Musikalische Experimente

Alan Gilbert dirigiert drei Werke mit einer großen Gemeinsamkeit: Sie gehen neue Wege.

Beethoven bei der Komposition der Pastorale (Detail; 1834)

Es ist ohne Frage ein sehr kontrastreiches Programm, das Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, in den Konzerten dieser Woche im Gewandhaus dirigert. Und doch verbindet die Werke von Sibelius, Copland und Beethoven ein erkennbarer Wille zur musikalischen Innovation, zum Neu- und Weiterdenken althergebrachter Muster und Strukturen.

So lässt Sibelius in seiner sinfonischen Dichtung „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“ das Pferd derart monoton durch die Nacht galoppieren, dass gar Vergleiche zur Minimal Music gezogen wurden; Aaron Copland tariert in seiner Orgelsinfonie die Länge und Bedeutung der drei Sätze neu aus und Ludwig van Beethoven fügt seiner Sinfonie Nr. 6, der sogenannten „Pastorale“, nicht nur einen seinerzeit sehr unüblichen fünften Satz hinzu, sondern geht überdies in der Gewitterszene selbstbewusst den Weg von der Melodie zum Geräusch.

Wie auch schon bei seiner überzeugenden Smetana-Interpratation in der vergangenen Spielzeit (https://brahmsianer.de/fokus-boehmen-smetana), erweist sich Alan Gilbert auch heute als umsichtiger Dirigent, der uneitel die Musik in den Vordergrund stellt und dabei ein hohes Maß an klanglicher Differenzierung erzielt. Selbst ein Werk wie Sibelius’ „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“, das ich immer als etwas langatmig und ermüdend empfand, gewinnt durch Gilberts eher analytischen Ansatz deutlich an Kontur. Dies funktioniert selbstverständlich nur, wenn man einen Klangkörper wie das Gewandhausorchester zur Verfügung hat, bei dem die einzelnen Instrumente tatsächlich wie Teile eines großen Organismus agieren, die für sich allein ebenso überzeugen wie als Ganzes.

In Michael Schönheits Interpretation von Aaron Coplands Orgelsinfonie – das hier schon zum dritten Mal auf dem Programm steht – verschwimmen die (rhythmischen) Konturen mitunter zwar etwas, jedoch wird dies durch das engagierte Spiel des Gewandhausorganisten mehr als ausgeglichen. Durch eine jederzeit spürbare persönliche Identifikation mit dem Werk schafft es Schönheit, das Feuer ins Publikum zu tragen und erhält dafür zu Recht begeisterten Applaus.

In der zweiten Konzerthälfte präsentiert Gilbert eine Konsens-„Pastorale“ im besten Sinne, die sehr dicht an der Partitur bleibt und sich von bräsiger Klangschwelgerei ebenso fern hält wie von gewollten Knalleffekten und betonter Nüchternheit. Es ist ein Beethoven des 21. Jahrhunderts: Die romantisierende Sicht eines Herbert von Karajan ist ebenso überwunden wie die Klangaskese des frühen Harnoncourt; die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis haben den Orchesterklang verschlankt und flexibilisiert, ohne seine Sinnlichkeit zu opfern. Abgesehen von den zwar laut, aber zu hell klingenden Pauken in der Gewitterszene und dem etwas zu drängenden, unentpannten Charakter des Schlusssatzes überzeugt mich diese Interpretation voll und ganz – nicht zuletzt aufgrund zahlreicher schöner Soli, von denen hier stellvertretend Nachtigall (Flöte), Wachtel (Oboe) und Kuckuck (Klarinette) am Ende des zweiten Satzes genannt seien.

Dass der Applaus nach dieser wirklich hörenswerten „Pastorale“ zunächst völlig ausbleibt und sich erst nach einer aufmunternden Geste des Dirigenten Bahn bricht, liegt wohl weniger an der Aufführung selbst als an einem quasi-religiösen, bierernsten Konzertwesen, in dem man lieber gar nicht klatscht als an der falschen Stelle oder als einzige(r). Je länger der Applaus ausbleibt, desto größer wird die Hemmung, den Anfang zu machen – Gruppendynamik à la Gewandhaus.

Frank Sindermann

6. Februar 2020
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Michael Schönheit, Orgel

Fokus Böhmen: Smetana

Alan Gilbert dirigiert Smetana für Groß und Klein; Malte Arkona liest aus dem Tagebuch von Friedrich Sahne und hört ein Fagott schnarchen.

Mündung der Moldau © Hans Weingartz

Wenn in einem einzigen Konzertprogramm auf musikalische Weise von prächtigen Burgen, tanzenden Nixen, reißenden Stromschnellen, kriegerischen Amazonen, schnarchenden Rittern, Feldern und Wäldern sowie den Hussitenkriegen erzählt wird, dann steht ganz eindeutig Bedřich Smetanas Tondichtung „Má Vlast“ auf dem Programm. Während die unverwüstliche „Moldau“ nach wie vor regelmäßig gespielt wird, sind die übrigen fünf sinfonischen Dichtungen des Zyklus hierzulande eher selten zu hören. Im Rahmen des Saisonschwerpunkts „Fokus Böhmen“ erklingt das gesamte Werk nun erstmals seit zehn Jahren im Gewandhaus.

Alan Gilbert ist kein Dirigent der Extreme. Statt den durchaus vorhandenen kitschigen und pathetischen Zügen der Musik allzu sehr nachzugeben, sucht er inmitten von Triangel-Gebimmel und Paukenschlägen erfolgreich nach den feineren musikalischen Details und demonstriert auf diese Weise eindrucksvoll Smetanas melodischen Erfindungsreichtum, vor allem aber seine große Instrumentationskunst. Vom geheimnisvollen „Es war einmal“ der Harfe im eröffnenden „Vyšehrad“ bis zum Siegestaumel am Schluss von „Blaník“ spannt Gilbert einen überzeugenden dramaturgischen Bogen, der die vielfältigen Eindrücke und emotionalen Kontraste mühelos zusammenhält. 

Das Gewandhausorchester ist stilistisch in dieser Musik zu Hause und das merkt man ihm auch durchweg an. Angesichts der zahlreichen Solopassagen und Herausforderungen für nahezu alle Instrumente fällt es schwer, die Leistung der Musiker_innen individuell zu würdigen; stellvertretend seien hier die grandiosen Holzbläser genannt, die nicht nur zu Beginn der „Moldau“ virtuos die Quellen sprudeln lassen (Flöte, Klarinette), sondern auch den Gesang eines Hirtenjungen in „Blaník“ (Oboe, Klarinette) oder das Schnarchen des Prinzen Ctirad in „Šárka“ kongenial zum Leben erwecken.

Auch im Familienkonzert am Samstag Nachmittag geht es dann um jenes Schnarchen, das sich Moderator Malte Arkona erst einmal vom Fagottisten Eckehard Kupke einzeln vorspielen lässt. Im Wanderoutfit führt Arkona die Kinder und Erwachsenen durch die böhmische Landschaft und erzählt etwas über den Komponisten und sein Werk. Die immer wieder eingestreuten launigen Bemerkungen bereiten dabei nicht nur den Kindern Spaß: So bezeichnet er die Streichergruppe mal als Streichelzoo, mal als Streichelorchester, sinniert über die Vorteile der 2. Violine, falls man die erste einmal verlegt habe, wundert sich darüber, dass man mit Holzblasen Geld verdienen könne und erzählt, dass Smetanas Name übersetzt „Sahne“ bedeute.

Die Kinder lauschen von ihren eigens ausgegebenen Sitzerhöhungen aus gebannt und sind auch während der Musikdarbietungen recht konzentriert bei der Sache. Manche setzen die selbst gebastelten blickdichten Hörbrillen auf, um sich nicht durch die Augen ablenken zu lassen, andere dirigieren hingegen fleißig mit.

Als Ort zum Staunen und Entdecken zeigt sich das Gewandhaus bereits vor dem eigentlichen Konzert, indem es den großen und kleinen Besucher_innen die Möglichkeit bietet, Instrumente selbst auszuprobieren oder die Bastelstation zu besuchen und sich so das imposante Gebäude auf spielerische Art zu erschließen. 

Das Programmheft mit seinen Rätseln und Illustrationen lädt dazu ein, sich auch nach dem Konzert weiter mit Smetana und seinem Werk zu beschäftigen. An einer Stelle ist zu lesen: „Smetana heißt übersetzt »Sahne«, erste Sahne klingt auch seine Musik.“ Dies stimmt natürlich und gilt vor allem, wenn sie so gut gespielt und so liebevoll vermittelt wird wie in den Großen Concerten dieser Woche.

Frank Sindermann

22./24. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Malte Arkona, Moderation (24.11.)


Fokus Böhmen: Dvořák

Alan Gilbert und das Gewandhausorchester beschwören eine Hexe und tanzen Furiant; Truls Mørk spielt die Mutter aller Cellokonzerte.

Truls Mørk © Johs Boe

Große Gesten sind seine Sache nicht, weder im Auftreten, noch in der Musik; entsprechend vermeidet Truls Mørk in Dvořáks Cellokonzert emotionale Extreme. Was er dadurch der Dramatik des Konzerts, insbesondere des Kopfsatzes, schuldig bleibt, gleicht er durch sein einfühlsames, klangsinnliches Spiel mehr als aus. Die weit ausschwingenden melodischen Linien lassen staunend erleben, wieviel Musik auf einen einzigen Bogenstrich passt. Minutiös befolgt Mørk auch noch die unscheinbarsten Vorgaben des Komponisten, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen.

Dies trifft auf das Gewandhausorchester leider nicht in gleichem Maße zu, das vor allem im dynamischen Bereich allzu ungenau spielt und das Cello mehr als einmal fast überdeckt. Auch manche Soli, z. B. der Querflöte, klingen viel lauter als vorgeschrieben und treten teils zu stark hervor. Diese Tendenz zur mangelnden klanglichen Differenzierung ist auch schon bei Konzertbeginn zu erleben. Dirigent Alan Gilbert holt das Maximum an Wirkung aus Dořáks musikalisch gewagter, dabei aber auch arg plakativer „Mittagshexe“ heraus und interpretiert das tschechische Schauermärchen als mitreißenden Psychothriller – allein: Nicht selten gerät im Eifer des Gefechts die Klangbalance aus dem Gleichgewicht. Vielleicht verlange ich zuviel, vielleicht reicht für manche Details auch schlicht die Probenzeit nicht?

Andererseits erweist sich nach der Pause Dvořáks sechste Sinfonie als Musterbeispiel an Orchesterkultur und zeigt, dass es auch deutlich besser geht. Die von Anfang bis Ende spürbare Spielfreude, das musikantische Feuer, das nicht nur im Furiant entfacht wird, gehen hier zum Glück nicht zulasten der musikalischen Feinarbeit, sondern stiften jene Einheit von stimmigem Gesamtbild und klarem Detail, die ich im ersten Konzertteil noch etwas vermisst habe. 

Frank Sindermann

15. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Truls Mørk, Violoncello