Alan Gilbert dirigiert drei Werke mit einer großen Gemeinsamkeit: Sie gehen neue Wege.
Es ist ohne Frage ein sehr kontrastreiches Programm, das Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, in den Konzerten dieser Woche im Gewandhaus dirigert. Und doch verbindet die Werke von Sibelius, Copland und Beethoven ein erkennbarer Wille zur musikalischen Innovation, zum Neu- und Weiterdenken althergebrachter Muster und Strukturen.
So lässt Sibelius in seiner sinfonischen Dichtung „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“ das Pferd derart monoton durch die Nacht galoppieren, dass gar Vergleiche zur Minimal Music gezogen wurden; Aaron Copland tariert in seiner Orgelsinfonie die Länge und Bedeutung der drei Sätze neu aus und Ludwig van Beethoven fügt seiner Sinfonie Nr. 6, der sogenannten „Pastorale“, nicht nur einen seinerzeit sehr unüblichen fünften Satz hinzu, sondern geht überdies in der Gewitterszene selbstbewusst den Weg von der Melodie zum Geräusch.
Wie auch schon bei seiner überzeugenden Smetana-Interpratation in der vergangenen Spielzeit (https://brahmsianer.de/fokus-boehmen-smetana), erweist sich Alan Gilbert auch heute als umsichtiger Dirigent, der uneitel die Musik in den Vordergrund stellt und dabei ein hohes Maß an klanglicher Differenzierung erzielt. Selbst ein Werk wie Sibelius’ „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“, das ich immer als etwas langatmig und ermüdend empfand, gewinnt durch Gilberts eher analytischen Ansatz deutlich an Kontur. Dies funktioniert selbstverständlich nur, wenn man einen Klangkörper wie das Gewandhausorchester zur Verfügung hat, bei dem die einzelnen Instrumente tatsächlich wie Teile eines großen Organismus agieren, die für sich allein ebenso überzeugen wie als Ganzes.
In Michael Schönheits Interpretation von Aaron Coplands Orgelsinfonie – das hier schon zum dritten Mal auf dem Programm steht – verschwimmen die (rhythmischen) Konturen mitunter zwar etwas, jedoch wird dies durch das engagierte Spiel des Gewandhausorganisten mehr als ausgeglichen. Durch eine jederzeit spürbare persönliche Identifikation mit dem Werk schafft es Schönheit, das Feuer ins Publikum zu tragen und erhält dafür zu Recht begeisterten Applaus.
In der zweiten Konzerthälfte präsentiert Gilbert eine Konsens-„Pastorale“ im besten Sinne, die sehr dicht an der Partitur bleibt und sich von bräsiger Klangschwelgerei ebenso fern hält wie von gewollten Knalleffekten und betonter Nüchternheit. Es ist ein Beethoven des 21. Jahrhunderts: Die romantisierende Sicht eines Herbert von Karajan ist ebenso überwunden wie die Klangaskese des frühen Harnoncourt; die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis haben den Orchesterklang verschlankt und flexibilisiert, ohne seine Sinnlichkeit zu opfern. Abgesehen von den zwar laut, aber zu hell klingenden Pauken in der Gewitterszene und dem etwas zu drängenden, unentpannten Charakter des Schlusssatzes überzeugt mich diese Interpretation voll und ganz – nicht zuletzt aufgrund zahlreicher schöner Soli, von denen hier stellvertretend Nachtigall (Flöte), Wachtel (Oboe) und Kuckuck (Klarinette) am Ende des zweiten Satzes genannt seien.
Dass der Applaus nach dieser wirklich hörenswerten „Pastorale“ zunächst völlig ausbleibt und sich erst nach einer aufmunternden Geste des Dirigenten Bahn bricht, liegt wohl weniger an der Aufführung selbst als an einem quasi-religiösen, bierernsten Konzertwesen, in dem man lieber gar nicht klatscht als an der falschen Stelle oder als einzige(r). Je länger der Applaus ausbleibt, desto größer wird die Hemmung, den Anfang zu machen – Gruppendynamik à la Gewandhaus.
Frank Sindermann
6. Februar 2020
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Michael Schönheit, Orgel