Andris Nelsons und das Gewandhausorchester besteigen einen mächtigen sinfonischen Berg, geraten dabei aber leider manchmal ins Straucheln.
Matterhorn (pixabay, CC0)
In einer Konzerteinführung für die Berliner Philharmoniker hat Herbert Blomstedt Bruckners 6. Sinfonie einmal mit einem gewaltigen Berg verglichen. Es sei zwar etwas anstrengend, diesen zu ersteigen, dafür werde die Mühe aber mit herrlichen Aussichten belohnt. Und er bringt noch ein weiteres Bild ins Spiel: Die vergleichsweise lange Spieldauer der Brucknerschen Sinfonien ergebe sich daraus, dass große Gedanken einfach Zeit brauchten – Bruckners Sechste sei eben eine Kathedrale, keine Dorfkirche.
Dass Anton Bruckners Sinfonien nicht nur für das Publikum eine große Herausforderung sind, sondern auch für die ausführenden Musiker_innen, stellt das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons im heutigen Großen Concert unfreiwillig unter Beweis. Ungeachtet vieler schöner Solopassagen, des wie gewohnt berückend zarten Streicherklangs und glänzender Blechbläserfanfaren erreicht die Aufführung insgesamt nicht das Niveau, das man vom Gewandhausorchester erwarten darf. Das Tutti ist oft viel zu dick und lässt klangliche Differenzierung weitestgehend vermissen; der logische Aufbau der Sätze wird nicht wirklich herausgearbeitet, sondern durch zahlreiche Ungenauigkeiten eher noch verschleiert. Dass Bruckners Sinfonien mehr sind als eine überlange Aneinanderreihung schöner Stellen, wird heute Abend jedenfalls nur bedingt deutlich. Die von Herbert Blomstedt angekündigten schönen Aussichten sind tatsächlich traumhaft schön, lassen aber heute den Aufstieg als besonders holprig erscheinen.
Das zweite Werk des Abends, Richard Wagners „Siegfried-Idyll“, gelingt deutlich besser. Nelsons nimmt sich Zeit, lässt die Musik atmen und hält doch alles elegant im Fluss. Sehr gefühlvoll – nicht kitschig – interpretiert Nelsons diesen musikalischen Liebesbeweis Wagners an seine Frau, dessen reduzierte Besetzung nur mit Bläserseptett und Streichorchester für Wagner-Verhältnisse erstaunlich schlicht wirkt. Zwischen warmen Streicherkantilenen und stilisiertem Vogelgesang entfaltet sich eine ganz besondere, fast intime Atmosphäre; dass diese durch unsensibles Husten im Publikum an den unpassendsten Stellen mehrfach fast ruiniert wird, gehört wohl zu den unvermeidbaren Ärgernissen des Konzertbetriebs.
Andris Dzenītis’ „Māra für Orchester“ erschließt sich zumindest nicht auf Anhieb, Kristine Opolais begeistert mit Auszügen aus Tschaikowski-Opern und Andris Nelsons gibt einen titanischen Mahler.
Das heutige Konzert des Gewandhausorchesters beginnt mit einer Uraufführung. Das etwa zwanzigminütige „Māra für Orchester“ des lettischen Komponisten Andris Dzenītis ist dessen Landsmann Andris Nelsons gewidmet und verdankt seine Entstehung einem Auftrag des Gewandhausorchesters und des Boston Symphony Orchestra. Laut Selbstauskunft des Komponisten wurde dieser durch „uralte Traditionen lettischer Folklore“ inspiriert, die indes kaum hörbar werden, sondern vor allem verschlüsselt den Noten eingeschrieben sind. Schon Johann Sebastian Bach verwendete oft Kreuzvorzeichen, wenn in einem vertonten Text von der Kreuzigung Jesu die Rede war; im Unterschied zum heute uraufgeführten Werk kann man mit der Musik jedoch auch etwas anfangen, ohne diesen Bezug zu kennen. Schon in der Renaissance wurden Effekte, die allein den Notenkundigen ins Auge fallen, wie beispielsweise schwarze Notenköpfe als Sinnbild der Nacht, als Manierismus kritisiert, und „Māra“ bietet diesen Manierismus in Reinkultur.
Denn was bleibt, wenn man die verbale und grafische Bedeutungsebene verlässt und sich allein auf das Klangerlebnis einlässt? Nicht viel. Einzelne Klangereignisse, oftmals zu Lasten der Streicher schlecht abgemischt, Leerlauf-Ostinati, die üblichen Klang-Eskalationen mit Blech und Gong, oftmals einfach ein sämiger, undifferenzierter Klangbrei. Dies alles ergibt für mich weder strukturell noch klangästhetisch viel Sinn. Wenn Dzenītis sagt, man erkenne seine Musik an „direkter Narration“, dann frage ich mich umso mehr, was er mir heute Abend eigentlich erzählen will. Alles in allem denke ich eher nicht, dass ein Werk wie „Māra“ einer Aufführung durch das Gewandhausorchester wirklich würdig ist. Die Musiker_innen des Orchesters scheinen das ähnlich zu sehen; Begeisterung sieht jedenfalls anders aus.
Als nächstes folgen Szenen aus Tschaikowski-Opern, die weder zu „Māra“ noch zur nachfolgenden Mahler-Sinfonie passen und ohnehin besser auf der Opernbühne aufgehoben sind. Die seltsame Konzeption des Konzerts einmal beiseite gelassen, überzeugt Weltstar Kristine Opolais mit emotionaler Einfühlung in die Rollen der Lisa und der Tatjana, wobei sie erstere vielleicht etwas überdramatisch angeht. Vor allem in Tatjanas Briefszene aus „Eugen Onegin“ trifft sie sehr genau deren Unsicherheit und Stimmungsschwankungen und lässt die Situation durch Mimik und Gestik so plastisch werden, wie dies im Rahmen einer konzertanten Aufführung nur möglich ist. Andris Nelsons und das Gewandhausorchester begleiten dezent und auf den Punkt, Oboe und Horn steuern wunderschöne Soli bei. Zwischen die Gesangsszenen hat man noch die brillant musizierte Polonaise aus „Eugen Onegin“ gesetzt und für kurze Zeit wähnt man sich im Wunschkonzert der Klassik.
Nach der Pause erklingt dann Mahlers 1. Sinfonie. Die Aufführung überzeugt von Anfang bis Ende und lässt die etwas unfokussierte Fünfte von Ende September vergessen. Wie Nelsons im ersten Satz das Entstehen der Musik aus dem Naturlaut zelebriert, den tänzerischen zweiten musikantisch feiert, im dritten den grotesken Trauermarsch über „Bruder Jakob“ klanglich abdämpft und es im Finale heroisch krachen lässt, ohne dabei die strukturelle Klarheit des Satzverlaufs zu vernachlässigen, ist durchweg bewundernswert. Immer spürt man, dass Nelsons einen bestimmten Zweck verfolgt, auf eine bestimmte Wirkung aus ist. Dass er stets bekommt, was er möchte, verdankt er (und verdanken wir) dem Gewandhausorchester, das sich heute Abend von seiner besten Seite zeigt. Herausforderungen und Fallstricke bietet Mahlers Partitur zuhauf – wie man sie scheinbar mühelos bewältigt, ist heute Abend zu erleben.
Schon die ersten Minuten wissen mit zartem Geigen-Flageolett und akzentuierten Klarinetten-, Horn- und Trompeten-Motiven zu überzeugen, und wenn dann die Celli mit warmem Klang das Hauptthema intonieren, möchte man dem Moment zurufen: „Verweile doch, du bist so schön!“ Aber dann würde man so viel Wunderbares verpassen in der kommenden Dreiviertelstunde – und wer möchte das schon?
Håkan Hardenberger begeistert mit Rolf Martinssons Trompetenkonzert „Bridge“, Andris Nelsons dirigiert Mahler V.
Motiv aus Rolf Martinssons Trompetenkonzert „Bridge“
Die oben gezeigten sechs Töne bilden das Hauptmotiv des Trompetenkonzerts „Bridge“ – zumindest habe ich sie so gehört. Dieses kurze Motiv erklingt unmittelbar vor dem ersten Einsatz der Solotrompete und eröffnet damit ein Werk, das mich sofort begeistert hat – intelligent, virtuos und sofort fasslich, vertraut und überraschend zugleich, modern, aber nicht abschreckend, melodiös, aber niemals anbiedernd, ist dem schwedischen Komponisten Rolf Martinsson ein Konzert gelungen, das einen festen Platz in den Spielplänen mehr als verdient hätte. Martinsson nimmt auf ein Hörabenteuer mit, das einem erkennbaren Weg folgt, aber an jeder Wegbiegung unerwartete Ausblicke präsentiert. Natürlich bedient sich Martinsson munter im Fundus der Musikgeschichte, klingt mal wie Debussy, mal wie Alban Berg (!) oder gar wie Rachmaninow oder bringt Jazz-Elemente ein – aber was soll’s, wenn es derart gut gemacht ist? Ähnlich wie das Trompetenkonzert Bernd Alois Zimmermanns beweist auch dieses Werk, dass aus Bekanntem durchaus Originelles und vor allem Berührendes entstehen kann. Den Theodor-W.-Adorno-Gedächtnispreis für innovatives Komponieren gewinnt man damit vielleicht nicht, aber es gibt Schlimmeres.
Martinsson hat das Konzert dem Trompeter Håkan Hardenberger gewidmet, der es auch heute Abend im Gewandhaus spielt, und reizt die unglaublichen Fähigkeiten des Widmungsträgers voll aus. Von kantablen Melodiebögen bis zu hochvirtuosen Hochgeschwindigkeits-Passagen lässt Martinsson keine Möglichkeit der Trompete ungenutzt. Hardenberger wird dem hohen technischen und musikalischen Anspruch des Konzerts in jeder Sekunde gerecht. Vor allem die namensgebenden Brücken, mit denen Hardenberger die Sätze verbindet, sind ein einziger Hörgenuss.
Einen wesentlichen Anteil am Gelingen hat auch das Gewandhausorchester, das sich unter Andris Nelsons’ Leitung (gezwungenermaßen) zum respektablen Klangkörper für Neue Musik mausert. Was Riccardo Chailly dereinst versprochen hat – mehr Ur- und Erstaufführungen zu dirigieren – setzt Nelsons konsequent um. Die Präzision und Virtuosität des Orchesters sind beeindruckend – vor allem in diesem immer noch ungewohnten musikalischen Kontext. Dieses Orchester kann tatsächlich alles. Die positive Reaktion des Publikums auf Martinssons Konzert darf als Ermunterung verstanden werden, diesen Weg weiter zu beschreiten.
Dass das Orchester alles kann, beweist es auch nach der Pause in Gustav Mahlers fünfter Sinfonie. Leider nützen die schönsten Hornsoli im Scherzo und das zarteste Streicher-Schmachten im Adagietto nichts, wenn diese exquisiten Zutaten nicht vom Koch zusammengefügt werden. Ich habe heute das Gefühl, dass Nelsons sehr an der Partitur entlang dirigiert, sich von einem Abschnitt zum anderen bewegt, ohne ein übergeordnetes Konzept zu verfolgen. Nun ist Nelsons ja auch in seinen Bruckner-Aufführungen und -einspielungen eher damit aufgefallen, den Klang auszukosten, als musikalisches Architekturstudium zu betreiben, aber heute hat mich dies erstmals gestört. Zugegeben, eine gewisse Zusammenhanglosigkeit liegt schon in der Partitur begründet; aber müsste man dann nicht gerade alles unternehmen, um das nebeneinander Stehende zu verbinden? Nelsons’ Aufführung der Dritten mit dem Boston Symphony Orchestra hat mir jedenfalls deutlich besser gefallen (https://brahmsianer.de/heiliger-bimbam).
Frank Sindermann
Tipp: Es gibt eine Aufnahme von Martinssons Trompetenkonzert mit Hardenberger beim Label „BIS“, die ich uneingeschränkt empfehlen kann.
27. September 2018, 20 Uhr Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester Andris Nelsons, Dirigent Håkan Hardenberger, Trompete
Schon vor Beginn des Konzerts ist alles anders. Während das Publikum noch seine Plätze einnimmt, sitzen die Musiker_innen des Boston Symphony Orchestra bereits auf dem Podium und spielen sich ein. Das klingt ein wenig nach Orchestergraben, weckt Vorfreude auf die Musik und wirkt deutlich nahbarer als der weihevolle Einzug europäischer Orchester.
Während das Orchester sich aufwärmt, bereite auch ich mich mental auf Mahlers 3. Sinfonie vor, die gleich beginnen und erst beachtliche 100 Minuten später verklungen sein wird.
Allein der erste Satz dauert über eine halbe Stunde und damit länger als so manche komplette Sinfonie. Andris Nelsons, Gewandhauskapellmeister und zugleich Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra (BSO), leitet das heutige Gastspiel des traditionsreichen amerikanischen Ausnahmeorchesters im Rahmen der zweiten Leipziger Boston-Woche und kaum ein anderes Werk des sinfonischen Repertoires wäre geeigneter, die Qualitäten des Orchesters zu präsentieren.
Schon die Eröffnung des Kopfsatzes lässt aufhorchen: Kraftvoll und klanglich bewundernswert homogen spielt das Hornoktett im Unisono jenes an Brahms angelehnte, aber völlig anders wirkende Thema, das Aufbruch verheißt, aber dann – ehe man sich’s versieht – kraftlos verebbt. Nachdem der Satz eben erst begonnen hat, scheint er bereits wieder am Ende zu sein. Fatalistische, kraftlose Schläge der Großen Trommel lassen an den Gang zum Richtplatz aus Mahlers Lied „Der Tamboursg’sell“ denken. Trompetenfanfaren schmettern in die Stille, ohne dass ihr Ruf etwas bewirkt. Es ist eine kalte, unwirtliche Welt, die Welt der unbelebten Materie, die Mahler hier kompositorisch so überzeugend wie verstörend in Tönen ausgedrückt hat, als überdimensionalen Auftakt seiner philosophisch aufgeladenen Sinfonie über Pflanzen, Tiere, Mensch und Gott. Andris Nelsons geht den ersten Satz sehr kontrolliert an und betont eher das Ungewisse, Geheimnisvolle dieser im Entstehen begriffenen Welt, ohne aber die krawalligen Marschpassagen allzu sehr zurückzunehmen. Die exzellente Qualität der Musiker_innen wird sowohl in den zahlreichen Soli dieses und der kommenden Sätze als auch im disziplinierten Zusammenspiel als Orchestertutti immer wieder deutlich. Dies gilt ausnahmslos an allen Pulten. Gelegentliche Ansatzprobleme der Hörner und andere kleinere Ungenauigkeiten lassen sich bei einer Liveaufführung eines derart anspruchsvollen Werks nicht ganz vermeiden; vor ihnen ist auch das Gewandhausorchester nicht gefeit. Auch die Klangbalance ist nicht immer ideal austariert, aber bei einer Sinfonie dieses Umfangs kann man schlicht nicht jeden Takt einzeln erarbeiten und klanglich feinabstimmen.
Nach dem ersten Satz mit seinem beifallheischenden Schlussgetöse fällt es dem begeisterten Publikum schwer, die Hände ruhig zu halten, was auch nur teilweise gelingt. Aber Begeisterung hin oder her: Das ungeschriebene Gesetz des Konzertsaals verlangt, dass man erst nach knapp zwei Stunden aufgestauter Emotionen jubelt. Stattdesen trinken Nelsons und seine Musiker_innen erst einmal einen Schluck Wasser, um sich für die Wegstrecke zu stärken, die noch vor ihnen liegt. Es ist bei weitem nicht die von Mahler verlangte zehnminütige Pause, aber immerhin ein deutliches Innehalten.
Die zweite Abteilung der Sinfonie mit ihren fünf Sätzen bietet mehr Spannendes und Hörenswertes als hier beschrieben werden kann. Der beinahe anachronistisch anmutende zweite Satz („Tempo di Minuetto“) mit seinen wunderbaren Holbläser-Soli, die gebrochene Wunderhorn-Romantik des dritten Satzes mit ihren Tierlauten von Kuckuck bis Esel und betörendem Posthornsolo aus der Ferne – dies alles ist ganz wundervoll musiziert.
Im vierten Satz geht es um den Menschen, verkörpert durch eine Altstimme. Susan Graham findet für den von Mahler ausgewählten Nietzsche-Text genau den richtigen Ausdruck. Mit emotionaler Anteilnahme, aber ohne alle Sentimentalität gestaltet sie den Menschen als fragendes, suchendes und leidendes Geschöpf, das sich gleichwohl stets seiner Würde bewusst bleibt. Das klingt nicht nur warm und edel, sondern überzeugt auch konzeptionell.
Und dann läuten die Glocken, echte und gesungene. Das fröhlich-naive „Bimm bamm“ des Kinderchores gehört zu den eigentümlichsten Einfällen dieser Sinfonie und wirkt zusammen mit dem Engelsgesang des Frauenchores („Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“) fast unfreiwillig komisch. Oder war das gar Mahlers Absicht? Der GewandhausKinderchor und die Damen des GewandhausChores absolvieren ihren kurzen Auftritt mit Bravour und müssen sich nicht hinter dem BSO verstecken, das hier aber leider manchmal etwas zu laut spielt und so seinerseits die vokalen Glöckchen und Engelein etwas zu weit in den Hintergrund rückt.
Der ausgedehnte Schlusssatz gehört für mich zu Mahlers beeindruckendsten Schöpfungen. Mit unendlich langem Atem, in sich ruhend, ist man hier beim Zuhören leicht „der Welt abhanden gekommen“ und vergisst völlig, wie lang diese Sinfonie inzwischen schon andauert. Als dann schließlich hymnische Schlussakkorde in strahlendem Dur diese seltsame und beeindruckende, experimentelle und konventionelle, wilde und sanfte, laute und leise, komplexe und naive Sinfonie beenden, kennt der Jubel kein Halten mehr und äußert sich in lang anhaltenden stehenden Ovationen.
Frank Sindermann
8. September 2018, 20 Uhr Gewandhaus, Großer Saal
Boston Symphony Orchestra Andris Nelsons, Dirigent Damen des GewandhausChores GewandhausKinderchor
Es ist 22:45 Uhr. Soeben sind die letzten Takte eines
Gewandhaus-Konzerts verklungen, das nicht nur das Orchester, sondern auch einen
großen Teil des Publikums an seine Grenzen gebracht haben dürfte. Auch ich
fühle mich, ehrlich gesagt, etwas erschlagen. Dies liegt aber nicht allein an
der schieren Länge des Programms, sondern vor allem an seinem hohen
musikalischen und emotionalen Anspruch.
Am Anfang des Konzerts steht ein gemeinsames Auftragswerk des Boston Symphony Orchestra und des Gewandhausorchesters. In der viersätzigen Komposition „Express Abstractionism“ setzt sich Sean Shepherd mit fünf Maler_innen des abstrakten Expressionismus auseinander, ohne jedoch einzelne Bilder musikalisch nachzumalen. Dies wäre auch schlechterdings unmöglich, schon allein wegen der prinzipiellen Unterschiede zwischen Malerei und Musik, andererseits aber auch wegen der geringen musikalischen Prägnanz der Shepherdschen Komposition, die konzeptionell und intellektuell durchaus von hoher Qualität sein mag – dies kann ich nach dem ersten Hören nicht beurteilen –, meinen Ohren allerdings als technisch anspruchsvolle Instrumentationsstudie erscheint, die man fast noch schneller vergisst, als man sie gehört hat. Während man in einem Museum die Möglichkeit hat, sich auf Form- und Farbstrukturen eines abstrakten Gemäldes einzulassen, um diese auf sich wirken zu lassen, erlaubt die Kürze der Sätze es kaum, sich in die jeweiligen Klangwelten einzuhören – fast, als würde man die Gemälde Richters oder Mondrians in einer Onlinegalerie durchscrollen. Die Knappheit der Darstellung führt hier leider zu einer eher oberflächlichen Annäherung. Der Titel sagt es schon: Es ist kein Expressionismus, sondern „Abstraktionismus“ im Expresstempo. Der Applaus für den Komponisten fällt höflich, aber nicht überschwänglich aus. Nelsons‘ Ansatz, mehr Neue Musik zu spielen, ist grundsätzlich großartig und wichtig, wie die Konzerte zur Amtseinführung vor einem Jahr eindrucksvoll bewiesen haben. „Express Abstractionism“ spricht mich persönlich weniger an.
Es folgt Dmitri Schostakowitsch’ 1. Cellokonzert, für das sich Weltstar Yo-Yo Ma als idealer Solist erweist. Dabei verleitet ihn seine emotionale Hingabe an die Musik nicht zu Übertreibungen: Den Beginn spielt er nicht mit überspitzter Dramatik, sondern so, wie es vom Komponisten notiert ist: allegretto und piano. Neben diesem begrüßenswerten Verzicht auf aufgesetzte Schroffheiten beeindruckt vor allem der intensive, fast intime Dialog des Cellisten mit Andris Nelsons, der sehr flexibel auf ihn reagiert. Das Orchester spielt schlicht phänomenal: Der ätherische Fis-Moll-Einsatz der gedämpften Streicher im zweiten Satz tönt wie aus einer anderen Welt herüber, das Horn klingt warm und edel. Schade finde ich, dass die Hörner zu selten wirklich leise spielen. Nehmen wir gleich die Solopassage im zweiten Satz: Sie beginnt mezzopiano espressivo, es folgen die Anweisungen pianissimo, piano und danach wird es nochmals leiser. Im Grunde sind diese Unterschiede heute Abend kaum auszumachen. Ich würde auf derartige Details gar nicht weiter eingehen, wenn ich nicht wüsste, dass es hier um eines der weltbesten Orchester geht, um die „Champions League“, wie Gewandhausdirektor Schulz es gerne nennt. Der dritte Satz besteht aus einer großen Solokadenz, die Yo-Yo Ma ganz im Geiste Bachs angeht. Im rhythmisch vertrackten Finalsatz lässt dann die Präzision des Orchesters etwas nach, was den hervorragenden Gesamteindruck aber kaum trüben kann. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich kein Schostakowitsch-Fan bin – nach solch einer Aufführung könnte ich fast einer werden.
Nach der Pause hat Yo-Yo Ma gleich einen weiteren Einsatz als Solist. Leonard Bernsteins „Three Meditations“ aus der musiktheatralischen Anti-Messe „Mass“ zeigen den Komponisten, der als solcher von der Kritik lange nicht ernst genommen wurde, von einer eher unbekannten Seite. Sowohl den introvertierten Stil der drei Sätze als auch die Hinwendung zu Atonalität und Zwölftontechnik würde man zunächst kaum mit dem Komponisten der „West Side Story“ verbinden. Entsprechend groß ist meine Neugier; als die letzte der Meditationen verklungen ist, bleibe ich allerdings mit gemischten Gefühlen zurück. Einigen sehr berührenden Momenten stehen Phasen gegenüber, in denen die Musik gleichsam auf der Stelle tritt. Auch die manchmal sehr unvermittelten Stilbrüche überzeugen mich nicht so recht. Es ist bezeichnend, dass die dritte Meditation in jenen Momenten besonders wirkungsvoll ist, in denen sie am meisten an Aaron Coplands „Appalachian Spring“ erinnert. Der wieder sehr hingebungsvolle Yo-Yo Ma und Andris Nelsons bemühen sich redlich um einen Spannungsbogen und halten die sehr heterogene Komposition auch in bewundernswerter Weise zusammen – allein, ich bin nicht überzeugt. Leonard Bernstein, der dieses Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, war zweifellos ein bedeutender Komponist, aber die „Three Mediatations“ sind meines Erachtens nicht besonders gut geeignet, dies zu beweisen.
Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ bildet den Abschluss des Konzerts, das ja nicht nur die 238. Gewandhaus-Saison, sondern zugleich auch die zweite Boston-Woche eröffnet. Da Bartók das Werk direkt für das Boston Symphony Orchestra komponiert hat, passt es ideal in dieses intelligent gebaute, fast schon allzu ambitionierte Konzert. Leider wird an mehreren Stellen deutlich, dass die Zeit bereits vorgerückt und die Aufmerksamkeit im Orchester – und Publikum – nicht mehr ganz so frisch ist wie am Anfang des Abends. Besonders im enorm anspruchsvollen Finalsatz reicht die Konzentration nicht mehr für musikalische Höchstleistungen. Was die wunderbaren Soli des zweiten Satzes verheißen, wird so am Ende leider nicht ganz eingelöst.
Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck. Das Programm war
ohne Frage abwechslungsreich und anspruchsvoll, dabei aber deutlich zu lang und
angesichts der Überlänge für alle Beteiligten etwas zu anstrengend. Daran
änderte auch Ausnahmekünstler Yo-Yo Ma nichts, der als Musiker, aber auch als
Botschafter für kulturellen Austausch höchste Anerkennung verdient.
Frank Sindermann
31. August 2018, 20 Uhr Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester Leipzig Andris Nelsons, Dirigent Yo-Yo Ma, Violoncello
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