Musikalische Experimente

Alan Gilbert dirigiert drei Werke mit einer großen Gemeinsamkeit: Sie gehen neue Wege.

Beethoven bei der Komposition der Pastorale (Detail; 1834)

Es ist ohne Frage ein sehr kontrastreiches Programm, das Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, in den Konzerten dieser Woche im Gewandhaus dirigert. Und doch verbindet die Werke von Sibelius, Copland und Beethoven ein erkennbarer Wille zur musikalischen Innovation, zum Neu- und Weiterdenken althergebrachter Muster und Strukturen.

So lässt Sibelius in seiner sinfonischen Dichtung „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“ das Pferd derart monoton durch die Nacht galoppieren, dass gar Vergleiche zur Minimal Music gezogen wurden; Aaron Copland tariert in seiner Orgelsinfonie die Länge und Bedeutung der drei Sätze neu aus und Ludwig van Beethoven fügt seiner Sinfonie Nr. 6, der sogenannten „Pastorale“, nicht nur einen seinerzeit sehr unüblichen fünften Satz hinzu, sondern geht überdies in der Gewitterszene selbstbewusst den Weg von der Melodie zum Geräusch.

Wie auch schon bei seiner überzeugenden Smetana-Interpratation in der vergangenen Spielzeit (https://brahmsianer.de/fokus-boehmen-smetana), erweist sich Alan Gilbert auch heute als umsichtiger Dirigent, der uneitel die Musik in den Vordergrund stellt und dabei ein hohes Maß an klanglicher Differenzierung erzielt. Selbst ein Werk wie Sibelius’ „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“, das ich immer als etwas langatmig und ermüdend empfand, gewinnt durch Gilberts eher analytischen Ansatz deutlich an Kontur. Dies funktioniert selbstverständlich nur, wenn man einen Klangkörper wie das Gewandhausorchester zur Verfügung hat, bei dem die einzelnen Instrumente tatsächlich wie Teile eines großen Organismus agieren, die für sich allein ebenso überzeugen wie als Ganzes.

In Michael Schönheits Interpretation von Aaron Coplands Orgelsinfonie – das hier schon zum dritten Mal auf dem Programm steht – verschwimmen die (rhythmischen) Konturen mitunter zwar etwas, jedoch wird dies durch das engagierte Spiel des Gewandhausorganisten mehr als ausgeglichen. Durch eine jederzeit spürbare persönliche Identifikation mit dem Werk schafft es Schönheit, das Feuer ins Publikum zu tragen und erhält dafür zu Recht begeisterten Applaus.

In der zweiten Konzerthälfte präsentiert Gilbert eine Konsens-„Pastorale“ im besten Sinne, die sehr dicht an der Partitur bleibt und sich von bräsiger Klangschwelgerei ebenso fern hält wie von gewollten Knalleffekten und betonter Nüchternheit. Es ist ein Beethoven des 21. Jahrhunderts: Die romantisierende Sicht eines Herbert von Karajan ist ebenso überwunden wie die Klangaskese des frühen Harnoncourt; die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis haben den Orchesterklang verschlankt und flexibilisiert, ohne seine Sinnlichkeit zu opfern. Abgesehen von den zwar laut, aber zu hell klingenden Pauken in der Gewitterszene und dem etwas zu drängenden, unentpannten Charakter des Schlusssatzes überzeugt mich diese Interpretation voll und ganz – nicht zuletzt aufgrund zahlreicher schöner Soli, von denen hier stellvertretend Nachtigall (Flöte), Wachtel (Oboe) und Kuckuck (Klarinette) am Ende des zweiten Satzes genannt seien.

Dass der Applaus nach dieser wirklich hörenswerten „Pastorale“ zunächst völlig ausbleibt und sich erst nach einer aufmunternden Geste des Dirigenten Bahn bricht, liegt wohl weniger an der Aufführung selbst als an einem quasi-religiösen, bierernsten Konzertwesen, in dem man lieber gar nicht klatscht als an der falschen Stelle oder als einzige(r). Je länger der Applaus ausbleibt, desto größer wird die Hemmung, den Anfang zu machen – Gruppendynamik à la Gewandhaus.

Frank Sindermann

6. Februar 2020
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Michael Schönheit, Orgel

Der „Ring“ in Leipzig (2020)

Seit einigen Jahren hat die Oper Leipzig wieder ihren eigenen „Ring“. Seither wurde fast die gesamte Besetzung ausgetauscht – Grund genug für einen erneuten Besuch.

Szene aus „Die Walküre“ | Foto Tom Schulze 2013

Das Rheingold

Wenn Selfies mit der Wagner-Büste gemacht, Partituren im XL-Format herumgetragen werden und ein Besucher seine wiedergefundene Begleitung fragt: „Hattest du den Tarnhelm auf?“ – dann kann das nur eines bedeuten: In Leipzig wird einmal mehr Wagners „Ring des Nibelungen“ gegeben! Die diesjährige Januar-Aufführung findet innerhalb einer Woche am Mittwoch, Donnerstag, Samstag und Sonntag statt.

Die erste der vier Opern des „Rings“, „Das Rheingold“, erzählt die Vorgeschichte der Handlung; gleichzeitig ist sie durch ihre märchenhafte, teils komödiantische Handlung und die vergleichsweise kurze Spieldauer die zugänglichste der vier. Inzwischen ist Rosamund Gilmores Leipziger „Rheingold“-Inszenierung sieben Jahre alt – ob sie sich gut gehalten hat?

Aber ja! Gilmores werktreuer Ansatz funktioniert heute ebenso gut wie zur Premiere, reißt niemanden vor Begeisterung vom Hocker, treibt aber auch keinen vor Wut auf die Barrikaden. Gilmore betont die humoristischen Elemente der Oper und setzt Tänzer_innen als „mythische Elemente“ ein, die wahlweise schuftende Nibelungen oder eine Riesenschlange symbolisieren, an anderer Stelle schlicht die Bühne schrubben oder Möbel schleppen. Letzteres ist durch Carl Friedrich Oberles schlichtes Einheitsbühnenbild bedingt, das durch sinnfällige Lichtregie mal die Tiefe des Rheins, mal Bergeshöhen oder das unterirdische Nibelheim darstellt.

Der „Ring“ stellt alle Ausführenden bekanntlich vor enorme Herausforderungen. Dies gilt nicht nur für die teils exorbitant schweren Gesangspartien, sondern auch für das Orchester, welches in Wagners Musiktheaterkonzeption eine entscheidende Rolle spielt. Schon der geheimnisvolle Beginn des Vorspiels, das sich vom abgrundtiefen Kontrabass-Es bei gleichbleibender Harmonik permanent steigert, verlangt ein Höchstmaß an Orchesterkultur. Das Gewandhausorchester hat in den letzten Jahren viel Wagner gespielt und auch das „Rheingold“ steht heute bereits zum 20. Mal auf dem Spielplan – entsprechend souverän und überzeugend klingt das Ergebnis. Wagner-Experte Ulf Schirmer entlockt seinem Orchester betörende Klangfarben und nimmt sich Zeit, die Musik atmen zu lassen. Es ist ein Wagner ohne Effekthascherei und künstliche Theatralik, der durch viele gelungene Details für sich einnimmt. Je nach Geschmack kann man das auch langweilig oder routiniert nennen – mir gefällt’s! Als echter Flop sind jedoch die digitalisierten Hammerschläge in der Nibelheim-Verwandlungsmusik zu verbuchen, die in einem Video von Ulf Schirmer als große Errungenschaft angekündigt wurden, sich aber in der Praxis als künstlich klingende, billige Notlösung entpuppen. Niemand verlangt, dass 18 Ambosse live geschlagen werden, aber wenn schon digital, dann bitte wenigstens im Takt!

Sehr erfreulich stellt sich die Situation bei den Gesangssolistinnen und -solisten dar. Kay Stiefermann gibt einen hervorragenden Alberich, dessen Wandlung vom liebeshungrigen Tölpel zum neureichen Angeber und schließlich zum gedemütigten Verlierer brillant gespielt und weitgehend ermüdungsfrei gesungen ist. Mit berührender Intensität singt Stephan Klemm den Riesen Fasolt, dessen Schicksal dadurch umso mehr bestürzt. Thomas Mohr verkörpert einen energisch treibenden Loge und wird dabei sowohl der humoristischen als auch der unheimlichen Seite der Rolle gerecht. Iain Paterson als Wotan enttäuscht ein wenig. Dass der Göttervater oft nur apathisch herumsteht und kaum einmal starke Emotionen zeigt, passt zwar zur Rolle dieser passiven und lethargischen Gestalt, geht mir dann aber doch zu weit. Wotan ist zwar ein schwacher Charakter, aber keine langweilige Figur, als die er heute erscheint. Auch stößt Paterson in den hochdramatischen Passagen an stimmliche Grenzen und kämpft auch gegen Ende etwas mit seiner Kondition. Kathrin Göring überzeugt als Göttergattin Fricka durchweg, steigert sich allerdings in der „Walküre“ noch einmal deutlich. Karin Lovelius gestaltet Erdas düstere Mahnung an Wotan schauspielerisch als wahren Gänsehaut-Moment und überzeugt auch stimmlich vollauf.

Die übrigen Rollen sind insgesamt gut besetzt, wobei besonders Dan Karlström hervorzuheben ist, der hier als unglücklicher Zwerg Mime schon einen Vorgeschmack auf seine Glanzleistung im „Siegfried“ gibt.

Fazit des ersten Tages: Rosamund Gilmores Inszenierung funktioniert nach wie vor und zeichnet sich durch tänzerische Dynamik und bühnenwirksame Bilder (Alberichs Verwandlung in eine Schlange!) aus. Das Solist_innenensemble überzeugt zum größten Teil, das Gewandhausorchester ebenso.

Lesen Sie auf der zweiten Seite: „Die Walküre“

Fragen über Fragen

Mit einem ebenso abwechlungsreichen wie anspruchsvollen Programm gibt der israelische Dirigent Lahav Shani sein erfolgreiches Gewandhaus-Debut.

Lahav Shani | Foto: Marco Borggreve

Leise, ganz leise setzen die Streicher des Gewandhausorchesters an und bereiten damit jener Frage der Trompete den Grund, die sich auch durch die zunehmend aggressiven Einwände der Holzbläser nicht zum Schweigen bringen lässt. Schon nach wenigen Minuten ist Charles Ives‘ „The Unanswered Question“ vorüber – die Frage bleibt unbeantwortet, die ätherische Klangfläche der Streicher verklingt im unhörbaren Nirgendwo. Das lässt sich nicht besser spielen und man fragt sich, warum dieses wunderbare Orchester dieses ebenso wunderbare Stück ganze achtzehn Jahre lang nicht gespielt hat.

Mahlers Rückert-Lieder werfen ebenfalls Fragen auf, jedoch keine angenehmen: Wie kann es sein, dass ein so berühmter und weltweit gefragter Bariton wie Matthias Goerne eine derart enttäuschende Mahler-Interpretation abliefert? Dass er die Spitzentöne kaum einmal souverän aussingt, sich immer wieder vom – durchaus nicht zu laut spielenden – Orchester übertönen lässt, die Textverständlichkeit übermäßigem Vibratoeinsatz opfert und manche musikalische Phrase durch sinnwidrige Zwischenatmungen zerreißt? Vielleicht ein schlechter Tag? Gewiss, Matthias Goernes dunkel timbrierter, samtiger Bariton klingt immer noch fast so schön wie zu seinen Glanzzeiten und seine gestalterischen Fähigkeiten sind ebenso unbestritten wie sein inneres Engagement; an den stimmlichen Problemen ändert dies jedoch leider nichts. Da kann der Dirigent noch so subtile Farben aus dem Orchester zaubern und Gundel Jannemann-Fischer noch so betörend ihr Englischhorn-Solo spielen: Diese Aufführung ist keine Sternstunde des Liedgesangs.

Hat Lahav Shani, der in diesem Konzert sein Gewandhaus-Debut gibt, sich bisher dezent im Hintergrund gehalten, so geht er bei den „Manhattan Broadcasts“ des aktuellen Gewandhauskomponisten HK Gruber deutlich mehr aus sich heraus und bringt das ehrwürdige Gewandhausorchester gehörig zum Swingen. Gruber schrieb die beiden kurzen, jazzigen Stücke im Alter von siebzehn Jahren, was vielleicht ihren jugendlichen Übermut erklärt. Gleichzeitig ist diese Unterhaltungsmusik überaus originell und kompositorisch sowie spieltechnisch anspruchsvoll. Immer wieder biegt Gruber überraschend auf Seitenwege ab, statt auf allzu ausgetretenen Pfaden zu wandeln. Das Orchester macht bei dieser eher untypischen Musik eine sehr gute Figur und lässt mehr als nur einen Funken überspringen. Am Ende nimmt der anwesende Komponist den begeisterten Applaus des Publikums entgegen – für Musik, die er vor über fünfzig Jahren geschrieben hat!

Mit Kurt Weills zweiter Sinfonie vollbringt Lahav Shani schließlich eine wahre Meisterleistung. Mit vollem Körpereinsatz und unbändiger Energie beweist der erst dreißigjährige Dirigent hier und heute, warum diese zugängliche, aber sich niemals dem Mainstream anbiedernde Sinfonie viel öfter gespielt werden müsste. Obwohl er ohne Partitur dirigiert(!), achtet Shani auf jedes noch so kleine Detail und fügt die wunderbaren Solo-Beiträge von Flöte bis Trompete zu einem faszinierenden Gesamtbild. Manchmal gerät ihm, vor allem im dritten Satz, im Eifer des Gefechts das Klangbild etwas verwaschen und intransparent, doch das verzeiht man angesichts dieser kraftvollen, emphatischen Interpretation gern. Und so stellt sich mir am Ende nur noch eine letzte Frage: Wird Lahav Shani wohl wieder eingeladen? Ich würde es mir wünschen!

(Frank Sindermann)

21. November 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Lahav Shani, Dirigent
Matthias Goerne, Bariton

Herz und Kopf

Der 93-jährige Herbert Blomstedt begeistert im Gewandhaus mit Sinfonien von Haydn und Brahms.

Seltener Gast im Gewandhaus: Joseph Haydn | Bild: gemeinfrei

Ein Konzert mit Herbert Blomstedt ist stets ein besonderes Erlebnis. Dies liegt längst nicht nur am Nimbus, den sein hohes Alter mit sich bringt, an der Bewunderung dafür also, dass ein Mann von 93 Jahren noch Sinfoniekonzerte dirigiert; vielmehr ist es die Ausstrahlung des Menschen Herbert Blomstedt, dem es stets um mehr als die Musik ging. Sein christlich fundierter Humanismus, sein Respekt für die Menschen, mit denen er arbeitet und sein bescheidener Lebensstil, dem alle Selbstdarstellung fremd ist, haben ihn zu einem Dirigenten gemacht, den das Publikum nicht nur bewundert, sondern liebt.

In der Spielzeit 2019/20 wird Herbert Blomstedt im Gewandhaus einen kompletten Zyklus der Brahms-Sinfonien dirigieren, der auch auf Tonträger veröffentlicht werden soll. Den Anfang macht diese Woche Brahms’ erste Sinfonie, die mit Joseph Haydns letzter, der Nummer 104, kombiniert wird. Dies ergibt insofern Sinn, als Brahms selbst große Stücke auf Haydns Musik hielt. Unabhängig davon ist ausdrücklich jede Haydn-Sinfonie zu begrüßen, die sich einmal ins Gewandhaus-Programm verirrt.

Das Gewandhausorchester zeigt jedenfalls eindrucksvoll, dass es diese leicht wirkende und dabei so schwere Musik nicht nur spielen kann, sondern auch sichtlich Spaß daran hat. Dies ist nicht zuletzt Herbert Blomstedt zu verdanken, der zwar mittlerweile im Sitzen dirigiert, dabei aber nichts von seiner ansteckenden Begeisterung eingebüßt hat.

Die Einleitung des Kopfsatzes kommt zwar etwas spannungsarm daher, dafür überzeugt der Allegro-Teil mit Schwung und feiner klanglicher Differenzierung. Ausdrucksmäßige Extreme darf man bei Blomstedt nicht erwarten und würde sie auch vergebens suchen – hier bleibt der Humor hintersinnig, die Freude maßvoll. Zum Höhepunkt der Aufführung wird für mich das lyrische Andante, dessen schlichte Eleganz auch die dramatischeren Einwürfe nicht dauerhaft stören können. Das Menuett geht Blomstedt eher zurückhaltend an, was ihm etwas von dessen rhythmischem Drive nimmt; dafür darf im Finalsatz der Bordun brummen, dass es eine Freude ist, und die Musikerinnen und Musiker des hochmotivierten Gewandhausorchesters dürfen ihrer Spiellaune freien Lauf lassen. So macht Haydn Spaß – mehr davon, bitte!

Brahms wird im Gewandhaus deutlich häufiger gespielt – die letzte Aufführung der c-Moll-Sinfonie liegt noch kein Jahr zurück. Im Grunde genommen wurde dieses Werk hier und anderswo bereits derart häufig aufgeführt und eingespielt, dass ich mich gespannt frage, was Herbert Blomstedt den zahllosen bisherigen Sichtweisen auf dieses Werk heute Abend hinzufügen wird.

In seiner Interpretation zieht Blomstedt die Summe seiner Erfahrung, sie ist das Resultat lebenslanger Studien und Aufführungen. Blomstedts Brahms ist eine Art Durchschnitt der Möglichkeiten, ein Vermeiden jeglicher Extreme oder positiv ausgedrückt: ein goldener Mittelweg. Blomstedt hat in einem Interview angemerkt, Brahms spreche das Gefühl und den Verstand gleichermaßen an, und auch in der heutigen Aufführung kommen beide zu ihrem Recht.

Bereits der Anfang des ersten Satzes mag hierfür als Beispiel dienen. Das Tempo ist recht zügig, doch nicht zu schnell gewählt, die aufsteigenden chromatischen Linien der Streicher sind gut gegen die fallenden Holzbläser-Terzen abgehoben, die monotonen Paukenschläge sind prägnant, aber nicht überpräsent. Blomstedt gibt der Musik die Zeit, die sie braucht, lässt im zweiten Satz die fabelhaften Solistinnen und Solisten des Orchesters ihre Melodien aussingen (Oboe, Klarinette, Fagott!) und bereitet schon im intermezzohaften dritten Satz die Bühne für das große Finale. Hier, in dieser genialen Beethoven-Hommage, greift alles ideal ineinander: das wunderbar aufgeraut, gleichsam alphornhaft gespielte Hornthema, der würdevolle Posaunen-Choral und das in sich ruhende Hauptthema, die stringenten dynamischen Steigerungen und der grandiose Zusammenbruch in Takt 285. Dabei bleibt, wie schon beim Haydn, alles im Rahmen des guten Geschmacks. Umso überraschender wirkt es dann, wenn es doch einmal etwas derber zugeht. Derart eingehämmert wurde mir das siebenfache „G“ der Pauke vor dem finalen „Più allegro“ jedenfalls noch nie.

Die Standing Ovations am Schluss sind an diesem Abend keine Überraschung. Ob sie in erster Linie dem Musiker oder dem Menschen Herbert Blomstedt gelten, ist dabei schwer zu sagen. Jedenfalls ist es ihm und dem Gewandhausorchester offenbar aufs Neue geglückt, dem Publikum jene wahre Freude zu vermitteln, von der die Saalinschrift kündet – verum gaudium für Herz und Kopf.

Frank Sindermann

28. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent

200 Jahre Clara Schumann

Im Eröffnungskonzert der Clara-Schumann-Festwochen spielt Lauma Skride deren Klavierkonzert mit Bravour. Zuvor erleben Betsy Jolas’ „Letters from Bachville“ ihre Uraufführung.

Lauma Skride | © Marco Borggreve

Uraufführung im Gewandhaus. Noch bevor ich den Saal betrete, sehe ich sie vor meinem inneren Auge: die zu erwartende übertrieben große Orchesterbesetzung, die zahlreichen, Trommeln, Gongs, Röhrenglocken, Klavier, Celesta etc. Ich trete ein und finde meine Vorahnung bestätigt. Seufzend lese ich das Programmheft mit dem Fragebogen, den in diesem Fall die renommierte französische Komponistin Betsy Jolas ausgefüllt hat. Sie wolle, so schreibt sie, mit ihrer Musik kommunizieren, verbinde mit dem Gewandhausorchester Johann Sebastian Bach und ihr neues Werk werde umherschweifen. So wenig ich mit derartigen Aussagen anfangen kann – in diesem Punkt stimme ich der Komponistin nach dem Hören ihres neuen Werkes zu: Es schweift tatsächlich umher, von hier nach dort, ohne erkennbare Richtung. Da es den Titel „Letters from Bachville“ trägt, erklingen natürlich die Töne B-A-C-H und es werden Melodien des Thomaskantors zitiert, die in diesem atonalen Umfeld ungefähr so passend wirken wie deutsche Sätze in einem finnischen Roman. Zwar weist die Programmheft-Einführung darauf hin, dass „Letters“ ja nicht nur Buchstaben, sondern auch Briefe seien – allein, der punktuelle, aphoristische Charakter der Musik lässt zumindest für mich nichts Kohärentes entstehen, das an einen Brief erinnerte. Andererseits gibt es ja auch kurze Briefe. So schrieb Friedrich der Große an Voltaire den kürzestmöglichen Brief überhaupt: „I“ heißt es darin in denkbar knappem Latein, „Geh!“. Heute Abend also die „Briefe“ B, A, C, und H?

Clara Schumanns Klavierkonzert, das heute im Mittelpunkt des Interesses steht, ist zwar inzwischen gut auf Tonträgern dokumentiert, fristet im Konzertleben aber immer noch ein Schattendasein. Ann-Katrin Zimmermann wirft im Programmheft die interessante Frage auf, ob man dieses Konzert auch dann noch heute spielen würde, wenn es nicht von einer Frau komponiert worden wäre. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass dies nicht der Fall wäre, freue ich mich doch, jenes Werk einmal im Konzert zu erleben, das die sechzehnjährige Clara 1835 im Gewandhaus uraufgeführt hat.

Dies gilt noch mehr, wenn das Konzert derart überzeugend gespielt wird wie am heutigen Abend von Lauma Skride, die nicht nur die hohen technischen Hürden mühelos überspringt, sondern auch der Poesie den nötigen Raum gibt. Das gilt vor allem für das wunderschöne Duett mit dem Solocello im originellen zweiten Satz.

Nach der Pause erklingt Robert Schumanns sogenannte „Frühlingssinfonie“. Das Gewandhausorchester hat sich schon im Klavierkonzert von seiner besten Seite gezeigt, legt aber nun noch eine ganze Schippe drauf, was Klangschönheit, rhythmischen Drive und Spielfreude anbelangt. Dies liegt nicht zuletzt an Andris Nelsons, der trotz Sicherheits-Partitur auf dem Pult seinen Schumann bestens kennt und alles aus dem Orchester herausholt. So spannungsgeladen hört man die Durchführung des ersten Satzes kaum einmal, so fein ausgearbeitet das Larghetto selten, das Scherzo fast nie so tänzerisch und niemals ein derart klanglich aufpoliertes Finale. Dieses Orchester IST Schumann, Punkt.

Frank Sindermann

12. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Lauma Skride, Klavier

Meer als genug

Andris Nelsons eröffnet die 239. Gewandhaus-Saison mit Mozart, Debussy und Strawinsky.

Katsushika Hokusai: „Die große Welle vor Kanagawa“

Die Pressemappe zur 239. Gewandhaus-Saison wirbt mit dem Slogan „Frischer Wind überall“, was mir doch etwas übertrieben erscheint: Der Bruckner-Zyklus wird fortgesetzt, Herbert Blomstedt dirigiert Brahms, zum Jahreswechsel erklingt Beethovens Neunte, das Stadtteilprojekt geht weiter, es gibt mit HK Gruber einen zweiten Gewandhaus-Komponisten etc. Das ist alles durchaus erfreulich – aber frischer Wind?

Das Programm des Eröffnungskonzerts ist jedenfalls deutlich weniger ambitioniert als vor einem Jahr (https://brahmsianer.de/auftakt-in-ueberlaenge), aber dafür klug zusammengestellt. Gerade die Kombination von Debussys „La Mer“ und Strawinskys „Feuervogel“-Suite überzeugt, zeigt sie doch spannende Parallelen dieser auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Musik auf. Hierzu hätte auch Bartóks 3. Klavierkonzert sehr gut gepasst, das wegen einer Absage des Pianisten András Schiff leider entfällt.

Am Anfang des Konzerts steht nun stattdessen Mozarts Klavierkonzert G-Dur KV 453, das Martin Helmchen sehr klangschön und sensibel spielt. Es ist ein introvertierter, fast melancholischer Mozart, den wir in den ersten beiden Sätzen hören; im abschließenden Variationensatz herrscht dann reine Spielfreude. Das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons hält sich über weite Strecken dezent im Hintergrund, setzt aber immer wieder auch eigene Akzente. Aufhorchen lassen vor allem die fabelhaften Holzbläser, die sich allerdings klanglich nicht immer gegen das Klavier durchsetzen können. Alles in allem eine sehr geschmackvolle, stilsichere Aufführung, die Lust auf mehr Mozart im Gewandhaus macht! Als Zugabe spielt Helmchen den langsamen Satz aus der Klaviersonate KV 332 – als intimes Selbstgespräch in vollendeter Klangkultur.

Genau jene Klangkultur vermisse ich nach der Pause in Debussys „La Mer“ hin und wieder. Während der wunderbar zarte, schwebende Beginn noch Anlass zu schönster Hoffnung gibt, wird die filigrane Struktur der Komposition im weiteren Verlauf des ersten Satzes ungeachtet schöner bis schönster Details nicht immer klar genug herausgearbeitet. Vor allem dessen Ende gerät Nelsons im Überschwang der Emotionen allzu effekthascherisch und laut. Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen. †††††††††††

Der zweite Satz ist ein wahres Fest großartiger Soli von Flöte, Oboe, Klarinette, Trompete, Harfen, … und ist klanglich deutlich besser abgemischt. Den dritten Satz präsentiert Nelsons als spannungsgeladenen Kampf der Elemente, dessen rhythmisch vertrackten Schluss er mustergültig realisiert.

Im „Feuervogel“ stimmt dann praktisch alles: Das schwermütige Wiegenlied gelingt ebenso überzeugend wie der wahnsinnige Tanz des bösen Königs, der anmutig schwebende Tanz des Feuervogels ebenso wie das prächtige Finale. Begeisterter Applaus für einen sehr gelungenen Saisonauftakt.

Frank Sindermann

31. August 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Martin Helmchen, Klavier

Musikalische Motten

Malte Arkona moderiert ein spaßiges, wenn auch nicht sonderlich originelles Familienkonzert, wobei ihm eine sehr alte Motte behilflich ist.

Malte Arkona © Urban Ruths

Im heutigen Familienkonzert des Gewandhauses steht Beethovens c-Moll-Klavierkonzert auf dem Programm. Malte Arkona moderiert die Veranstaltung in gewohnt launiger Manier und erkundet gemeinsam mit den Kindern die Geheimnisse des Klaviers. Dabei hilft ihm eine Motte, die in einem Koffer seit Beethovens Zeiten überlebt hat und so einiges vom Meister zu berichten weiß.

Pianist Igor Levit und Dirigent Herbert Blomstedt stehen dem scheinbar naiven Moderator geduldig Rede und Antwort und erklären, wie der Klavierton mittels eines Hammers erzeugt wird oder dass die Reaktionen und Geräusche des Publikums entscheidend zur Musik beitragen. Geräusche gibt es trotz der überwiegend jungen Zuhörenden übrigens kaum, und wenn doch einmal, dann eher von Kindern deutlich unterhalb der Altersempfehlung.

Malte Arkonas charmante Art und nette Ideen wie selbstgebastelte Motten am Stab machen den Kindern sichtlich Spaß, können aber nicht ganz darüber hinwegtäuschen, dass es schon originellere Familienkonzerte gab. Das ansprechende Programmheft mit kurzen, weitgehend kindgerechten Infos zu Beethoven enthält auf der letzten Seite fünf Fragen für „Konzertdetektive“, von denen leider im Konzert nur zwei beantwortet werden.

Frank Sindermann

30. März 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent
Igor Levit, Klavier
Malte Arkona, Moderation

Pianissimo

Igor Levit spielt Beethovens c-Moll-Konzert eher poetisch als rebellisch, Herbert Blomstedt hält ein Plädoyer für Wilhelm Stenhammar.

Wilhelm Stenhammar | public domain

Für mich beginnt das Konzertvergnügen im Gewandhaus oft bereits mit Ann-Katrin Zimmermanns Programmheft-Texten, die sich neben der Fülle an sachlichen Informationen vor allem durch ihre kreative und bildhafte Sprache auszeichnen. Dass Zimmermann in ihrer offensichtlichen und ansteckenden Begeisterung für die Musik und ihre Vermittlung bisweilen etwas über das Ziel hinausschießt und auch vor Kitsch und Pathos nicht immer zurückschreckt, ändert nichts daran, dass ihre Texte mir wirklich Freude machen.

Im heutigen Konzert muss ich allerdings etwas schmunzeln, da der russische Pianist Igor Levit Beethovens c-Moll-Konzert völlig anders interpretiert, als Zimmermanns Programmheftbeitrag vermuten ließe. Liest sich ihr Text wie ein Thriller, in dem Klavier und Pauke ein Duell auf Leben und Tod ausfechten, betont Levit eher die poetische Seite dieses wundervollen Werks und stößt vor allem im langsamen Satz an die Grenzen des Unhörbaren vor. Auch das Gewandhausorchester unter Leitung seines Ehrendirigenten Herbert Blomstedt spielt ein derart feines, klangvolles Pianissimo, dass mir die Tränen kommen. Es ist jener Mut zum wirklich leisen Spiel, den ich oft vermisse. Lieber ein paar verunglückte Horn-Töne am Ende eines traumhaft schönen Largos als durchgängiges Mezzoforte-Einerlei. Großartig!

Die Rahmensätze gelingen nicht minder gut; vor allem erfreut mich Levits sehr genaue Artikulation und Phrasierung, bei der kein Ton dem Zufall überlassen bleibt. Dass der musikalische Fluss bei aller Detailarbeit immer erhalten bleibt, unterscheidet Levit von Pianisten à la András Schiff, deren mikroskopische Tontüftelei das Gesamtbild manchmal etwas starr werden lässt. Herbert Blomstedt gehört aktuell für mich zu den bedeutendsten Beethoven-Dirigenten überhaupt. Größtmögliche Texttreue verbindet sich bei ihm mit einem frischen, beinahe jugendlichen, Zugriff zu einer mustergültigen Darstellung des „klassischen“ Beethoven, der vielleicht manchmal etwas zu harmlos, niemals aber belanglos wirkt.

Im zweiten Teil des Konzerts dirigert Blomstedt die 1915 vollendete zweite Sinfonie seines schwedischen Landsmanns Wilhelm Stenhammar, die hierzulande kaum gespielt wird. So ungerecht und willkürlich dies zunächst erscheinen mag, so nachvollziehbar ist es angesichts der immensen Komplexität des Werkes, die man beim ersten Hören nicht einmal ansatzweise erfassen kann. Auch ich verspüre heute – trotz intensiver Vorbereitung mit Partitur und Tonträgern – hin und wieder ein Gefühl leichter Überforderung. Ein Problem habe ich damit vor allem deshalb, weil die satztechnischen Kunstgriffe mitunter etwas zu vordergründig wirken und nicht durch eingängige Melodik oder dergleichen wirkungsvoll eingebunden sind. An Brahms bewundere ich am meisten seine Fähigkeit, selbst komplizierteste musikalische Verläufe so zu „verpacken“, dass man die Musik auch genießen kann, ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, was eigentlich musikalisch passiert. Diese publikumswirksame Oberfläche fehlt Stenhammars Sinfonie ein wenig, was sie meines Erachtens auch von den Sinfonien des von ihm bewunderten Jean Sibelius unterscheidet.

Ich danke Herbert Blomstedt, dass er das Gewandhauspublikum auf dieses bemerkenswerte Werk aufmerksam gemacht hat; meine Bewunderung beschränkt sich aber (noch) auf dessen intellektuelle Qualität, während es mich emotional eher unberührt lässt. Dies mag auch mit Blomstedts eher ruhigem, analytischem Dirigat zu tun haben, liegt aber wohl auch im Werk selbst begründet. Vielleicht muss die Sinfonie – oder ich – noch einige Jahre reifen, bevor sich zu meiner Bewunderung Begeisterung gesellt.

Frank Sindermann

28. März 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent
Igor Levit, Klavier

Musikalische Zauberei

Louis Langrée dirigiert Werke von Dukas, Jongen und Franck. Sie kennen Joseph Jongen noch nicht? Dann wird es höchste Zeit!

Louis Langrée © Benoit Linero

Joseph Jongens „Symphonie concertante“ für Orgel und Orchester ist für mich persönlich die Neuentdeckung des Jahres. Originell, abwechslungsreich und stilistisch vielgestaltig zeigt sich jenes Werk, das der Belgier Jongen in den Jahren 1926/27 ursprünglich für eine riesige Kaufhausorgel in Philadelphia komponierte. Die enorme Virtuosität des Orgelparts ist vor diesem Hintergrund durchaus verständlich, ging es doch darum, die erweiterte Orgel möglichst effektvoll in Szene zu setzen. Dass Jongen damit den kompositorischen Anspruch trotzdem nicht über Bord geworfen hat, zeigt sich schon in den streng fugierten Eröffnungstakten. Auch darf die Orgel zwar immer wieder solistisch brillieren, wird aber meistens in den Orchestersatz integriert.

Gewandhausorganist Michael Schönheit erweist sich als wahrer Tasten- und Pedalzauberer, der nicht nur die technischen Herausforderungen souverän meistert (in manchen Fällen allerdings auch souverän umschifft), sondern vor allem die musikalischen Verläufe plausibel gestaltet. Dabei wird er dem feierlichen Ernst des ersten Satzes ebenso gerecht wie der vertrackten Rhythmik und Metrik des zweiten oder dem zarten Klangaquarell des dritten. In rasanten Perpetuum mobile der abschließenden Toccata zündet Michael Schönheit dann schließlich ein wahres Feuerwerk der Virtuosität, das einfach nur Spaß macht. Bravo!

Dass auch das Gewandhausorchester heute Abend in Topform ist, hat es bereits in Dukas‘ unverwüstlichem „Zauberlehrling“ bewiesen, der wohl auch dafür gesorgt haben dürfte, dass im Saal nicht noch mehr Sitze frei geblieben sind. Unter der zurückhaltenden, äußerlich eher unspektakulären Leitung des Gastdirigenten Louis Langrée bleibt das Orchester dem Klassik-Evergreen nichts schuldig und verzaubert mit großem Spielwitz und wunderbar getimten Einsätzen. Besonders gut gefällt mir heute jene Stelle, an der Kontrafagott und Bassklarinette kauzig schnarrend die Besen wieder auferstehen lassen. Auch die geheimnisvoll magische Atmosphäre des Beginns ist wunderbar getroffen.

Als drittes Werk steht heute César Francks D-Moll-Sinfonie auf dem Pogramm. Dass Louis Langrée dieses komplexe Werk auswendig dirigiert, zeigt seine Vertrautheit mit dieser Musik; davon wiederum profitiert die Aufführung ungemein. Selten habe ich den Kopfsatz zugleich so melodisch fließend und klanglich differenziert gehört; leider sind manche dynamischen Steigerungen etwas unausgewogen und erreichen ihren jeweiligen Höhepunkt zu früh, was das eigentliche Ziel der Entwicklung etwas seiner Wirkung beraubt. Der überaus kunstvoll angelegte Mittelsatz mit seinem berührenden Englischhorn-Solo lässt keinerlei Wünsche offen. Im festlichen Finalsatz gehen Klangzauber und musikalische Logik eine perfekte Symbiose ein und bilden so den gelungenen Abschluss eines in jeder Hinsicht bereichernden Konzerts. Eines frage ich mich jedoch am Ende: Kann man von Chromatik träumen? Ich werde es herausfinden.

Frank Sindermann

7. März 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Louis Langrée, Dirigent
Michael Schönheit, Orgel

Herbstliches Leuchten

Das Gewandhausorchester unter Vasily Petrenko weckt Tschaikowskis Streicherserenade aus dem viel zu langen Dornröschenschlaf und spielt Prokofjews wundervolle letzte Sinfonie.

Herbstlicher Wald © pixabay

Warum Tschaikowskis wunderbare Streicherserenade seit über 25 Jahren nicht mehr auf dem Programm des Gewandhausorchesters stand, ist kaum zu erklären. Die heutige Aufführung unter dem ersatzweise eingesprungenen Vasily Petrenko zeigt jedenfalls, dass es höchste Zeit war, sie aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken.

Petrenkos Lesart der Serenade gefällt mir ausgesprochen gut. Deren emotionale Vielschichtigkeit, ihr ständiges Changieren zwischen Walzerseligkeit und Gefühlsausbruch, zwischen fröhlichem Überschwang und tiefer Melancholie, arbeitet er deutlich – aber niemals überdeutlich – heraus und hält die Musik dabei stets im Fluss. Die Gewandhaus-Streicher verschmelzen nach anfänglicher Findungsphase zu einem gemeinsamen Körper, dessen Glieder wie selbstverständlich miteinander harmonieren und aufeinander reagieren. Besonders beeindruckend das unbeschreiblich zarte Ansetzen des dritten Satzes und wie dieser zum Schluss in himmlischem Flageolett verklingt.

Nach der Pause füllt sich das Podium merklich. Auf dem Programm steht Anatoli Ljadows reich orchestrierte sinfonische Dichtung „Kikimora“, die das zugrunde liegende Märchen ansprechend und effektsicher in Musik verwandelt. Das Orchester besticht durch Präzision und Spielfreude und hat nach dem kuriosen Piccolo-Schluss so manchen Lacher des Publikums auf seiner Seite.

Und dann folgt eines jener Ereignisse, die man so schnell nicht mehr vergisst. Prokofjews siebente und letzte Sinfonie ist in ihrer stimmungsmäßigen Ambivalenz Tschaikowskis Streicherserenade gar nicht mal so unähnlich, wenngleich die musikalischen Mittel natürlich andere sind. Die heutige Aufführung der Sinfonie stellt alle Aufnahmen, mit denen ich mich im Vorfeld des Konzerts beschäftigt habe, mühelos in den Schatten. Manche Version auf Tonträger disqualifiziert sich allein schon durch die Einspielung des vom Komponisten selbst verworfenen alternativen Krawall-Endes, manche wiederum langweilen durch ihre Harmlosigkeit oder sind einfach nicht besonders gut gespielt. Heute Abend hingegen passt einfach alles: Vom überraschend lauten, aber durchaus partiturkonformen, Eröffnungs-Cis in Harfe und Klavier bis zum letzten Pizzicato-Cis der Streicher ereignen sich Wunder über Wunder; genannt seien hier stellvertretend die gefühlvollen Bläsersoli, die präzisen Akzente des Schlagwerks, die brillanten Harfenglissandi, der punktgenaue Schluss des Allegrettos und die „nachdenklichen“ (pensieroso) Trompetenrufe im letzten Satz. Vor allem aber: Welch eine tiefe Ruhe und Abgeklärtheit strahlt Petrenkos Interpretation aus! Ohne die durchaus vorhandenen Ecken und Kanten der als eher harmlos geltenden Sinfonie zu glätten, zeigt er vor allem ihre zeitlose Schönheit und lässt sie herbstlich leuchten. Am Schluss ist das Publikum sichtlich bewegt.

Frank Sindermann

21. Februar 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Vasily Petrenko, Dirigent