Die umjubelte Wiederaufnahme der Leipziger “Norma” weiß vor allem musikalisch zu überzeugen.
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Roberta Montegna als Norma (auf dem Wagen) | © Tom Schulze |
Bevor sich am 13. September der Vorhang für die erste Opernpremiere der neuen Spielzeit heben wird, bringt die Oper Leipzig ihre „Norma“ erneut auf die Bühne. Dies interessiert leider erschreckend wenige Menschen, obwohl die Produktion unbedingt hörenswert – und mit einigen Abstrichen – sehenswert ist.
Viel wurde bereits geschrieben über die unglücklichen Umstände, unter denen die aktuelle Inszenierung das Licht der Welt erblickt hat. Ein fertiges Bühnenbild für Saint-Saëns’ “Les Barbares” musste coronabedingt zur Kulisse einer anderen Oper umfunktioniert werden, und “Norma” erschien aufgrund etlicher Parallelen zwischen den Handlungen als naheliegende Wahl. Regisseur Anthony Pilavachi richtete also “Norma” für die schon bestehende Ausstattung ein. Trotz dieser erschwerten Arbeitsbedingungen muss sich die Inszenierung am Werk und dessen Anspruch messen lassen. Also: Wird die Leipziger Inszenierung der Oper gerecht oder nicht? Die Antwort ist etwas kompliziert.
Bellinis “Norma” bewegt sich in mancherlei Hinsicht zwischen zwei Welten: Belcanto-Tradition versus musikdramatische Innovation, Kriegsoper mit Massenszenen versus kammerspielartiges Liebesdreieck. Im Zentrum der Oper steht die Titelheldin mit ihren widerstreitenden Emotionen. Das Kampfgetümmel bildet lediglich den Brennstoff, an dem sich Normas innere Konflikte entzünden – und der sie letztlich verbrennen wird. Während jener äußere Teil der Handlung in Pilavachis Regiearbeit kaum überzeugen kann und zu viel im Ungefähren lässt, gelingt es dem Regisseur deutlich besser, die Beziehungen zwischen den Hauptpersonen herauszuarbeiten.
Der militärische Konflikt zwischen Römern und gallischen Druiden wird schon in der Vorlage zumindest eigentümlich dargestellt; in den Ersten Weltkrieg versetzt wird die kognitive Dissonanz aber zu groß. Wenn sogar im Übertitel die “Druiden” in Anführungsstriche gesetzt werden und im Programmheft “die unterdrückten Gallier (Codename »Druiden«)” auftauchen, wird es gänzlich absurd. Dass der Tempel zum Lazarett mit (christlichem) Schrein wird, darf da nicht mehr überraschen. Viel überzeugender geraten die intimeren Szenen. Das geheim gehaltene Familienleben wird auch visuell zum Gefängnis, die Konflikte finden auf engstem Raum statt. Die Einbeziehung der Kinder als Spielball der Erwachsenen (Leopold Görmar, Antonia Voigtmann) ist einer der besseren Einfälle des Abends.
Visuell ist die Szenerie größtenteils dunkel und grau in grau gehalten, bietet mit einem imposanten Tempel im Schlussbild und eleganten Kleidern (Bühne und Kostüme: Markus Meyer) aber durchaus etwas fürs Auge. Effektvolle Lichtstimmungen und Stroboskopeffekte (Licht: Michael Röger) verleihen jeder Szene eine passende Atmosphäre.
Wirklich überzeugende Gründe für einen Besuch der Leipziger “Norma” sind vor allem in der Musik zu finden. Letztlich geht es in der Belcanto-Oper um schönen Gesang, und schöneren als heute Abend wird man schwerlich zu hören bekommen. Allen voran ist hier Roberta Mantegna zu nennen, die in der Titelpartie darstellerisch sowie stimmlich alles und mehr gibt. Ihr Spiel ist jederzeit glaubwürdig, ihr gleichzeitig kraftvoller und lyrischer Sopran bewegt und beglückt durchweg. Schon der höllische erste Auftritt mit seinem Übermaß an technischen Herausforderungen (inklusive der berühmten Arie “Casta Diva”) gerät absolut umwerfend. Ob verletzte Gefühle, flammender Zorn oder tiefe Reue – Mantegna verleiht all diesen Emotionen überzeugend Ausdruck. Wundervoll! Doch auch die anderen Partien sind gut bis großartig besetzt: Kathrin Göring gestaltet Adalgisa mit Kraft und Überzeugung; ihre Duette mit Roberta Mantegna gehören zu den Höhepunkten des Abends. Andrea Shin agiert sängerisch und darstellerisch etwas zurückhaltender, zeigt aber ebenfalls eine durchweg sehr gute Leistung. Yorck Felix Speer beeindruckt mit kraftvollem Bass und trägt die zusätzliche Wagner-Arie “Norma il predisse” mit leidenschaftlichem Ernst vor, stapft aber etwas hölzern durch die Kulissen. Die Nebenrollen der Clotilde und des Flavio sind mit Ensemble-Neuzugang Maya Gour und Paweł Brożek stimmlich und darstellerisch adäquat besetzt. Der von Alexander Stessin bestens präparierte Chor und das hervorragend aufgelegte Gewandhausorchester vervollständigen die musikalisch beeindruckende Ensembleleistung des Abends. Dirigentin Yura Yang beweist von Beginn an, dass die Rolle des Orchesters sich auch im Belcanto nicht in lapidaren Begleitfiguren erschöpft, und arbeitet schon in der Sinfonia die Feinheiten von Bellinis Orchestersatz heraus. Sie reagiert zudem feinfühlig auf die Sänger:innen und trägt damit maßgeblich zum Gelingen der Aufführung bei. Der tosende Beifall des Publikums am Ende zeigt, dass sich ein Besuch der Leipziger “Norma” definitiv lohnt. Zumindest in musikalischer Hinsicht lässt sie wirklich nichts zu wünschen übrig.
Wer durch die negative Berichterstattung über die Inszenierung abgeschreckt wurde oder “Norma” nur für einen Lebensmittel-Discounter hält – hingehen!
Wertung:
Frank Sindermann