Herz und Kopf

Der 93-jährige Herbert Blomstedt begeistert im Gewandhaus mit Sinfonien von Haydn und Brahms.

Seltener Gast im Gewandhaus: Joseph Haydn | Bild: gemeinfrei

Ein Konzert mit Herbert Blomstedt ist stets ein besonderes Erlebnis. Dies liegt längst nicht nur am Nimbus, den sein hohes Alter mit sich bringt, an der Bewunderung dafür also, dass ein Mann von 93 Jahren noch Sinfoniekonzerte dirigiert; vielmehr ist es die Ausstrahlung des Menschen Herbert Blomstedt, dem es stets um mehr als die Musik ging. Sein christlich fundierter Humanismus, sein Respekt für die Menschen, mit denen er arbeitet und sein bescheidener Lebensstil, dem alle Selbstdarstellung fremd ist, haben ihn zu einem Dirigenten gemacht, den das Publikum nicht nur bewundert, sondern liebt.

In der Spielzeit 2019/20 wird Herbert Blomstedt im Gewandhaus einen kompletten Zyklus der Brahms-Sinfonien dirigieren, der auch auf Tonträger veröffentlicht werden soll. Den Anfang macht diese Woche Brahms’ erste Sinfonie, die mit Joseph Haydns letzter, der Nummer 104, kombiniert wird. Dies ergibt insofern Sinn, als Brahms selbst große Stücke auf Haydns Musik hielt. Unabhängig davon ist ausdrücklich jede Haydn-Sinfonie zu begrüßen, die sich einmal ins Gewandhaus-Programm verirrt.

Das Gewandhausorchester zeigt jedenfalls eindrucksvoll, dass es diese leicht wirkende und dabei so schwere Musik nicht nur spielen kann, sondern auch sichtlich Spaß daran hat. Dies ist nicht zuletzt Herbert Blomstedt zu verdanken, der zwar mittlerweile im Sitzen dirigiert, dabei aber nichts von seiner ansteckenden Begeisterung eingebüßt hat.

Die Einleitung des Kopfsatzes kommt zwar etwas spannungsarm daher, dafür überzeugt der Allegro-Teil mit Schwung und feiner klanglicher Differenzierung. Ausdrucksmäßige Extreme darf man bei Blomstedt nicht erwarten und würde sie auch vergebens suchen – hier bleibt der Humor hintersinnig, die Freude maßvoll. Zum Höhepunkt der Aufführung wird für mich das lyrische Andante, dessen schlichte Eleganz auch die dramatischeren Einwürfe nicht dauerhaft stören können. Das Menuett geht Blomstedt eher zurückhaltend an, was ihm etwas von dessen rhythmischem Drive nimmt; dafür darf im Finalsatz der Bordun brummen, dass es eine Freude ist, und die Musikerinnen und Musiker des hochmotivierten Gewandhausorchesters dürfen ihrer Spiellaune freien Lauf lassen. So macht Haydn Spaß – mehr davon, bitte!

Brahms wird im Gewandhaus deutlich häufiger gespielt – die letzte Aufführung der c-Moll-Sinfonie liegt noch kein Jahr zurück. Im Grunde genommen wurde dieses Werk hier und anderswo bereits derart häufig aufgeführt und eingespielt, dass ich mich gespannt frage, was Herbert Blomstedt den zahllosen bisherigen Sichtweisen auf dieses Werk heute Abend hinzufügen wird.

In seiner Interpretation zieht Blomstedt die Summe seiner Erfahrung, sie ist das Resultat lebenslanger Studien und Aufführungen. Blomstedts Brahms ist eine Art Durchschnitt der Möglichkeiten, ein Vermeiden jeglicher Extreme oder positiv ausgedrückt: ein goldener Mittelweg. Blomstedt hat in einem Interview angemerkt, Brahms spreche das Gefühl und den Verstand gleichermaßen an, und auch in der heutigen Aufführung kommen beide zu ihrem Recht.

Bereits der Anfang des ersten Satzes mag hierfür als Beispiel dienen. Das Tempo ist recht zügig, doch nicht zu schnell gewählt, die aufsteigenden chromatischen Linien der Streicher sind gut gegen die fallenden Holzbläser-Terzen abgehoben, die monotonen Paukenschläge sind prägnant, aber nicht überpräsent. Blomstedt gibt der Musik die Zeit, die sie braucht, lässt im zweiten Satz die fabelhaften Solistinnen und Solisten des Orchesters ihre Melodien aussingen (Oboe, Klarinette, Fagott!) und bereitet schon im intermezzohaften dritten Satz die Bühne für das große Finale. Hier, in dieser genialen Beethoven-Hommage, greift alles ideal ineinander: das wunderbar aufgeraut, gleichsam alphornhaft gespielte Hornthema, der würdevolle Posaunen-Choral und das in sich ruhende Hauptthema, die stringenten dynamischen Steigerungen und der grandiose Zusammenbruch in Takt 285. Dabei bleibt, wie schon beim Haydn, alles im Rahmen des guten Geschmacks. Umso überraschender wirkt es dann, wenn es doch einmal etwas derber zugeht. Derart eingehämmert wurde mir das siebenfache „G“ der Pauke vor dem finalen „Più allegro“ jedenfalls noch nie.

Die Standing Ovations am Schluss sind an diesem Abend keine Überraschung. Ob sie in erster Linie dem Musiker oder dem Menschen Herbert Blomstedt gelten, ist dabei schwer zu sagen. Jedenfalls ist es ihm und dem Gewandhausorchester offenbar aufs Neue geglückt, dem Publikum jene wahre Freude zu vermitteln, von der die Saalinschrift kündet – verum gaudium für Herz und Kopf.

Frank Sindermann

28. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent

High Noon im Opernhaus

In Rolando Villazóns charmanter „Liebestrank“-Inszenierung reichen sich fröhlicher Klamauk und großartige Musik die Hand.

Piotr Buszewski und Bianca Tognocchi | © Kirsten Nijhof

Zwei Duellanten stehen sich in Drohgebärde gegenüber, während der Bestatter schon einmal kichernd Maß nimmt – diese Szene würde man in einem „Lucky Luke“-Comic erwarten, in Gaetano Donizettis Oper „L’elisir d’amore“ (Der Liebestrank) eher weniger. Und doch befinden wir uns unmittelbar in der ersten Leipziger Opernpremiere der neuen Saison!

Rolando Villazón, der noch vor einigen Jahren als Sänger des Nemorino mit dieser Oper grandiose Erfolge feierte, ist inzwischen – unter anderem – als Regisseur tätig und verlegt die Handlung dieser One-Hit-Oper kurzerhand an ein Western-Filmset der 40er Jahre. Dabei lässt er es sich nicht nehmen, so ziemlich alle gängigen Klischees liebevoll vorzuführen, die das Western-Genre hergibt. Die Detailverliebtheit, mit der Villazón und sein Team (Bühne: Johannes Leiacker, Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck) zu Werke gehen, verrät seine große Begeisterung für Filme ebenso wie seine Liebe zu dieser speziellen Oper. Dabei ist auf der Bühne so viel los, dass man manchmal gar nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll, um nichts zu verpassen.

Die schlechte Nachricht: Die Übertragung der Handlung aus einem italienischen Dorf an ein Filmset ist zwar charmant, sorgt aber unbestreitbar für mehr als ein Logikloch – gerade in zweiten Akt müsste man eher von Logik-Abgründen sprechen, die sich auftun, wenn auf einmal nicht nur der naive, aber herzensgute Nemorino nicht mehr zwischen Filmwelt und Wirklichkeit unterscheiden kann, sondern alle anderen Beteiligten ebenfalls „hinter den Kulissen“ unverdrossen ihren Originaltext singen, der aber nur im Kontext des Films Sinn ergäbe.

Die gute Nachricht: Für die Wirkung dieses unterhaltsamen Spektakels ist dies völlig unerheblich! Wenn Quacksalber Dulcamara mit herrlich überzogener Mimik auf seiner Pferdeattrappe vor der beweglichen Wolkentapete dahinreitet, wir Zeugen einer zünftigen Schlägerei im Saloon werden und vier Dalton-Brüder (allerdings gleich groß!) ihren Sprengstoff zünden, treten alle Bedenken weit in den Hintergrund. Der Klamauk funktioniert so wunderbar, weil Villazón genau weiß, wann Schluss mit Lustig zu sein hat. Wenn Nemrino seine schmachtende Tränen-Arie „Una furtiva lagrima“ anstimmt, hat der Spaß kurz Pause und wir erleben berührende, stille Momente voll tiefempfundener Emotion.

Dieser „Liebestrank“ im Wilden Westen funktioniert nur deshalb so gut, weil das gesamte Ensemble dieses originelle Konzept mit sichtbarem Spaß mitträgt. Mit dem polnischen Tenor Piotr Buszewski wurde ein Nemorino verpflichtet, der alles im Überfluss zu besitzen scheint, was es für diese Rolle braucht: Er spielt den unglücklich Verliebten mit einer Hingabe, die es unmöglich macht, den verpeilten jungen Mann nicht ins Herz zu schließen. Sein im besten Sinne jugendlich wirkender Tenor ist beweglich in den Koloraturen, besitzt in der tiefe ein warmes Leuchten und in der Höhe einen wunderbaren metallischen Glanz, der ihn neben die ganz Großen seines Fachs stellt.

Bianca Tognocchi gibt eine faszinierend vielschichtige Adina, deren kokette Überheblichkeit sie genauso hingebungsvoll ausspielt wie ihre spätere Verletzlichkeit. Dabei verfügt sie über einen wunderschönen Koloratursopran, mit dem sie nicht nur mühelos höchste Höhen erklimmt, sondern auch in jeder Gefühlslage andere Schattierungen hören lässt – immer schön (Belcanto!), niemals einförmig oder gar langweilig. Eine wirklich großartige Leistung!

Sejong Chang hat in seiner Doppelrolle als Regisseur und Quacksalber die Lacher stets auf seiner Seite und entpuppt sich vor allem im zweiten Akt als begnadeter Komiker. Nach einem noch etwas durchwachsenen ersten Akt, was rhythmische Präzision und stimmliche Durchsetzungskraft angeht, überzeugt er nach der Pause auch sängerisch voll und ganz. Jonathan Michie hat ebenfalls ein wenig mit dem Timing zu kämpfen, spielt und singt den überheblichen Sergeanten Belcore aber ebenfalls sehr überzeugend. Sandra Maxheimer komplettiert mit Spielwitz und geschmeidigem Mezzo das hervorragende Solistenquintett.

Der Chor ist mit sichtbarem Spaß am Schauspielern bei der Sache und singt zumeist homogen und klanglich sehr gut ausbalanciert, gerät aber manchmal rhythmisch aus der Spur, was letztlich der Dirigentin des Abends mit anzulasten ist. Giedrė Šlekytė holt wunderbare Farben aus dem Gewandhausorchester und beweist viel Sinn fürs gelungene Detail, vermag es aber nicht immer, das Geschehen auf der Bühne und im Orchestergraben zusammenzuhalten. Vor allem im ersten Akt klappert es dann doch mehr, als sprichwörtlich zum Handwerk gehört.

Das Premierenpublikum ist nach dem ungewöhnlichen, charmanten Schluss restlos begeistert und bejubelt – teilweise im Stehen – einen „Liebestrank“, der durchaus das Zeug zum neuen Publikumsrenner hat.

Apropos Liebestrank: Jene Geschichte von Tristan und Isolde, die Nemorino erst den Floh mit dem Liebestrank ins Ohr gesetzt hat, ist Thema der nächsten Opernpremiere, wenn sich nämlich am 5. Oktober der Vorhang für Wagners „Tristan und Isolde“ hebt. Im Gegensatz zum umetikettierten Bourbon des durchtriebenen Dulcamara wirkt der Trank bei Wagner allerdings wirklich – bekanntlich mit tragischen Folgen.

Frank Sindermann

14. September 2019 (Premiere)
Oper Leipzig

 

200 Jahre Clara Schumann

Im Eröffnungskonzert der Clara-Schumann-Festwochen spielt Lauma Skride deren Klavierkonzert mit Bravour. Zuvor erleben Betsy Jolas’ „Letters from Bachville“ ihre Uraufführung.

Lauma Skride | © Marco Borggreve

Uraufführung im Gewandhaus. Noch bevor ich den Saal betrete, sehe ich sie vor meinem inneren Auge: die zu erwartende übertrieben große Orchesterbesetzung, die zahlreichen, Trommeln, Gongs, Röhrenglocken, Klavier, Celesta etc. Ich trete ein und finde meine Vorahnung bestätigt. Seufzend lese ich das Programmheft mit dem Fragebogen, den in diesem Fall die renommierte französische Komponistin Betsy Jolas ausgefüllt hat. Sie wolle, so schreibt sie, mit ihrer Musik kommunizieren, verbinde mit dem Gewandhausorchester Johann Sebastian Bach und ihr neues Werk werde umherschweifen. So wenig ich mit derartigen Aussagen anfangen kann – in diesem Punkt stimme ich der Komponistin nach dem Hören ihres neuen Werkes zu: Es schweift tatsächlich umher, von hier nach dort, ohne erkennbare Richtung. Da es den Titel „Letters from Bachville“ trägt, erklingen natürlich die Töne B-A-C-H und es werden Melodien des Thomaskantors zitiert, die in diesem atonalen Umfeld ungefähr so passend wirken wie deutsche Sätze in einem finnischen Roman. Zwar weist die Programmheft-Einführung darauf hin, dass „Letters“ ja nicht nur Buchstaben, sondern auch Briefe seien – allein, der punktuelle, aphoristische Charakter der Musik lässt zumindest für mich nichts Kohärentes entstehen, das an einen Brief erinnerte. Andererseits gibt es ja auch kurze Briefe. So schrieb Friedrich der Große an Voltaire den kürzestmöglichen Brief überhaupt: „I“ heißt es darin in denkbar knappem Latein, „Geh!“. Heute Abend also die „Briefe“ B, A, C, und H?

Clara Schumanns Klavierkonzert, das heute im Mittelpunkt des Interesses steht, ist zwar inzwischen gut auf Tonträgern dokumentiert, fristet im Konzertleben aber immer noch ein Schattendasein. Ann-Katrin Zimmermann wirft im Programmheft die interessante Frage auf, ob man dieses Konzert auch dann noch heute spielen würde, wenn es nicht von einer Frau komponiert worden wäre. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass dies nicht der Fall wäre, freue ich mich doch, jenes Werk einmal im Konzert zu erleben, das die sechzehnjährige Clara 1835 im Gewandhaus uraufgeführt hat.

Dies gilt noch mehr, wenn das Konzert derart überzeugend gespielt wird wie am heutigen Abend von Lauma Skride, die nicht nur die hohen technischen Hürden mühelos überspringt, sondern auch der Poesie den nötigen Raum gibt. Das gilt vor allem für das wunderschöne Duett mit dem Solocello im originellen zweiten Satz.

Nach der Pause erklingt Robert Schumanns sogenannte „Frühlingssinfonie“. Das Gewandhausorchester hat sich schon im Klavierkonzert von seiner besten Seite gezeigt, legt aber nun noch eine ganze Schippe drauf, was Klangschönheit, rhythmischen Drive und Spielfreude anbelangt. Dies liegt nicht zuletzt an Andris Nelsons, der trotz Sicherheits-Partitur auf dem Pult seinen Schumann bestens kennt und alles aus dem Orchester herausholt. So spannungsgeladen hört man die Durchführung des ersten Satzes kaum einmal, so fein ausgearbeitet das Larghetto selten, das Scherzo fast nie so tänzerisch und niemals ein derart klanglich aufpoliertes Finale. Dieses Orchester IST Schumann, Punkt.

Frank Sindermann

12. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Lauma Skride, Klavier

Unter Freunden

Die Schwestern Baiba und Lauma Skride spielen mit Harriet Krijgh Musik von Lili Boulanger und Clara Schumann. Als Gast schaut Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons vorbei.

Clara Wieck 1840 | Gemälde von Johann Heinrich Schramm

Clara Schumanns 200. Geburtstag scheint dem Gewandhaus sehr am Herzen zu liegen. Dies sieht man nicht nur an der Vielzahl ihrer Kompositionen, die dieser Tage in vielen Konzerten erklingen, sondern auch daran, dass Gewandhaus-Kapellmeister Andris Nelsons es sich in der heutigen Sonder-Kammermusik nicht nehmen lässt, den Solistinnen des Abends einen Kurzbesuch abzustatten. Ursprünglich wollte Nelsons, der nicht nur Dirigent, sondern auch studierter Trompeter ist, Paul Hindemiths Sonate für Trompete und Klavier vortragen. Stattdessen – vielleicht fehlte die Probezeit? – bläst er zwei Lieder Clara Schumanns als Lieder ohne Worte auf der Trompete sowie ein thematisch passendes Stück der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina. Leider fügt sich der Klang der Trompete trotz sensiblen Spiels nicht besonders gut zu den nachdenklichen, stillen Liedern Clara Schumanns. Auch Andris Nelsons scheint sich nicht so recht wohl in seiner Haut zu fühlen und wirkt ein wenig unsicher. Trotzdem ist es eine schöne Geste, sich am Jubiläumskonzert zu beteiligen, die vom Publikum auch freundlich honoriert wird.

Gerahmt wird Nelsons’ Auftritt durch zwei wunderbare Stücke der jung verstorbenen Lili Boulanger, die wie zwei Seiten einer Medaille komponiert sind: Zwar unterscheiden sich „D’un soir triste“ und „D’un matin de printemps“ ausdrucksmäßig sehr stark, beruhen musikalisch aber auf dem gleichen Gedanken. Dies wird durch das Auseinanderreißen der Stücke leider etwas kaschiert – ich hätte sie jedenfalls lieber direkt hintereinander gehört, was auch den zweimaligen Bühenumbau vermieden hätte. Die Skride-Schwestern an Violine und Klavier sowie die Cellistin Harriet Krijgh sind hervorragend aufeinander eingespielt und arbeiten den unterschiedlichen Stimmungsgehalt der beiden Stücke zwischen stiller Traurigkeit und frühlingshaftem Optimismus überzeugend heraus.

Im zweiten Teil des Konzerts wird zunächst wieder in Zweierbesetzung musiziert. Baiba Skride spielt Clara Schumanns drei Romanzen op. 22 mit viel Herzblut, wobei ihr besonders die „brahmsische“ zweite sehr gut gelingt. Ihre Schwester Lauma begleitet umsichtig, fast zurückhaltend, setzt aber auch eigene Akzente. Das Zusammenspiel mit Harriet Krijgh in Robert Schumanns effektvollen „Adagio und Allegro“ op. 70 gerät nicht immer ganz präzise, auch ist die Intonation der niederländischen Cellistin nicht immer perfekt. Es entsteht ein wenig der Eindruck gekonnten Vom-Blatt-Spiels mit den dabei unvermeidlichen kleinen Unschärfen, die jedoch durch den frischen Eindruck spontanen Musizierens – wie damals im Haus der Schumanns! – mehr als ausgeglichen wird.

Claras Klaviertrio op. 17, sicherlich ihr ambitioniertester Beitrag zur Kammermusik, bildet schließlich den gelungenen Abschluss eines (fast) reinen Frauen-Konzerts, das einigen selten gespielten Werken zu neuer Aufmerksamkeit verholfen und gleichzeitig die freundschaftliche Atmosphäre eines musikalischen Salons im 19. Jahrhundert vermittelt hat.

Frank Sindermann

10. September 2019
Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Baiba Skride, Violine
Harriet Krijgh, Violoncello
Lauma Skride, Klavier
Andris Nelsons, Trompete

Schlicht und ergreifend

Im ersten Konzert der neuen MDR-Saison erklingen geistliche Werke des jungen Puccini und des alten Verdi in mustergültigen Interpretationen.

Dirigent Domingo Hindoyan | © MDR/Hagen Wolf

Es ist ein spannendes und klug durchdachtes Programm, mit dem der MDR seine neue Konzertsaison beginnt: Vor der Pause erklingt mit Puccinis „Messa di Gloria“ das Werk eines jungen Kirchenmusikers auf dem Weg zur Oper, nach der Pause zeigen Verdis „Quattro pezzi sacri“ einen alten Mann, der die Oper fast hinter sich gelassen hat.

Mit Domingo Hindoyan konnte ein hervorragender Dirigent verpflichtet werden, der die Musik offenkundig wichtiger nimmt als sich selbst und alle Beteiligten zu Höchstleistungen motiviert. Mit eleganten, fließenden Handbewegungen und bewundernswertem Feingefühl führt er Orchester und Chor durch die kontrastreichen Werke und verliert bei aller Detailarbeit doch nie den Spannungsbogen aus den Augen. Vor allem aber wahrt er stets eine ausgezeichnete klangliche Balance innerhalb der Orchestergruppen, aber auch im Zusammenspiel mit dem Chor. Selbst im lautesten Tutti verschwimmt nichts, geht nichts unter, bleibt alles transparent.

Das MDR-Sinfonieorchester zeigt sich heute von seiner allerbesten Seite. Strahlende Blechbläser-Fanfaren, samtig-weiche Streicher, bei denen jedes Pizzicato perfekt sitzt, und ein wunderbar homogen spielendes Horn-Quartett sind nur einige Beispiele für das exzellente Niveau des Orchesters – neben geschmackvollen Holzbläsersoli, präzisen Paukenschlägen etc. Besonders hervorheben möchte ich noch das Vermögen und die Bereitschaft aller Beteiligten, auch einmal WIRKLICH leise zu spielen.

Der MDR-Rundfunkchor lässt weder in den berührenden A-cappella-Sätzen, noch im Zusammenspiel mit dem Orchester irgendwelche Wünsche offen. Technische Perfektion und tiefempfundener Ausdruck verleihen der Musik eine innere Spannung, der sich auch das Publikum nicht entziehen kann. Immer wieder ist es völlig still im Saal, und wenn nicht in Ermangelung einer fallenden Stecknadel hin und wieder Bonbongeknispel zu hören wäre, könnte man fast vergessen, dass Hunderte von Menschen der Musik lauschen.

Auch bei den Solisten gibt es rein gar nichts zu beanstanden: Sung Min Songs schlanker, warmer Tenor verleiht dem „Gratias agimus tibi“ genau jenen Ausdruck schlichter Dankbarkeit, den Text und Musik verlangen; Bassbariton Milan Siljanov überzeugt im „Benedictus“ mit würdevollem Ernst. Auch Chorsolistin Katharina Kunz sorgt in ihrer kurzen, aber wichtigen Solopartie am Schluss noch einmal für einen besonderen Moment.

Der begeisterte Applaus am Ende bestätigt meinen Eindruck: Besser kann eine Saison gar nicht starten!

Frank Sindermann

Hinweis: Am 15. September 2019 wird ab 19.30 Uhr ein Mitschnitt des Konzerts auf MDR Kultur und MDR Klassik gesendet. Anhören!

8. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Domingo Hindoyan, Dirigent
Sung Min Song, Tenor
Milan Siljanov, Bariton
Katharina Kunz, Sopran

Meer als genug

Andris Nelsons eröffnet die 239. Gewandhaus-Saison mit Mozart, Debussy und Strawinsky.

Katsushika Hokusai: „Die große Welle vor Kanagawa“

Die Pressemappe zur 239. Gewandhaus-Saison wirbt mit dem Slogan „Frischer Wind überall“, was mir doch etwas übertrieben erscheint: Der Bruckner-Zyklus wird fortgesetzt, Herbert Blomstedt dirigiert Brahms, zum Jahreswechsel erklingt Beethovens Neunte, das Stadtteilprojekt geht weiter, es gibt mit HK Gruber einen zweiten Gewandhaus-Komponisten etc. Das ist alles durchaus erfreulich – aber frischer Wind?

Das Programm des Eröffnungskonzerts ist jedenfalls deutlich weniger ambitioniert als vor einem Jahr (https://brahmsianer.de/auftakt-in-ueberlaenge), aber dafür klug zusammengestellt. Gerade die Kombination von Debussys „La Mer“ und Strawinskys „Feuervogel“-Suite überzeugt, zeigt sie doch spannende Parallelen dieser auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Musik auf. Hierzu hätte auch Bartóks 3. Klavierkonzert sehr gut gepasst, das wegen einer Absage des Pianisten András Schiff leider entfällt.

Am Anfang des Konzerts steht nun stattdessen Mozarts Klavierkonzert G-Dur KV 453, das Martin Helmchen sehr klangschön und sensibel spielt. Es ist ein introvertierter, fast melancholischer Mozart, den wir in den ersten beiden Sätzen hören; im abschließenden Variationensatz herrscht dann reine Spielfreude. Das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons hält sich über weite Strecken dezent im Hintergrund, setzt aber immer wieder auch eigene Akzente. Aufhorchen lassen vor allem die fabelhaften Holzbläser, die sich allerdings klanglich nicht immer gegen das Klavier durchsetzen können. Alles in allem eine sehr geschmackvolle, stilsichere Aufführung, die Lust auf mehr Mozart im Gewandhaus macht! Als Zugabe spielt Helmchen den langsamen Satz aus der Klaviersonate KV 332 – als intimes Selbstgespräch in vollendeter Klangkultur.

Genau jene Klangkultur vermisse ich nach der Pause in Debussys „La Mer“ hin und wieder. Während der wunderbar zarte, schwebende Beginn noch Anlass zu schönster Hoffnung gibt, wird die filigrane Struktur der Komposition im weiteren Verlauf des ersten Satzes ungeachtet schöner bis schönster Details nicht immer klar genug herausgearbeitet. Vor allem dessen Ende gerät Nelsons im Überschwang der Emotionen allzu effekthascherisch und laut. Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen. †††††††††††

Der zweite Satz ist ein wahres Fest großartiger Soli von Flöte, Oboe, Klarinette, Trompete, Harfen, … und ist klanglich deutlich besser abgemischt. Den dritten Satz präsentiert Nelsons als spannungsgeladenen Kampf der Elemente, dessen rhythmisch vertrackten Schluss er mustergültig realisiert.

Im „Feuervogel“ stimmt dann praktisch alles: Das schwermütige Wiegenlied gelingt ebenso überzeugend wie der wahnsinnige Tanz des bösen Königs, der anmutig schwebende Tanz des Feuervogels ebenso wie das prächtige Finale. Begeisterter Applaus für einen sehr gelungenen Saisonauftakt.

Frank Sindermann

31. August 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Martin Helmchen, Klavier

Im Rausch der Farben

Mit einer herrlich bunten, musikalisch hervorragenden „Verkauften Braut“ stimmt die Oper Leipzig auf den Sommer ein.

Solistenensemble, Komparserie, Chor der Oper Leipzig © Kirsten Nijhof

Die Deutschen, so hört und liest man es immer wieder, sind in Sachen Humor nicht gerade Weltmeister und gehen zum Lachen in den Keller. Wenn etwas tatsächlich einmal für komisch befunden wird, hat gefälligst ein sogenannter tieferer Sinn im Spaß zu stecken bzw. ist es erforderlich, unter einer vermeintlich harmlosen Oberfläche das Abgründige zu suchen. Ansonsten kann, wie es der wunderbare Loriot formuliert hat, „die Gefahr der Unterhaltung nicht ganz ausgeschlossen“ werden. Schlimmstenfalls droht sogar, wie es Peter Korfmacher in der LVZ nennt, „rückhaltloses Amüsiertheater“, was glatt als Beleidigung durchgehen kann.

Nun ist es durchaus legitim, die überkommenen sozialen Strukturen in Smetanas Verwechslungskomödie zu hinterfragen und Hans’ wenig einfühlsames Handeln seiner Geliebten gegenüber in den Vordergrund zu rücken – dies sehe ich hingegen nicht als Verpflichtung, sondern eher als eine von vielen Optionen, sich mit der Oper auseinanderzusetzen.

Auch Regisseur Christian von Goetz verlangt in seinem Programmheft-Beitrag, dass man „die Tiefen des Stücks betonen“ müsse, liefert am Ende aber vor allem eine urkomischen Bühnenshow ab, die in erster Linie das „Entertainmentpotenzial“ einlöst, von dem er selbst spricht. Die Bühne beim Soloauftritt Maries in blaues Licht zu tauchen, reicht für sich genommen nicht aus, um ein deutliches Gegengewicht zum zirkusmäßigen Umfeld herzustellen.

Mich stört das weniger: Ich fühle mich bestens unterhalten und ertappe mich stellenweise bei minutenlangem Dauergrinsen. Dies gilt vor allem in den Szenen mit dem halbseidenen Heiratsvermittler Kezal, den der fantastische Sebastian Pilgrim mit sonorer, geschmeidiger Stimme und ansteckender Spiellaune verkörpert. Wie er als Kezal zwanghaft fröhlich mit Konfetti wirft, mit tiefsten Tönen und übertrieben ausgesungenen Verzierungen kokettiert oder den Frust des Heiratsvermittlers zeigt, wenn einmal etwas nicht nach Plan läuft, macht einfach nur Spaß.

Magdalena Hinterdobler tariert in ihrem Rollendebüt als Marie gekonnt die lyrische und die komische Seite der Rolle aus und wechselt souverän zwischen berührendem Belcanto-Wohlklang und soubrettenhafter Leichtigkeit und verleiht ihrer Figur darstellerisch jene charmante Widerborstigkeit, die lyrischen Sopranen oft vorenthalten bleibt. Eine ganz hervorragende Leistung, die in jeder Hinsicht überzeugt.

Patrick Vogel singt und spielt einen jugendlichen Hans, dem eigentlich niemand böse sein kann und dessen moralisch fragwürdiger Handel mit Kezal eher wie ein spontaner Dummejungenstreich denn ein kaltschnäuziger Plan wirkt. Vogels heller Tenor überzeugt in der Höhe mit großer Strahlkraft und verfügt in der Mittellage über Leichtigkeit und Eleganz.

Auch in den übrigen Rollen bleiben keine Wünsche offen. Hervorzuheben ist vor allem Sven Hjörleifsson, der das Muttersöhnchen Wenzel und dessen Emanzipation von der Muter mit Witz und Herz spielt und singt. Dass komponiertes Stottern auch im 21. Jahrhundert noch allgemein belacht wird, ist nicht seine Schuld, gehört für mich aber zu den wenigen Aspekten der Oper, die nicht zeitlos sind.

Sandra Maxheimer und Franz Xaver Schlecht sind als Maries verunsicherte Eltern ebenfalls sehr gut besetzt, werden allerdings mitunter von Sebastian Pilgrims besonders großer Bühnenpräsenz etwas in den Hintergrund gedrängt. Martin Petzold überzeugt als abgehalfterter Zirkusdirektor Springer ebenfalls auf ganzer Linie.

Der Chor macht seinem exzellenten Ruf erneut alle Ehre und wird den hohen musikalischen Anforderungen der Oper ebenso gerecht wie den szenischen des Regisseurs, der ihn einmal vor einem Bären fliehen, ein anderes Mal sackhüpfen lässt.

Ohnehin ist eine Menge los auf der multifunktionalen Bühne Dieter Richters, die sich immer wieder wie ein Karussell von Szene zu Szene dreht und durch eine durchsichtige Wand manchmal auch Geschnisse in Nebenräumen zeigt. Mir ist die Dynamik des Bühnengeschehens manchmal etwas zu viel des Guten, aber gerade in der Zirkusszene entfaltet das bunte Treiben samt waschechten Artisten eine ganz eigene Faszination.

Ein ganz besonderes Lob gebührt Sarah Mittenbühler und ihrem Team für die fantasievollen und enorm aufwändigen Kostüme, von denen keines dem anderen zu gleichen scheint. Zusammen mit dem grellen Make-up und den kurios windschiefen Frisuren passt auch dieser Teil der Ausstattung ganz wunderbar ins Gesamtbild.

Das Gewandhausorchester unter der inspirierten und umsichtigen Leitung Christoph Gedscholds beweist schon in der höllisch schweren Ouvertüre, in welcher Bestform es heute spielt. Da klappert nichts, die wahnwitzig schnellen Läufe schnurren ab wie ein Uhrwerk und auch im weiteren Verlauf des Abends ist es eine wahre Freude, sich hin und wieder vom Bühnenspektakel ab- und dem Orchestergraben zuzuwenden, aus dem es glänzt und blitzt, poltert und stampft, sich verdunkelt und erstrahlt. Oder wie es am Ende des ersten Aktes heißt:

Violin’ und Klarinette
Jauchzen trillernd um die Wette
Selbst dem alten Rumpelbass
Macht das tolle Wesen Spass.

Frank Sindermann

15. Juni 2019 (Premiere)
Oper Leipzig

Technik, die begeistert

Ein bisschen Spaß muss sein: Michiel Dijkema inszeniert Wagners „Fliegenden Holländer“ als unterhaltsame Technik-Show.

Foto: Tom Schulze

Gut elf Jahre liegt die letzte Leipziger Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ nun bereits zurück und wird doch für viele unvergessen bleiben: Kampfhund- und Schlachthausvideos, viel nackte Haut und Blut auf der Bühne sowie ein Hauptdarsteller, der nach der Premiere das Handtuch warf, sorgten damals für einen handfesten Opern-Skandal und brachten dem jungen Regisseur Michael von zur Mühlen das ein, was man heute einen Shitstorm nennen würde. Vor diesem Hintergrund kann man Michiel Dijkemas aktuelle Inszenierung durchaus als Entschuldigung an das Leipziger Publikum verstehen.

Dijkema verzichtet konsequent auf jegliche Aktualisierung der Handlung, was er im Programmheftbeitrag plausibel damit begründet, dass Sentas romantische Schwärmerei im 19. Jahrhundert glaubhafter sei als in unserer Zeit. Überdies bricht er das Werk ironisch, indem er beispielsweise Auszüge aus einem Romanfragment Heinrich Heines auf die Bühne projizieren lässt und so eine Art Theater im Theater aufbaut. Der vielfach im Feuilleton geäußerte Vorwurf, Dijkema präsentiere eine verstaubte Märchenbuch-Version des „Holländers“, teile ich überhaupt nicht. Eher wirkt es auf mich, als traue der Regisseur der Handlung mit ihrem veralteten Frauenbild nicht so recht und setze sie deshalb augenzwinkernd in einen Theaterrahmen von anno dazumal.

Dazu gehört auch jener technische Bühnenzauber, der heute etwas altmodisch anmutet, seine Wirkung aber nach wie vor nicht verfehlt. Und Dijkema greift in die Vollen: Da zeigen gigantische Spinnräder die Industrialisierung, imposante Wale werden mit dem Holländer an Land gespült – allerdings nicht mit Plastik, sondern Goldschätzen im Bauch -, und am Ende zerfällt der Holländer dramatisch zu Staub. Dazwischen fahren Kulissenzüge wie Takelage auf und ab, die Drehbühne dreht, hebt und senkt sich im Seegang und Leinwände zeigen beeindruckende Projektionen.

Und dann ist da natürlich noch das Schiff, jenes Geisterschiff mit blutroten Segeln, das der Förderkreis der Oper Leipzig mit sagenhaften 100.000 € finanziert hat. Wie es im dritten Akt auf die Bühne geschoben wird, bis es weit in den Zuschauerraum hineinragt, gehört zum Beeindruckendsten, was ich je auf einer Theaterbühne gesehen habe. Nicht nur ich: Kaum taucht das Schiff aus dem Bühnennebel auf, werden Handys gezückt, um den Effekt mitzufilmen, es wird geraunt, und am Ende gibt es sogar Szenenapplaus – für Bühnentechnik! Das ist sicherlich übertrieben, aber zugegebenermaßen auch ganz großes Kino.

Leider geht diese Show auf Kosten der Musik. Der an sich beeindruckende aufgestockte Herrenchor der Oper Leipzig gerät im Tumult gehörig aus dem Tritt, und es tröstet nicht wirklich, dass ohnehin fast niemand zuhört. Auch sonst ist der „Holländer“ musikalisch etwas durchwachsen. Christiane Libor gibt eine grandiose Senta, die stimmlich und darstellerisch schon in der berühmten Ballade beeindruckt, im Finale aber endgültig zur Höchstform aufläuft. Schon als Brünnhilde im Leipziger Ring hat sie gezeigt, dass ihr die leisen, zarten Töne ebenso gut gelingen wie die kraftraubenden dramatischeren Partien, und dies beweist sie heute erneut. Eine hervorragende Leistung, auch schauspielerisch, wie man sie sonst nur an den größten Opernhäusern erleben kann. Brava!

Iain Paterson bleibt der Titelpartie hingegen leider einiges schuldig. So ist er stimmlich zu Anfang nicht ganz auf der Höhe und zeigt erst im letzten Akt seine Qualitäten. Vor allem bleibt er aber darstellerisch blass und verleiht dem Holländer keine eigene Perönlichkeit. Eine deutlich größere Bühnenpräsenz hat Randall Jakobsh als Daland, der Sentas kuppelnden Vater mit warm timbriertem Bass und komödiantischem Spiel zum Sympathieträger macht und so dem Holländer fast die Show stiehlt. Ladislav Elgr überzeugt als Erik bei seinem ersten Auftritt deutlich mehr als im letzten Akt, wo er hörbar zu kämpfen hat. Karin Lovelius als Mary und Dan Karlström als Steuermann liefern rundum überzeugende Rollenporträts ab.

Das Gewandhausorchester unter Christoph Gedschold spielt einen farbigen, eleganten Wagner und passt damit tadellos zu Dijkemas wenig gruseliger Lesart des „Holländers“, der stellenweise eher wie ein komische Oper wirkt. Dennoch hätte ich mir manche Passage doch noch etwas energischer und zupackender gewünscht.

Leipzig hat also wieder einen „Fliegenden Holländer“, der vor allem durch atemberaubende Bilder besticht, das etwas abgetakelte Geisteropern-Schiff durch eine leicht ironische Sicht der Dinge wieder flott macht und vor allem mit einer grandiosen Senta aufwarten kann. Der Applaus nach der Aufführung ist jedenfalls begeistert und ich stelle fest: Entschuldigung angenommen.

Frank Sindermann

30. Mai 2019 (5. Vorstellung)
Oper Leipzig

Keine Frage des Alters

Ausnahmepianist Krystian Zimerman begeistert im Gewandhaus mit Werken des jungen Brahms und Chopin.

Klaviertasten © Johannes Plenio auf Pixabay

Der Auftrittsapplaus ist kaum verebbt, da stürzt Krystian Zimerman sich auch schon mit vollem Körpereinsatz in Johannes Brahms’ 3. Klaviersonate und legt so bereits in den ersten Takten jenes Stürmen und Drängen an den Tag, das seine gesamte Interpretation kennzeichnen wird. Ohne Netz und doppelten Boden, jedes Risiko in Kauf nehmend, greift Zimerman in die Tasten und entführt das Publikum direkt in die bewegte Gefühlswelt des 20jährigen Johannes Brahms. Wo schon der Beginn derart ins Extrem geht, bleibt für die Durchführung nicht mehr viel Luft nach oben; dafür werden die Kontraste zu den gesanglichen Passagen besonders hervorgehoben. Dass es nach den kraftvollen Schlussakkorden des ersten Satzes Zwischenapplaus gibt, nimmt der als eher empfindlich bekannte Pianist gelassen hin.

Im zweiten Satz, dem innigen „Andante espressivo“, entlockt der Pianist seinem eigens mitgebrachten, fast noch unbespielten Flügel Klänge von unvorstellbarer Schönheit und hält für eine Viertelstunde die Zeit an. Es sind intime Momente, in denen man fast vergessen könnte, dass viele hundert Menschen im Saal sitzen. Der erneut einsetzende Zwischenapplaus aus bekannter Saalecke erinnert allerdings wieder daran. Dieses Mal bedankt sich Zimerman sogar dafür.

Im Scherzo ist Zimerman wieder jedes Wagnis recht, um den ungestümen Ausdruck des Satzes überzeugend darzustellen. Dass hierbei nicht jeder Ton technisch perfekt sitzt, nimmt er dabei offenbar bewusst in Kauf. Als der Szenenapplaus dieses Mal überraschend ausbleibt, wendet sich Zimerman mit fragender Geste in die entsprechende Richtung und hat die Lacher auf seiner Seite.

Nach dem bewegend gespielten „Intermezzo“ mit seiner eingetrübten, wie verschleierten Reminiszenz an das gefühlvolle Andante, regiert im Schlusssatz erneut dramatischer Tastendonner. In diesem Satz fehlt mir ein wenig die durchgängige Linie, das Geschehen wird immer wieder unterbrochen – nicht nur durch das etwas störende Umblättern der Noten. Dem ganz und gar beeindruckenden Gesamtbild tut dies allerding keinen Abbruch. Begeisterter Applaus.

Nach der Pause spielt Zimermann alle vier Scherzi seines polnischen Landsmanns Fryderyk Chopin hintereinander – ein unglaublicher Kraftakt! Seine ebenso elegante wie zupackende Interpretation besweist erneut, dass Zimerman völlig zu Recht zu den bedeutendsten Chopin-Interpeten unserer Tage gezählt wird. Dabei empfinde ich in Details durchaus manche Dinge anders: So rauscht Zimermann im h-Moll-Scherzo über die aufsteigenden Fortissimo-Akkorde mit nachfolgender Bass-Figur ab Takt 43 fast flüchtig hinweg, während ich sie eher als eine klar markierte, drastische Zäsur nach dem ersten rasanten Aufschwung sehe (vergleiche hier z. B. Ivo Pogorelichs Einspielung bei der Deutschen Grammophon). Wundervoll hingegen der H-Dur-Mittelteil, in dem Zimerman die zarte Begleitung der linken Hand, die wunderschöne polnische Weihnachtslied-Melodie und die nachschlagenden Töne im Diskant in mustergültiger Weise klanglich differenziert.

Jedes der vier Scherzi wird mit ausgiebigem Applaus bedacht, und nach jedem verlässt Zimerman kurz die Bühne, um sich zu sammeln und vielleicht einen Schluck zu trinken. Denn diese Musik ist Hochleistungssport, physisch und mental. Neben Zimermans Ausdauer beeindruckt vor allem seine Fähigkeit, jedem Scherzo ungeachtet formaler Gemeinsamkeiten einen völlig individuellen Charakter zu verleihen und immer wieder aufs Neue zu überraschen und zu fesseln.

Insgeamt wirkt Zimerman heute Abend sehr gut gelaunt und lässt sich auch nicht lange um Zugaben bitten – viel zu gern möchte er noch seine wiederentdeckte Begeisterung für den jungen Brahms mit dem Leipziger Publikum teilen, wie er selbst verrät. Und während die ersten bedauernswerten Menschen bereits zum Parkhaus hetzen, kommen alle anderen in den Genuss der ersten beiden Balladen aus Brahms’ Opus 10. Damit schließt sich musikalisch der Bogen zum ersten Teil eines Klavierabends, den die Anwesenden so schnell nicht vergessen dürften.

Frank Sindermann

13. Mai 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Krystian Zimerman, Klavier

Ohren zu und durch?

Das Leipziger Konzertpublikum hat offenbar ein Problem mit Neuer Musik, auch wenn diese schon über 100 Jahre alt ist; Schumanns Violinkonzert und Brahms’ Vierte haben es da deutlich leichter.

Carolin Widmann © Lennard Rühle

Vielleicht ist die Reihe „Zauber der Musik“ einfach der falsche Rahmen für diese großartige Musik. Anders kann ich mir jedenfalls kaum erklären, mit welcher Ablehnung das Publikum im heutigen MDR-Konzert auf Charles Ives’ „Three Places in New England“ reagiert. Vor mir hält sich ein Herr demonstrativ die Ohren zu, andernorts verlässt jemand fluchtartig den Saal. Dabei ist dieses Schlüsselwerk der amerikanischen Musikgeschichte doch mittlerweile auch schon über 100 Jahre alt! Sicherlich, diese Musik ist nicht ganz einfach zu hören, klingt stellenweise laut bis grell und tritt manche Konvention mit Füßen; gleichzeitig ist sie aber so zart und subtil, so reich an Farben und Motiven, dass man ins Schwärmen geraten könnte – gesetzt den Fall, dass man sich auf diese Art Musik überhaupt einlassen WILL.

Das MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Markus Poschner bietet jedenfalls keinerlei Anlass zum Davonlaufen – ganz im Gegenteil. Schon der erste der drei Sätze schlägt mich unmittelbar in seinen Bann. Der sphärische Streicherklang der Eröffnungstakte, die nebelhaft verhangene Grundstimmung der Musik, vor allem aber die wunderbar zurückhaltend geblasenen Soli von Horn, Flöte, Oboe und Klarinette üben eine geradezu magische Wirkung aus. Leider verliert sich Dirigent Markus Poschner bisweilen allzu sehr im Klanglichen und verwischt das durchaus vorhandene Grundmetrum zum atmosphärischen Ungefähr. Das zweite Stück gestaltet Poschner als wahres Klanginferno. Dabei behält er stets die Übersicht über das komplexe Geschehen, wenn sich auch die unterschiedlichen musikalischen Ebenen mitunter noch ein wenig mehr gegeneinander verschieben als von Ives vorgesehen. Das Orchester spielt kraftvoll und mit dem hier nötigen Mut zum Hässlichen und zeigt damit – besonders im direkten Vergleich zum ersten Satz – seine stilistische Wandlungsfähigkeit. Der letzte Satz knüpft stimmungsmäßig wieder an den ersten an. Hier gefällt mir vor allem die gleichmäßig aufgebaute Steigerung und Intensivierung des Geschehens. Als die Musik auf ihrem Höhepunkt abrupt abreißt und nach wenigen leisen Takten einfach aufhört, bleibe ich tief bewegt zurück.

Gemäß der heutzutage in Stein gemeißelten Programmfolge „kurzes Stück – Solokonzert – Pause – Sinfonie“ folgt nun das Solokonzert. Carolin Widmann, Geigenprofessorin an der Leipziger Musikhochschule, spielt Robert Schumanns Violinkonzert und beweist eindrucksvoll, dass dieses nach wie vor stiefmütterlich behandelte Werk sein Schattendasein im Konzertbetrieb nicht im Geringsten verdient hat. Dabei betont sie schon im dramatisch bewegten Kopfsatz eher den poetischen Gehalt des Konzerts. Warum sie bereits die Orchesterexposition mitspielt, erschließt sich mir allerdings nicht, läuft sie damit doch sozusagen auf dem Teppich mit, der ihr gerade ausgerollt wird. Herzstück des Konzerts ist für mich der lyrische Mittelsatz, den Widmann sehr gefühlvoll und klanglich differenziert spielt. Das Finale verweigert sich den genretypischen großen Gesten und wird zum Glück auch von Solistin und Dirigent nicht künstlich aufgebauscht. Auch beim von Schumann vorgesehenen gemäßigtem Tempo ist der Satz alles andere als leicht zu spielen, was sich an der einen oder anderen technischen Ungenauigkeit zeigt. Wichtiger ist aber der musikalische Ausdruck und hier gelingt Carolin Widmann eine stimmige Interpretation. Das Orchester erweist sich als verlässlicher Partner, ohne aber starke eigene Akzente zu setzen. Dass Widmann als Zugabe ein Stück des wohl meistunterschätzten Komponisten der Musikgeschichte wählt – Georg Philipp Telemann -, freut mich ganz besonders. Widmann zeigt anhand des Dolce aus der Fantasie TWV 40:20, dass Telemanns Musik viel öfter gespielt werden sollte.

Die nach der Pause gespielte Brahms-Sinfonie überzeugt mich heute am wenigsten. Da ist zunächst das Spiel des Orchesters, das insgesamt deutlich unkonzentrierter und fehleranfälliger als im ersten Teil des Konzerts wirkt. Schwerer wiegt jedoch das Fehlen eines stimmigen Kozepts seitens des Dirigenten, der schon im ersten Satz nicht weiß, ob er ihn elegisch und getragen (Anfang) oder dramatisch (Durchführung, Schluss) angehen soll. Steigerungen werden nur halbherzig aufgebaut, die klangliche Balance gerät oft zu Lasten der Streicher aus dem Gleichgewicht. Und es wird nicht wirklich besser: Der zweite Satz beginnt viel zu statisch, kommt zunächst nicht richtig in Fluss. Der Mittelteil mit seinem wundervollen Querflöten-Solo entschädigt dafür leider nur bedingt. Der dritte Satz klingt eher martialisch als glanzvoll, selbst das Triangel-Geklingel wirkt blechern und stumpf. Im Finale schließlich dirigiert Poschner vor allem die Passacaglia-Abschnitte durch und ignoriert dafür weitgehend den übergreifenden Spannungsbogen. So bildet die Sinfonie den eher enttäuschenden Abschluss für ein verheißungsvoll beginnendes Konzert.

Frank Sindermann

11. Mai 2019
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Markus Poschner, Dirigent
Carolin Widmann, Violine