Die traurigste Musik

Das Orchestre national de Lyon gastiert unter Leonard Slatkin im Gewandhaus und erinnert an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren.

Leonard Slatkin © Cindy McTee

Samuel Barbers „Adagio for Strings“ ist in Amerika beinahe Pflichtprogramm, wenn um berühmte Persönlichkeiten getrauert oder an Krieg und Terror erinnert wird. Es erklang bei den Beerdigungen John F. Kennedys, Grace Kellys und Albert Einsteins ebenso wie in den Filmen „Platoon“ oder „Der Soldat James Ryan“. Dies ist naheliegend und verständlich und bringt doch einen bedauerlichen Effekt mit sich: Jenes wunderschön traurige Streicherstück ist inzwischen vollkommen funktionalisiert und damit zur musikalischen Untermalung geworden. Wo immer es erklingt, muss davon ausgegangen werden, dass es einen wichtigen außermusikalischen Grund gibt, der die jeweilige Aufführung legitimiert.

Dies ist schade, denn das Adagio kann durchaus für sich stehen; sein Schmerz und seine Traurigkeit können beim Hören mit ganz eigenen Assoziationen verknüpft werden; auch kann die Musik rein ästhetisch gehört werden. Dies bietet sich heute Abend besonders an, denn Leonard Slatkin und das Orchestre national de Lyon musizieren überaus subtil und klangschön. Mit sparsamen Gesten leitet Slatkin das Streichorchester, das fast zu einem Instrument verschmilzt. Wie die Musik fast unmerklich anhebt, sich suggestiv steigert und schließlich verlischt, ist schlicht bewundernswert. 

Mit Rachmaninoffs Klavierkonzerten konnte ich persönlich nie viel anfangen, woran auch die heutige Aufführung nichts ändert. Rhythmische Ungenauigkeiten und ein teils zu lautes Orchester im ersten und dritten Satz und das etwas ziellose Auf und Ab zwischen Anspannung und Kontemplation ergeben ein unruhiges, unscharfes Bild. Khatia Buniatishvilis Spiel ist technisch zwar nicht über jeden Zweifel erhaben, dafür aber durchaus originell, wenn auch manchmal etwas gewollt. Am meisten überzeugt mich der Mittelsatz. Was Buniatishvili und die Musiker_innen des Lyoner Orchesters dem abgenudelten Schmachtfetzen an lyrischen Feinheiten entlocken, überrascht und erfreut zugleich. Als Zugabe spielt Khatia Buniatishvili eine Klavierfassung der Bachschen Arie „Schafe können sicher weiden“; mich berührt sie damit mehr als im ganzen Rachmaninoff zuvor.

Im zweiten Teil des Konzerts stehen Werke Ravels und Debussys auf dem Programm, die dem Orchester viele Möglichkeiten bieten, seine Klasse unter Beweis zu stellen. Vom flirrenden Holzbläser-Beginn des „Tombeau de Couperin“ bis zum letzten Aufbranden des Meeres in „La Mer“ zeigt sich in jedem Takt, wie vertraut das Orchester mit dieser Musik ist. Leonard Slatkin entlockt den Lyonern wahre Zauberklänge und lässt hoffen, dass dieser Besuch in Leipzig sich möglichst bald wiederholen möge.

Frank Sindermann

6. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Orchestre national de Lyon
Leonard Slatkin, Dirigent
Khatia Buniatishvili, Klavier