Meer als genug

Andris Nelsons eröffnet die 239. Gewandhaus-Saison mit Mozart, Debussy und Strawinsky.

Katsushika Hokusai: „Die große Welle vor Kanagawa“

Die Pressemappe zur 239. Gewandhaus-Saison wirbt mit dem Slogan „Frischer Wind überall“, was mir doch etwas übertrieben erscheint: Der Bruckner-Zyklus wird fortgesetzt, Herbert Blomstedt dirigiert Brahms, zum Jahreswechsel erklingt Beethovens Neunte, das Stadtteilprojekt geht weiter, es gibt mit HK Gruber einen zweiten Gewandhaus-Komponisten etc. Das ist alles durchaus erfreulich – aber frischer Wind?

Das Programm des Eröffnungskonzerts ist jedenfalls deutlich weniger ambitioniert als vor einem Jahr (https://brahmsianer.de/auftakt-in-ueberlaenge), aber dafür klug zusammengestellt. Gerade die Kombination von Debussys „La Mer“ und Strawinskys „Feuervogel“-Suite überzeugt, zeigt sie doch spannende Parallelen dieser auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Musik auf. Hierzu hätte auch Bartóks 3. Klavierkonzert sehr gut gepasst, das wegen einer Absage des Pianisten András Schiff leider entfällt.

Am Anfang des Konzerts steht nun stattdessen Mozarts Klavierkonzert G-Dur KV 453, das Martin Helmchen sehr klangschön und sensibel spielt. Es ist ein introvertierter, fast melancholischer Mozart, den wir in den ersten beiden Sätzen hören; im abschließenden Variationensatz herrscht dann reine Spielfreude. Das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons hält sich über weite Strecken dezent im Hintergrund, setzt aber immer wieder auch eigene Akzente. Aufhorchen lassen vor allem die fabelhaften Holzbläser, die sich allerdings klanglich nicht immer gegen das Klavier durchsetzen können. Alles in allem eine sehr geschmackvolle, stilsichere Aufführung, die Lust auf mehr Mozart im Gewandhaus macht! Als Zugabe spielt Helmchen den langsamen Satz aus der Klaviersonate KV 332 – als intimes Selbstgespräch in vollendeter Klangkultur.

Genau jene Klangkultur vermisse ich nach der Pause in Debussys „La Mer“ hin und wieder. Während der wunderbar zarte, schwebende Beginn noch Anlass zu schönster Hoffnung gibt, wird die filigrane Struktur der Komposition im weiteren Verlauf des ersten Satzes ungeachtet schöner bis schönster Details nicht immer klar genug herausgearbeitet. Vor allem dessen Ende gerät Nelsons im Überschwang der Emotionen allzu effekthascherisch und laut. Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen. †††††††††††

Der zweite Satz ist ein wahres Fest großartiger Soli von Flöte, Oboe, Klarinette, Trompete, Harfen, … und ist klanglich deutlich besser abgemischt. Den dritten Satz präsentiert Nelsons als spannungsgeladenen Kampf der Elemente, dessen rhythmisch vertrackten Schluss er mustergültig realisiert.

Im „Feuervogel“ stimmt dann praktisch alles: Das schwermütige Wiegenlied gelingt ebenso überzeugend wie der wahnsinnige Tanz des bösen Königs, der anmutig schwebende Tanz des Feuervogels ebenso wie das prächtige Finale. Begeisterter Applaus für einen sehr gelungenen Saisonauftakt.

Frank Sindermann

31. August 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Martin Helmchen, Klavier

Musik und Salami

Thomas Adès dirigiert die europäische Erstaufführung seines Klavierkonzerts und drei weitere Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Salami, Brot und Wein | Mandy Fontana @ pixabay

Auf die Frage, was ihm außer Musik noch wichtig sei, antwortet der britische Pianist, Komponist und Dirigent Thomas Adès im Fragebogen des Programmhefts schlicht: „Salami“. Sein neues Klavierkonzert, das heute seine europäische Erstaufführung erlebt, kann durchaus in diesem Sinne verstanden werden: Die romantische, fast schwelgerische Grundstimmung des Konzerts entspräche dann dem herzhaften Aroma einer Salami, während sich deren feine Würze in den vielen klanglichen Raffinessen des Orchestersatzes wiederfände. Viele musikalische Einflüsse von Ravel bis Gershwin und darüber hinaus verbinden sich im Konzert zu neuer Einheit, wie die Zutaten einer guten Salami zu einem kohärenten Geschmackserlebnis verschmelzen.

Aber Wurst beiseite: Was Adès dem befreundeten Pianisten Kirill Gerstein in die Finger komponiert hat, belebt die Idee des brillanten Virtuosenkonzerts auf zeitgemäße Weise zu neuem Leben. Dass der Komponist dabei auf schwülstige außermusikalische Programmatik verzichtet und die Musik für sich wirken lässt, freut mich als Brahmisaner ganz besonders. Gute Musik hat derlei auch nicht nötig. Der komplexe Kopfsatz, das klanglich überaus reizvolle Andante und das virtuose Finale langweilen keine Sekunde und bedürfen keiner erklärenden Worte. Kirill Gerstein wirft sich mit Leib und Seele in den ihm gewidmeten Klavierpart und überzeugt gleichermaßen mit energiegeladener Virtuosität und feiner Nuancierungskunst. Dass Gerstein in klassischer Musik und Jazz gleichermaßen zu Hause ist, hat Adès selbstverständlich berücksichtigt und den Solopart des Konzerts entsprechend vielseitig ausgestaltet. Dem Publikum gefällt dies offenbar, jedenfalls applaudiert es dem Pianisten, dem hervorragenden Gewandhausorchester und dem Komponisten/Dirigenten ausgiebig. Ob das Konzert sich im Konzertbetrieb halten wird, bleibt abzuwarten. Es zeigt jedenfalls, dass musikalischer Anspruch und Zugänglichkeit durchaus zusammengehen können.

Den Rest des Konzertes erlebe ich als beliebig zusammengestellte bunte Aufschnittplatte schwankender Appetitlichkeit. Während mir Beethovens „Namensfeier“-Ouvertüre trotz engagiertem Spiel des Orchesters etwas fade schmeckt, empfinde ich Liszts martialische „Hunnenschlacht“ als zu fett und geradezu überwürzt. Daran ändern auch der effektvolle Orgeleinsatz und die kompositorische Modernität des Werkes nichts. Dann schon eher Strawinskys Sinfonie in drei Sätzen, die heute eine sehr respektable Aufführung erlebt und musikalisch die Brücke zum Klavierkonzert im ersten Teil des Konzerts schlägt.

Frank Sindermann

25. April 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Thomas Adès, Dirigent
Kirill Gerstein, Klavier