Ein Requiem zum Jubiläum

Jaap van Zweden dirigiert im Gewandhaus die wohl unpassendste Geburtstagsmusik aller Zeiten sowie Werke von Mozart und Beethoven in c-Moll.

David Fray (c) Paulo Roversi (von IMG Artists)

So hatten sich das die japanischen Auftraggeber ganz und gar nicht vorgestellt: Statt zum 2600-jährigen Bestehen der Mikado-Dynastie eine prächtige Festmusik zu komponieren, lieferte Benjamin Britten ihnen ausgerechnet ein sinfonisches Requiem, das er auch noch seinen eigenen Eltern widmete. Dass dieser Beitrag damals nicht gespielt wurde, überrascht nicht; dass die Sinfonia da Requiem seither zu einem der beliebtesten Werke des britischen Komponisten wurde, allerdings ebensowenig: Selten sind Trauer, Zorn und Trost so ergreifend in Musik gefasst worden. Jaap van Zweden vermittelt den Stimmungsgehalt sehr überzeugend und legt gleichzeitig eine Sorgfalt im Detail an den Tag, die andere Dirigenten bei diesem Werk mitunter vermissen lassen. Ein Beispiel: Oft werden die erschreckenden Eröffnungstakte der Sinfonia bereits extrem laut gespielt, sodass ich im heutigen Konzert zunächst fast ein wenig enttäuscht bin und mich frage, ob hier nicht ausdrucksmäßig noch etwas Luft nach oben wäre. Ein Blick in die Partitur verrät allerdings, dass Britten am Anfang „ff“ vorschreibt, bei der Reprise hingegen „fff“, diese also noch lauter gespielt haben möchte. Und tatsächlich: Bei der Wiederkehr der pochenden Anfangstakte steigert van Zweden die Lautstärke noch einmal signifikant.

Diese Aufmerksamkeit fürs Detail zeichnet auch die zwei anderen Aufführungen des Abends aus, allerdings kommen diese interpretatorisch eher altbacken daher und überzeugen mich nur halb. Dies gilt vor allem für Mozarts dramatisches c-Moll-Konzert, das viel zu harmlos angegangen wird. Dies wird vor allem im Vergleich zur Lesart Alexander Shelleys deutlich, der dieses Konzert am selben Ort vor zwei Wochen dirigiert hat und mit dem MDR-Sinfonieorchester eine im Detail weniger perfekte, emotional aber um Längen mitreißendere, frischere Version präsentiert hat. Auch David Frays Spiel überzeugt mich weniger als dasjenige Gabriela Monteros, die noch klarer, vor allem aber engagierter gespielt hat. Technisch gibt es bei Fray nichts zu beanstanden – ganz im Gegenteil – und stilistisch haben er und das Gewandhausorchester sich auch nichts vorzuwerfen – und dennoch: Mehr als aufpolierter Durchschnitt, als gepflegte Langeweile entsteht heute leider nicht.

Frays Zugabe, Bachs Choralvorspiel über „Nun komm der Heiden Heiland“ in der Busoni-Fassung, ist wunderbar differenziert gespielt. Fray arbeitet die einzelnen Register derart prägnant heraus, dass man meint, eine Orgel oder ein Kammerensemble zu hören.

Nach der Pause folgt dann Beethovens Fünfte, deren ersten Satz van Zweden eher zügig angeht. Das Orchester braucht einige Takte, um in den Tritt zu kommen, folgt dann aber präzise den differenzierten Gesten des Dirigenten, der energiegeladen den vollen Aktionsradius des Podiums ausschöpft. Trotzdem bleibt dieser Satz ein wenig blass und gerät zum ausdrucksmäßig etwas langweiligen Kompromiss zwischen romantischem Drängen und klassischer Beherrschung. Das Andante ist hingegen unbedingt hörenswert. Mit viel Liebe zum Detail und dem nötigen langen Atem wird dieser Satz zum Höhepunkt der Aufführung. Auch das geheimnisvoll-skurrile Scherzo und der triumphale Schlusssatz reißen mit und entfalten einen Sog, der sogar die schier endlosen Schlussfloskeln übersteht. Dass der erlösende Schlussakkord dann noch klanglich extra aufgebrezelt wird, sei um der Wirkung willen verziehen.

Frank Sindermann

25. Oktober 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Jaap van Zweden, Dirigent
David Fray, Klavier

Ist es wirklich schon so spät?

Alexander Shelley lässt im „Zauber der Musik“ Debussys Faun entspannt träumen, dreht dafür bei Brahms das Tempo auf; Gabriela Montero sprengt in Mozarts c-Moll-Klavierkonzert effektvoll den klassischen Rahmen.

Gewandhaus mit Mendebrunnen © Florian Koppe (CC BY-SA 3.0)

Alexander Shelleys Dirigierstil kann man vielleicht am besten mit dem etwas altmodischen Wort „schneidig“ bezeichnen; mit schnellen, präzisen, beinahe zackigen Gesten teilt Shelley Phrasen in Takte und Takte in Schläge, ohne dabei aber die Musik zu zerhacken – am Ende fügt er das klar Gegliederte wieder zu einem organischen Ganzen zusammen. Das ist faszinierend zu beobachten und überzeugt heute Abend vor allem in Mozarts c-Moll-Klavierkonzert, in dessen Kopfsatz Shelley die dramatische Energie wunderbar kanalisiert und klar auf den Punkt bringt. Das MDR-Sinfonieorchester spielt unter seiner Leitung einen modernen, frischen Mozart, der stilistisch voll auf der Höhe der Zeit ist und mit schlankem, kernigem Klang begeistert.

Den Klavierpart spielt die venezolanische Pianistin Gabriela Montero, die vor allem für ihr Improvisationstalent, aber auch ihr politisches Engagement berühmt ist. Letzteres zeigt sich heute Abend, als Montero das Entrollen der venezolanischen Flagge im Zuschauerraum mit einem „Gefällt mir!“-Daumen honoriert, ersteres äußert sich vor allem in der virtuosen Solokadenz des ersten Satzes und in der Zugabe, die sie nach Zuruf aus dem Publikum über den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ improvisiert.

Monteros lebhaftes, klar akzentuiertes Mozart-Spiel passt bestens zu Shelleys forscher Interpretation des Orchesterparts. Die Kommunikation zwischen Montero und Shelley funktioniert tadellos und trägt ihren Teil zum runden Gesamteindruck bei.

Der zu Beginn des Konzerts gespielte „Nachmittag eines Fauns“ weiß vom zauberhaften Flötensolo zu Anfang bis zum Verklingen des letzten Tons vollauf zu überzeugen. Shelley widersteht gekonnt der Versuchung, aus der komponierten Bewegungslosigkeit des Stücks auszubrechen und lässt die vielen klanglichen Farbnuancen in immer neuen Kombinationen aufleuchten und wieder verlöschen.

Nach der Pause gibt es dann Brahms’ zweite Sinfonie. Shelley scheint all jene Lügen strafen zu wollen, die seit der Uraufführung den pastoralen, frühlingshaft-freundlichen Ton der Sinfonie betonen, indem er nicht nur (zu) schnelle Tempi wählt, sondern auch die durchaus vorhandenen dramatischeren Passagen des Kopf- und Finalsatzes etwas einseitig in den Vordergrund rückt. Das Seitenthema des ersten Satzes wird so zur vernachlässigten Episode, die flüchtig vorüberhuscht. Dem gesamten Satz fehlt die nötige Luft zum Atmen, alles wirkt unangenehm gehetzt und hyperaktiv. Das ist vor allem deshalb schade, weil das MDR-Sinfonieorchester soviel Schönes anzubieten hat, vor allem die grandiosen Holzbläser. Selbst dem strahlenden Blechbläser-Jubel des Schlusssatzes scheint Shelley nicht zu trauen und bietet stattdessen schrilles Siegesgeschrei. Das ist nicht schön, aber effektvoll, wie der tosende Beifall beweist. Viel besser gelingen hingegen die Mittelsätze, vor allem das originelle Scherzo. Hier erweist sich Shelleys präzise, energische Schlagtechnik als das Mittel der Wahl.

Frank Sindermann

14. Oktober 2018
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Alexander Shelley, Dirigent
Gabriela Montero, Klavier

Brücke zur Neuen Musik

Håkan Hardenberger begeistert mit Rolf Martinssons Trompetenkonzert „Bridge“, Andris Nelsons dirigiert Mahler V.


Motiv aus Rolf Martinssons Trompetenkonzert „Bridge“

Die oben gezeigten sechs Töne bilden das Hauptmotiv des Trompetenkonzerts „Bridge“ – zumindest habe ich sie so gehört. Dieses kurze Motiv erklingt unmittelbar vor dem ersten Einsatz der Solotrompete und eröffnet damit ein Werk, das mich sofort begeistert hat – intelligent, virtuos und sofort fasslich, vertraut und überraschend zugleich, modern, aber nicht abschreckend, melodiös, aber niemals anbiedernd, ist dem schwedischen Komponisten Rolf Martinsson ein Konzert gelungen, das einen festen Platz in den Spielplänen mehr als verdient hätte. Martinsson nimmt auf ein Hörabenteuer mit, das einem erkennbaren Weg folgt, aber an jeder Wegbiegung unerwartete Ausblicke präsentiert. Natürlich bedient sich Martinsson munter im Fundus der Musikgeschichte, klingt mal wie Debussy, mal wie Alban Berg (!) oder gar wie Rachmaninow oder bringt Jazz-Elemente ein – aber was soll’s, wenn es derart gut gemacht ist? Ähnlich wie das Trompetenkonzert Bernd Alois Zimmermanns beweist auch dieses Werk, dass aus Bekanntem durchaus Originelles und vor allem Berührendes entstehen kann. Den Theodor-W.-Adorno-Gedächtnispreis für innovatives Komponieren gewinnt man damit vielleicht nicht, aber es gibt Schlimmeres.

Martinsson hat das Konzert dem Trompeter Håkan Hardenberger gewidmet, der es auch heute Abend im Gewandhaus spielt, und reizt die unglaublichen Fähigkeiten des Widmungsträgers voll aus. Von kantablen Melodiebögen bis zu hochvirtuosen Hochgeschwindigkeits-Passagen lässt Martinsson keine Möglichkeit der Trompete ungenutzt. Hardenberger wird dem hohen technischen und musikalischen Anspruch des Konzerts in jeder Sekunde gerecht. Vor allem die namensgebenden Brücken, mit denen Hardenberger die Sätze verbindet, sind ein einziger Hörgenuss.

Einen wesentlichen Anteil am Gelingen hat auch das Gewandhausorchester, das sich unter Andris Nelsons’ Leitung (gezwungenermaßen) zum respektablen Klangkörper für Neue Musik mausert. Was Riccardo Chailly dereinst versprochen hat – mehr Ur- und Erstaufführungen zu dirigieren – setzt Nelsons konsequent um. Die Präzision und Virtuosität des Orchesters sind beeindruckend – vor allem in diesem immer noch ungewohnten musikalischen Kontext. Dieses Orchester kann tatsächlich alles. Die positive Reaktion des Publikums auf Martinssons Konzert darf als Ermunterung verstanden werden, diesen Weg weiter zu beschreiten.

Dass das Orchester alles kann, beweist es auch nach der Pause in Gustav Mahlers fünfter Sinfonie. Leider nützen die schönsten Hornsoli im Scherzo und das zarteste Streicher-Schmachten im Adagietto nichts, wenn diese exquisiten Zutaten nicht vom Koch zusammengefügt werden. Ich habe heute das Gefühl, dass Nelsons sehr an der Partitur entlang dirigiert, sich von einem Abschnitt zum anderen bewegt, ohne ein übergeordnetes Konzept zu verfolgen. Nun ist Nelsons ja auch in seinen Bruckner-Aufführungen und -einspielungen eher damit aufgefallen, den Klang auszukosten, als musikalisches Architekturstudium zu betreiben, aber heute hat mich dies erstmals gestört. Zugegeben, eine gewisse Zusammenhanglosigkeit liegt schon in der Partitur begründet; aber müsste man dann nicht gerade alles unternehmen, um das nebeneinander Stehende zu verbinden? Nelsons’ Aufführung der Dritten mit dem Boston Symphony Orchestra hat mir jedenfalls deutlich besser gefallen (https://brahmsianer.de/heiliger-bimbam).

Frank Sindermann

Tipp: Es gibt eine Aufnahme von Martinssons Trompetenkonzert mit Hardenberger beim Label „BIS“, die ich uneingeschränkt empfehlen kann.

27. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Håkan Hardenberger, Trompete



Der Weg zum ewigen Licht

Sinfonieorchester und Rundfunkchor des MDR eröffnen unter der Leitung von Risto Joost mit Gustav Mahlers „Auferstehungssinfonie“ die neue Konzertsaison.

Foto: © Andreas Lander

„Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du, mein Herz, in einem Nu!“ – so heißt es in Klopstocks Text, den Gustav Mahler im letzten Satz seiner „Auferstehungssinfonie“ vertont; doch musikalisch dauert es immerhin über 80 Minuten, bis diese erlösenden Worte erklingen. Dass die Zeit an diesem Abend trotzdem wie „im Nu“ verfliegt, liegt vor allem an der hervorragenden Leistung aller Beteiligten.

Risto Joost erweist sich vor allem als energiegeladener Motivator, der die Spannungskurve über alle Brüche und Kontraste der Partitur hinweg stets aufrecht erhält und vor allem den nervösen, psychisch angespannten Aspekt der Musik betont. Dies kommt dem düster-zerrissenen Kopfsatz sehr zugute, dem tänzerischen zweiten nicht in gleichem Maße. Das MDR-Sinfonieorchester folgt Joost stets aufmerksam und bleibt über die gesamte Spieldauer der Sinfonie konzentriert und engagiert.

Besonders gefällt mir am Orchester der Mut zum Risiko, das kompromisslose Ausloten der Extreme ohne doppelten Boden. Der Lohn ist vor allem eine große emotionale Unmittelbarkeit der Musik. Wenn die Hörner tatsächlich sehr, sehr leise spielen, dann wackelt zwar vielleicht der Einsatz in einem von zehn Fällen – die anderen neun geraten dafür aber einfach traumhaft und sind den Einsatz allemal wert. Auch das oft beobachtete zaghaft klappernde „Anspringen“ von Bläserakkorden ist heute Abend kein Problem. Selbstbewusstsein ist hier alles!

Die viefältigen orchestralen Mittel der Sinfonie ermöglichen es dem Orchester, zur Saisoneröffnung an jedem Pult zu glänzen: Von zarten Pizzicato-Klängen bis durchdringenden Dies-irae-Tuben, von Vogelgezwitscher bis Ferntrompeten bietet Mahler alles auf, was an Klangeffekten gut und teuer ist – und die MDR-Sinfoniker_innen machen daraus ein wahres Fest.

Gerhild Romberger verleiht der menschlichen Pein und Sehnsucht nach dem Paradies mit würdigem Ernst Ausdruck und wirkt stets emotional engagiert, ohne dabei je ins Sentimentale oder Kitschige zu verfallen. Katharina Konradi überzeugt ebenfalls auf ganzer Linie. Besonders beeindruckend gelingt ihr der von Mahler geforderte Wechsel vom klanglichen Verschmelzen mit dem Chor zum solistischen Hervortreten.

Der MDR-Rundfunkchor muss sich zunächst gedulden und eine gute Stunde lang auf seinen Einsatz im letzten Satz warten, der dann aber umso beeindruckender gelingt. Vom zarten, geradezu mystischen A-Cappella-Einsatz im dreifachen Pianissimo bis zum durchsetzungsstarken dreifachen Forte des Finales meistert der Chor jede noch so große Herausforderung mit Bravour – besser kann dieser verboten schwere Chorpart wohl nicht gesungen werden.

Um den Chor schon früher ins Spiel zu bringen, ist heute Abend der Sinfonie eine A-cappella-Bearbeitung des Rückert-Liedes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ vorangestellt, in der man die hohe Klangkultur des Chores bereits ausgiebig bewundern kann. Ästhetisch überzeugt mich Clytus Gottwalds Bearbeitung nicht – so schön sie auch klingen mag; zum einen ist der wunderbare Dialog zwischen Singstimme und Englischhorn in der Chorfassung komplett in der Klangfläche aufgelöst, zum anderen wird die Struktur des Stückes sehr verunklart, wenn Einleitung, Hauptteil und Nachspiel jeweils auf Text gesungen werden. Auch geht es bei dem Lied um das Gefühl eines einzelnen Menschen, der sich von der Welt abgewendet hat, was durch eine Solostimme meines Erachtens passender verkörpert wird als durch einen Chor. Da das Lied generell nicht zwingend zur nachfolgenden Sinfonie passt und Mahlers eigene Dramaturgie der monumentalen Sinfonie letztlich verfälscht, hätte man auf diesen Effekt vielleicht besser verzichtet.

Abgesehen davon lässt die heutige Aufführung kaum Wünsche offen und zeigt Sinfonieorchester und Rundfunkchor des MDR zur Saisoneröffnung in bester Verfassung. Das Publikum dankt mit begeistertem Beifall.

Frank Sindermann

16. September 2018, 19.30 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Risto Joost, Dirigent
Katharina Konradi, Sopran
Gerhild Romberger, Alt


Ein Ende ohne Schrecken

Ehrendirigent Herbert Blomstedt zeigt sich im Gewandhaus erneut als überzeugter Anwalt Franz Berwalds und treibt Berlioz die Dämonen aus.

Herbert Blomstedt © Jens Gerber

Franz Berwalds ebenso interessante wie eigenwillige Sinfonien konnten sich hierzulande bis heute nicht im Konzertbetrieb durchsetzen, und vielleicht wird es auch niemals dazu kommen. Dass sie in Deutschland überhaupt gespielt werden, ist vor allem Herbert Blomstedt zu verdanken, der sie immer wieder mit unterschiedlichen Orchestern in aller Welt aufführt. Berwalds Dritte, die sogenannte „Sinfonie singulière“, zeichnet sich vor den übrigen Sinfonien durch besonders große Originalität und Zugänglichkeit aus, was sie zum Appetitanreger auf Berwalds sonstiges Schaffen geradezu prädestiniert.

Bereits der geheimnisvolle Beginn des ersten Satzes unterscheidet sich deutlich von allem, was Mitte des 19. Jahrhunderts sonst komponiert wurde. Blomstedt dirigiert schon die ersten aufsteigenden leeren Quarten unruhig und vorwärts drängend, mit einer inneren Anspannung, die dem ganzen Satz eine nervöse Grundstimmung verleiht. Das passt wunderbar zu dieser skurrilen Musik, die eher von kleinen Motivpartikeln als großen Linien lebt, eher von schroffen Einwürfen als kontinuierlichem Verlauf. Leider trägt das Gewandhausorchester durch gelegentliche metrische Unsicherheiten eher unfreiwillig noch weiter zum ohnehin schon hektischen Gesamteindruck bei. Diese Sinfonie gehört eben nicht zum Standardrepertoire – was zu beweisen war.

Im Mittelsatz zeigt sich das Orchester dann von seiner besten Seite. Der gesangliche Beginn der Streicher überzeugt durch Homogenität und Wärme, die schmerzlich absteigende Sequenz der Holzbläser über grummelndem Tremolo erzeugt eine geradezu unheimliche Atmosphäre. Zu den formalen Experimenten der Sinfonie zählt Berwalds Idee, das Scherzo in den langsamen Satz zu integrieren. Dieses beginnt nach einen überraschenden Paukenschlag und soll laut Berwalds Anweisung „ungewöhnlich schnell und leicht“ gespielt werden. In Anlehnung daran hätte ich mir für diesen Teil noch etwas mehr Witz und Akzentuierung gewünscht, denn was Blomstedt und seine Musiker_innen dem Satz an Leichtigkeit und Tempo geben, lässt er  an Kontur und Farbe etwas vermissen.

Der zackige, etwas martialische Schlusssatz gelingt wiederum sehr überzeugend. Seine vielen überraschenden Wendungen, so zum Beispiel eine Rückkehr des Adagios kurz vor Schluss, werden stimmig umgesetzt und der von Berwald mitten in der wilden Fahrt mit voller Absicht ungebremst gegen die Wand gefahrene Schluss beeindruckt durch seine Präzision und Unerbittlichkeit. Alles in allem eine sehr gelungene Aufführung.

***

„Das war ja wildromantisch, kann man sagen!“ Diese Worte einer begeisterten Konzertbesucherin charakterisieren Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ durchaus treffend – wobei sie mir heute Abend deutlich zu romantisch und zu wenig wild dargeboten wird.

Gewiss, die ersten drei Sätze sind wunderbar musiziert: Der gut ausbalancierte Ensembleklang des bewegten ersten Satzes, die elegant glänzende Tanzseligkeit des zweiten, das betörende Duett von Oboe und Englischhorn im pastoralen dritten – all dies lässt keine Wünsche offen. Doch was ist mit den Alptraumszenen des vierten und fünften Satzes? Warum dirigiert Herbert Blomstedt diese komponierten Horrorvisionen derart heiter-beschwingt, als sei alles nur ein harmloser Faschingsschwank?

Ein vergleichender Blick ins Konzertarchiv der Berliner Philharmoniker, das mehrere Aufnahmen der Sinfonie enthält, darunter eine mit Blomstedt, enthüllt gravierende Unterschiede in der Interpretation dieser Sätze, die sich allein schon in der Mimik der Dirigenten zeigen. Blomstedt wippt und schwingt und lächelt dabei freudig, als dirigere er Mozarts „Kleine Nachtmusik“. Wie Blomstedt während des heutigen Konzerts schaut, kann ich nicht sehen, aber die Musik klingt exakt so.

Es handelt sich aber nun einmal um die grauenvolle Wahnvorstellung eines Hexensabbats und nicht um ein Lagerfeuer mit Bibi Blocksberg. Dem tiefreligiösen Blomstedt muss die Thematik zwangsläufig fremd sein und es wirkt, als ignoriere er bewusst die verstörende Dimension der Musik und betrachte sie lieber als launige Komödie mit viel Theaterdonner. Damit wird er meiner Überzeugung nach der Sinfonie aber nicht gerecht, zumindest nicht den letzten beiden Sätzen. Wenn Werner Kopfmüller in seiner Rezension (LVZ vom 15./16.9., S. 14) auf der einen Seite konstatiert, dass die in der Musik dargestellten Schreckensgestalten „einem Bild von Hieronymus Bosch entstiegen sein könnten“, auf der anderen Seite aber berichtet, dass Blomstedt beim Dirigieren der Sabbatnacht „der Schalk aus den Augen blitzt“, jene mithin so „hinreißend witzig musiziert“ sei, dass sich sogar „der ein oder andere im Orchester das Schmunzeln nicht verkneifen kann“, dann offenbart er hier den ganzen Widerspruch dieser Interpretation. Hieronymus Bosch’ Darstellungen des jüngsten Gerichts bringen mich nämlich nur höchst selten zum Schmunzeln – eigentlich überhaupt nicht.

Aber warum dann überhaupt diese Sinfonie dirigieren, wenn einem das Dämonische an ihr ethisch widerstrebt? Welche ästhetische Haltung steckt dahinter? Einen möglichen Erklärungsansatz bietet Karl Rosenkranz’ „Ästhetik des Häßlichen“ von 1853, für den das Hässliche durch Überzeichnung im Humor letztlich aufgehoben wird:

„Aber die Karikatur löst die Widrigkeit ins Lächerliche auf, indem sie alle Formen des Häßlichen, aber auch des Schönen in sich aufzunehmen vermag. Daß sie in ihrer Verzerrung schön werde, unsterblicher Heiterkeit voll, ist jedoch nur möglich durch den Humor, der sie ins Phantastische übertreibt.“

Wie in einer „Sinfonie fantastique“, zum Beispiel?

Frank Sindermann

13. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester Leipzig
Herbert Blomstedt, Dirigent

Heiliger Bimbam!

Das Boston Symphony Orchestra ist zu Gast im Gewandhaus und begeistert mit Mahlers 3. Sinfonie das Leipziger Publikum.

Boston Symphony Orchestra  / Andris Nelsons © Marco Borggreve

Schon vor Beginn des Konzerts ist alles anders. Während das Publikum noch seine Plätze einnimmt, sitzen die Musiker_innen des Boston Symphony Orchestra bereits auf dem Podium und spielen sich ein. Das klingt ein wenig nach Orchestergraben, weckt Vorfreude auf die Musik und wirkt deutlich nahbarer als der weihevolle Einzug europäischer Orchester.

Während das Orchester sich aufwärmt, bereite auch ich mich mental auf Mahlers 3. Sinfonie vor, die gleich beginnen und erst beachtliche 100 Minuten später verklungen sein wird.

Allein der erste Satz dauert über eine halbe Stunde und damit länger als so manche komplette Sinfonie. Andris Nelsons, Gewandhauskapellmeister und zugleich Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra (BSO), leitet das heutige Gastspiel des traditionsreichen amerikanischen Ausnahmeorchesters im Rahmen der zweiten Leipziger Boston-Woche und kaum ein anderes Werk des sinfonischen Repertoires wäre geeigneter, die Qualitäten des Orchesters zu präsentieren.

Schon die Eröffnung des Kopfsatzes lässt aufhorchen: Kraftvoll und klanglich bewundernswert homogen spielt das Hornoktett im Unisono jenes an Brahms angelehnte, aber völlig anders wirkende Thema, das Aufbruch verheißt, aber dann – ehe man sich’s versieht – kraftlos verebbt. Nachdem der Satz eben erst begonnen hat, scheint er bereits wieder am Ende zu sein. Fatalistische, kraftlose Schläge der Großen Trommel lassen an den Gang zum Richtplatz aus Mahlers Lied „Der Tamboursg’sell“ denken. Trompetenfanfaren schmettern in die Stille, ohne dass ihr Ruf etwas bewirkt. Es ist eine kalte, unwirtliche Welt, die Welt der unbelebten Materie, die Mahler hier kompositorisch so überzeugend wie verstörend in Tönen ausgedrückt hat, als überdimensionalen Auftakt seiner philosophisch aufgeladenen Sinfonie über Pflanzen, Tiere, Mensch und Gott. Andris Nelsons geht den ersten Satz sehr kontrolliert an und betont eher das Ungewisse, Geheimnisvolle dieser im Entstehen begriffenen Welt, ohne aber die krawalligen Marschpassagen allzu sehr zurückzunehmen. Die exzellente Qualität der Musiker_innen wird sowohl in den zahlreichen Soli dieses und der kommenden Sätze als auch im disziplinierten Zusammenspiel als Orchestertutti immer wieder deutlich. Dies gilt ausnahmslos an allen Pulten. Gelegentliche Ansatzprobleme der Hörner und andere kleinere Ungenauigkeiten lassen sich bei einer Liveaufführung eines derart anspruchsvollen Werks nicht ganz vermeiden; vor ihnen ist auch das Gewandhausorchester nicht gefeit. Auch die Klangbalance ist nicht immer ideal austariert, aber bei einer Sinfonie dieses Umfangs kann man schlicht nicht jeden Takt einzeln erarbeiten und klanglich feinabstimmen.

Nach dem ersten Satz mit seinem beifallheischenden Schlussgetöse fällt es dem begeisterten Publikum schwer, die Hände ruhig zu halten, was auch nur teilweise gelingt. Aber Begeisterung hin oder her: Das ungeschriebene Gesetz des Konzertsaals verlangt, dass man erst nach knapp zwei Stunden aufgestauter Emotionen jubelt. Stattdesen trinken Nelsons und seine Musiker_innen erst einmal einen Schluck Wasser, um sich für die Wegstrecke zu stärken, die noch vor ihnen liegt. Es ist bei weitem nicht die von Mahler verlangte zehnminütige Pause, aber immerhin ein deutliches Innehalten.

Die zweite Abteilung der Sinfonie mit ihren fünf Sätzen bietet mehr Spannendes und Hörenswertes als hier beschrieben werden kann. Der beinahe anachronistisch anmutende zweite Satz („Tempo di Minuetto“) mit seinen wunderbaren Holbläser-Soli, die gebrochene Wunderhorn-Romantik des dritten Satzes mit ihren Tierlauten von Kuckuck bis Esel und betörendem Posthornsolo aus der Ferne – dies alles ist ganz wundervoll musiziert.

Im vierten Satz geht es um den Menschen, verkörpert durch eine Altstimme. Susan Graham findet für den von Mahler ausgewählten Nietzsche-Text genau den richtigen Ausdruck. Mit emotionaler Anteilnahme, aber ohne alle Sentimentalität gestaltet sie den Menschen als fragendes, suchendes und leidendes Geschöpf, das sich gleichwohl stets seiner Würde bewusst bleibt. Das klingt nicht nur warm und edel, sondern überzeugt auch konzeptionell.

Und dann läuten die Glocken, echte und gesungene. Das fröhlich-naive „Bimm bamm“ des Kinderchores gehört zu den eigentümlichsten Einfällen dieser Sinfonie und wirkt zusammen mit dem Engelsgesang des Frauenchores („Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“) fast unfreiwillig komisch. Oder war das gar Mahlers Absicht? Der GewandhausKinderchor und die Damen des GewandhausChores absolvieren ihren kurzen Auftritt mit Bravour und müssen sich nicht hinter dem BSO verstecken, das hier aber leider manchmal etwas zu laut spielt und so seinerseits die vokalen Glöckchen und Engelein etwas zu weit in den Hintergrund rückt.

Der ausgedehnte Schlusssatz gehört für mich zu Mahlers beeindruckendsten Schöpfungen. Mit unendlich langem Atem, in sich ruhend, ist man hier beim Zuhören leicht „der Welt abhanden gekommen“ und vergisst völlig, wie lang diese Sinfonie inzwischen schon andauert. Als dann schließlich hymnische Schlussakkorde in strahlendem Dur diese seltsame und beeindruckende, experimentelle und konventionelle, wilde und sanfte, laute und leise, komplexe und naive Sinfonie beenden, kennt der Jubel kein Halten mehr und äußert sich in lang anhaltenden stehenden Ovationen.

Frank Sindermann

8. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent
Damen des GewandhausChores
GewandhausKinderchor

Musik mit Brahms

Detlev Glanert erzählt von „Marschland und großen Himmeln“; Emmanuel Tjek­­­na­vo­rian begeistert mit Sibelius’ Violinkonzert

Emmanuel Tjeknavorian © Uwe Arens

Dass sich Notbesetzungen als absolute Glücksbesetzungen erweisen können, hat in der letzten Saison bereits Martin Helmchen am Klavier bewiesen. Im heutigen Großen Concert des Gewandhausorchesters übernimmt Emma­nuel Tjek­na­vorian für die erkrankte Janine Jansen den Solopart in Sibelius’ Violinkonzert. Als Preisträger des Jean-Sibelius-Violinwettbewerbs 2015 für die beste Interpretation eben jenes Konzerts bringt Tjek­na­vorian die besten Voraussetzungen mit, den Abend zu retten, und es gelingt ihm bravourös.

Mit schlankem, klarem Ton geht der Wiener Geiger das Konzert an und legt durch seinen Verzicht auf Pathos und aufgesetzte Dramatik die etwas spröde Schönheit des Werkes frei. Es ist ein schlichter, verinnerlichter Zugang, der durch noble Zurückhaltung und Klangschönheit überzeugt.

Das Gewandhausorchester unter Semyon Bych­kov reagiert sensibel auf den Solisten, wobei einzelne rhythmische Ungenauigkeiten im ersten und dritten Satz den Gesamteindruck trüben. Auch könnten die dynamischen Abstufungen präziser umgesetzt werden. Ein ppp quasi niente spielen die Hörner am Ende des zweiten Satzes nicht einmal ansatzweise.

Umrahmt wird das Violinkonzert von Detlev Gla­nerts Komposition „Weites Land“ von 2013 und Antonín Dvořaks Sinfonie Nr. 7 d-Moll op. 70. Gla­nert bezeichnet seine knapp zehnminütige Brahms-Hommage als „Musik mit Brahms“ und nimmt die ersten Takte aus dessen 4. Sinfonie zum Ausgangspunkt einer Reise, die ihn in die gemeinsame norddeutsche Heimat führt. Dabei kann von Weite zunächst keine Rede sein – eher beengt und bedrängt beginnt die Komposition, die erst im Laufe ihres Weges, vorbei an zahllosen Terzen, in offenes Gelände gelangt. Währenddessen hellt sich die Stimmung auf und vom bedeutungsschwangeren Beginn bleibt nur noch eine ironische Geste. Dies ist unbedingt hörenswert und es ist daher sehr erfreulich, dass Semyon Bychkov das Werk nicht nur in Leipzig, sondern auch in anderen Städten dirigert. Besonders freut mich aber, dass Glanert diese wunderbare Musik für ein ganz gewöhnliches Sinfonieorchester à la Brahms komponiert und auf selbstzweckhafte modische Klangeffekte verzichtet hat.

Antonín Dvořaks 7. Sinfonie ist nach wie vor nicht so bekannt wie die beiden nachfolgenden und wird es mangels vieler Ohrwurmmelodien auch wohl niemals sein. Sie ist von tiefem Ernst geprägt und wer sich darauf einlässt, wird getreu dem Gewandhaus-Motto „Res severa verum gaudium“ („Wahre Freude ist eine ernste Sache.“) reich belohnt. Herbert Blom­stedt hat einmal gesagt, dass ihm die siebente die liebste der neun Dvořak-Sinfonien sei, und ich kann das gut nachvollziehen. Das Gewandhausorchester unter Semyon Bychkov präsentiert das dramatische Werk in sehr überzeugender Weise.  Vom ungewohnt scharf gespielten düsteren Kopfsatz über den brahmsisch-elegischen zweiten und den tänzerischen dritten spannt sich ein musikalischer Bogen bis zum dramatisch bewegten Finalsatz, wobei der Ausdrucksgehalt jedes Satzes intensiv, aber immer subtil ausmusiziert wird. Semyon Bychkov, seit dieser Saison Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, leitet das Orchester mit der Souveränität seiner langjährigen Erfahrung und einer stets wachen Aufmerksamkeit für den Moment. Großer Jubel.

Frank Sindermann

Vor dem Konzert haben Orchestervorstand Matthias Schreiber und Gewandhausdirektor Andreas Schulz ein Plädoyer für Dialogbereitschaft und gegenseitigen Respekt verlesen, das implizit auf die jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz Bezug nimmt:

6. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester Leipzig
Semyon Bychkov, Dirigent
Emmanuel Tjeknavorian, Violine