidt-Garre dabei den Mittelweg zwischen Liebeskomödie und Melodram, wobei die Protagonisten in Heike Scheeles Bühnenbild eine Welt im Zerfall bespielen, die erst am Schluss für die beiden Liebespaare wieder einrastet. Leider stört das ablenkende und geräuschvolle Herumschieben der einzelnen Raumelemente den Genuss der Schlussszene beträchtlich. Neben der für mich wohl immer unverständlich bleibenden Koloraturen-Show der Fiakermilli, die heute noch etwas sonderbarer klang als sonst, ist dies aber der einzige Einwand an einem rundum gelungenen Opernabend.

Allen üblichen Vergleichen zum Trotz: Richard Strauss’ „Arabella“ ist kein zweiter, schon gar kein schlechterer Rosenkavalier und Aufführungen wie die heutige unterstreichen eindrucksvoll die ganz eigenen Qualitäten dieser unterschätzten Oper.

Frank Sindermann

22. Februar 2020
Oper Leipzig

Richard Strauss: „Arabella“
weitere Aufführung: 10.07.2020, 19.30 Uhr

Musikalische Experimente

Alan Gilbert dirigiert drei Werke mit einer großen Gemeinsamkeit: Sie gehen neue Wege.

Beethoven bei der Komposition der Pastorale (Detail; 1834)

Es ist ohne Frage ein sehr kontrastreiches Programm, das Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, in den Konzerten dieser Woche im Gewandhaus dirigert. Und doch verbindet die Werke von Sibelius, Copland und Beethoven ein erkennbarer Wille zur musikalischen Innovation, zum Neu- und Weiterdenken althergebrachter Muster und Strukturen.

So lässt Sibelius in seiner sinfonischen Dichtung „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“ das Pferd derart monoton durch die Nacht galoppieren, dass gar Vergleiche zur Minimal Music gezogen wurden; Aaron Copland tariert in seiner Orgelsinfonie die Länge und Bedeutung der drei Sätze neu aus und Ludwig van Beethoven fügt seiner Sinfonie Nr. 6, der sogenannten „Pastorale“, nicht nur einen seinerzeit sehr unüblichen fünften Satz hinzu, sondern geht überdies in der Gewitterszene selbstbewusst den Weg von der Melodie zum Geräusch.

Wie auch schon bei seiner überzeugenden Smetana-Interpratation in der vergangenen Spielzeit (https://brahmsianer.de/fokus-boehmen-smetana), erweist sich Alan Gilbert auch heute als umsichtiger Dirigent, der uneitel die Musik in den Vordergrund stellt und dabei ein hohes Maß an klanglicher Differenzierung erzielt. Selbst ein Werk wie Sibelius’ „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“, das ich immer als etwas langatmig und ermüdend empfand, gewinnt durch Gilberts eher analytischen Ansatz deutlich an Kontur. Dies funktioniert selbstverständlich nur, wenn man einen Klangkörper wie das Gewandhausorchester zur Verfügung hat, bei dem die einzelnen Instrumente tatsächlich wie Teile eines großen Organismus agieren, die für sich allein ebenso überzeugen wie als Ganzes.

In Michael Schönheits Interpretation von Aaron Coplands Orgelsinfonie – das hier schon zum dritten Mal auf dem Programm steht – verschwimmen die (rhythmischen) Konturen mitunter zwar etwas, jedoch wird dies durch das engagierte Spiel des Gewandhausorganisten mehr als ausgeglichen. Durch eine jederzeit spürbare persönliche Identifikation mit dem Werk schafft es Schönheit, das Feuer ins Publikum zu tragen und erhält dafür zu Recht begeisterten Applaus.

In der zweiten Konzerthälfte präsentiert Gilbert eine Konsens-„Pastorale“ im besten Sinne, die sehr dicht an der Partitur bleibt und sich von bräsiger Klangschwelgerei ebenso fern hält wie von gewollten Knalleffekten und betonter Nüchternheit. Es ist ein Beethoven des 21. Jahrhunderts: Die romantisierende Sicht eines Herbert von Karajan ist ebenso überwunden wie die Klangaskese des frühen Harnoncourt; die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis haben den Orchesterklang verschlankt und flexibilisiert, ohne seine Sinnlichkeit zu opfern. Abgesehen von den zwar laut, aber zu hell klingenden Pauken in der Gewitterszene und dem etwas zu drängenden, unentpannten Charakter des Schlusssatzes überzeugt mich diese Interpretation voll und ganz – nicht zuletzt aufgrund zahlreicher schöner Soli, von denen hier stellvertretend Nachtigall (Flöte), Wachtel (Oboe) und Kuckuck (Klarinette) am Ende des zweiten Satzes genannt seien.

Dass der Applaus nach dieser wirklich hörenswerten „Pastorale“ zunächst völlig ausbleibt und sich erst nach einer aufmunternden Geste des Dirigenten Bahn bricht, liegt wohl weniger an der Aufführung selbst als an einem quasi-religiösen, bierernsten Konzertwesen, in dem man lieber gar nicht klatscht als an der falschen Stelle oder als einzige(r). Je länger der Applaus ausbleibt, desto größer wird die Hemmung, den Anfang zu machen – Gruppendynamik à la Gewandhaus.

Frank Sindermann

6. Februar 2020
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Michael Schönheit, Orgel