Den richtigen Ton treffen

Isabelle Faust und das Gewandhausorchester eröffnen im Rahmen des Demokratie-Wochenendes die 245. Saison.

Isabelle Faust
Isabelle Faust | © Felix Broede

Was passiert, wenn aus individueller Klasse kein übergreifendes Ganzes wird, wenn die nötige Motivation fehlt, alles zu geben, das ließ sich im jüngsten Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Slowakei beobachten. Was geschieht, wenn hervorragende Musiker:innen mit höchster Motivation und Freude an der Musik zusammenspielen, konnte das Publikum im Eröffnungskonzert der 245. Gewandhaus-Saison erleben. Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons wirkte so motiviert und gleichzeitig entspannt wie lange nicht mehr und übertrug seine Begeisterung für die Musik auf alle Beteiligten. Jene vielbeschworene „Emotionalität“, die dem DFB-Team offenbar gefehlt hat – hier war sie in jeder Minute greifbar.

Drei Glockenschläge läuten das Konzert ein. Diese ersten Töne der neuen Saison stammen aus Arvo Pärts “Cantus in memoriam Benjamin Britten”, einem kurzen Werk, das exemplarisch zeigt, warum Pärt unter den noch lebenden Komponisten einer der publikumswirksamsten ist. Aus der traditionsreichen Idee des Augmentationskanons gestaltet Pärt eine komplexe und dennoch hörend nachvollziehbare Struktur. Die Streichergruppen setzen nacheinander ein, wobei sukzessive der Tonraum von den höchsten Höhen bis zu den tiefsten Bässen durchmessen wird. Gleichzeitig verdoppeln sich bei jedem Einsatz die Tondauern. Trotz dieses beinahe mathematisch anmutenden Konzepts entfaltet der “Cantus” eine mitreißende Klangwirkung. Nelsons Dirigat ist stringent und klar, sodass auch bei zunehmender Komplexität und Klangfülle stets die polyphone Struktur erkennbar bleibt. Ein gelungener Auftakt!

Die nun folgende Ansprache der Transformationsforscherin Maja Göpel im Rahmen des Demokratie-Wochenendes unter dem Motto “Den richtigen Ton treffen” erinnert ein wenig an politische Sonntagsreden. Außer einigen gut gemeinten Musik-Metaphern dürfte das Publikum aus Göpels äußerst knappen Ausführungen über die aktuelle Bedrohung der Demokratie wohl nur wenig Neues mitnehmen.

Antonín Dvořáks Violinkonzert wird eher selten aufgeführt und tatsächlich zählt es wohl nicht zu seinen besten Werken. Oder? Die heutige Aufführung durch Isabelle Faust und das Gewandhausorchester lässt jedenfalls an diesem Urteil zweifeln. Wenn das Konzert mit solch einer Hingabe musiziert wird, braucht es keinen Vergleich zu scheuen. Oder doch? Egal. Im Hier und Jetzt genieße ich eine musikalische Sternstunde. Fausts körperliches Spiel, das teils beinahe an Tanzen erinnert, und Nelsons sichtbare Freude am gemeinsamen Musizieren entfalten eine Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Der zupackend zackige Beginn des ersten Satzes zeigt sofort, wohin die Reise gehen soll, und tatsächlich bewegt sich diese Aufführung auf konstant hohem Energielevel. Wie sich Nelsons und Faust die Bälle zuspielen und Isabelle Faust immer wieder freudestrahlend Kontakt zum Orchester sucht und findet, ist eine wahre Freude. Ob im gefühlvollen, aber nie schleppenden zweiten Satz oder dem feurigen Finale: Hier ist das Vergnügen aller Beteiligten mit Händen zu greifen. Die beinahe auf ihren Sitzen hüpfende Holzbläsergruppe ist nur ein beliebiges Beispiel für ein Orchester, das lebt und atmet, schwingt und tanzt. Andris Nelsons inspiriert und motiviert, lauscht auf Orchester und Solistin, stampft auch einmal mit dem Fuß auf – mehr Musizierfreude geht nicht. Als Zugabe spielt Faust eine Solo-Fantasie des chronisch unterschätzten Georg Philipp Telemann und gibt dem Publikum damit eine weitere Gelegenheit, ihrem beseelten und wandlungsfähigen Spiel zu lauschen.


Jean Sibelius’ zweite Sinfonie ist vor allem für ihr episches Finale bekannt, bietet aber in jedem Satz aufregende Hörerlebnisse – und ernorme Herausforderungen für das Orchester. Den ersten Satz gestaltet Nelsons dramatisch, ohne seine Schroffheiten zu glätten oder seine Brüche zu kitten. Dies ist wirkungsvoll und spannend, gar keine Frage. Leider reizt Nelsons die dynamischen Möglichkeiten bereits hier fast vollständig aus, sodass er im Finale nicht mehr viel nachlegen kann. Im zweiten Satz gestaltet Nelsons mit dem Orchester einen meisterhaften Spannungsbogen. Dies gelingt vor allem deshalb, weil er stets intensiv auf das Orchester hört und sehr genau darauf reagiert, was das Orchester ihm anbietet. Vollkommenes Pizzicatospiel, strahlendes Blech, virtuoses Paukenspiel – das Gewandhausorchester präsentiert sich zum Saisonauftakt in Bestform. Das Scherzo nimmt Nelsons spannungsgeladen und beinahe atemlos, wobei ihm der Übergang zum letzten Satz leider etwas unklar gerät. Das Finale besticht vor allem durch orchestrale Prachtentfaltung. Die etwa fünfminütige Schlusssteigerung wird zum krönenden Abschluss eines herausragenden Konzertabends. Das begeisterte Publikum belohnt eine technisch beeindruckende, vor allem aber durchweg inspirierte Leistung mit stehenden Ovationen.


Ein gelungener Saisonauftakt, bei dem stets der richtige Ton getroffen wurde!

Wertung:

5 von 5 Punkten

Frank Sindermann

Musikalische Experimente

Alan Gilbert dirigiert drei Werke mit einer großen Gemeinsamkeit: Sie gehen neue Wege.

Beethoven bei der Komposition der Pastorale (Detail; 1834)

Es ist ohne Frage ein sehr kontrastreiches Programm, das Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, in den Konzerten dieser Woche im Gewandhaus dirigert. Und doch verbindet die Werke von Sibelius, Copland und Beethoven ein erkennbarer Wille zur musikalischen Innovation, zum Neu- und Weiterdenken althergebrachter Muster und Strukturen.

So lässt Sibelius in seiner sinfonischen Dichtung „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“ das Pferd derart monoton durch die Nacht galoppieren, dass gar Vergleiche zur Minimal Music gezogen wurden; Aaron Copland tariert in seiner Orgelsinfonie die Länge und Bedeutung der drei Sätze neu aus und Ludwig van Beethoven fügt seiner Sinfonie Nr. 6, der sogenannten „Pastorale“, nicht nur einen seinerzeit sehr unüblichen fünften Satz hinzu, sondern geht überdies in der Gewitterszene selbstbewusst den Weg von der Melodie zum Geräusch.

Wie auch schon bei seiner überzeugenden Smetana-Interpratation in der vergangenen Spielzeit (https://brahmsianer.de/fokus-boehmen-smetana), erweist sich Alan Gilbert auch heute als umsichtiger Dirigent, der uneitel die Musik in den Vordergrund stellt und dabei ein hohes Maß an klanglicher Differenzierung erzielt. Selbst ein Werk wie Sibelius’ „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“, das ich immer als etwas langatmig und ermüdend empfand, gewinnt durch Gilberts eher analytischen Ansatz deutlich an Kontur. Dies funktioniert selbstverständlich nur, wenn man einen Klangkörper wie das Gewandhausorchester zur Verfügung hat, bei dem die einzelnen Instrumente tatsächlich wie Teile eines großen Organismus agieren, die für sich allein ebenso überzeugen wie als Ganzes.

In Michael Schönheits Interpretation von Aaron Coplands Orgelsinfonie – das hier schon zum dritten Mal auf dem Programm steht – verschwimmen die (rhythmischen) Konturen mitunter zwar etwas, jedoch wird dies durch das engagierte Spiel des Gewandhausorganisten mehr als ausgeglichen. Durch eine jederzeit spürbare persönliche Identifikation mit dem Werk schafft es Schönheit, das Feuer ins Publikum zu tragen und erhält dafür zu Recht begeisterten Applaus.

In der zweiten Konzerthälfte präsentiert Gilbert eine Konsens-„Pastorale“ im besten Sinne, die sehr dicht an der Partitur bleibt und sich von bräsiger Klangschwelgerei ebenso fern hält wie von gewollten Knalleffekten und betonter Nüchternheit. Es ist ein Beethoven des 21. Jahrhunderts: Die romantisierende Sicht eines Herbert von Karajan ist ebenso überwunden wie die Klangaskese des frühen Harnoncourt; die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis haben den Orchesterklang verschlankt und flexibilisiert, ohne seine Sinnlichkeit zu opfern. Abgesehen von den zwar laut, aber zu hell klingenden Pauken in der Gewitterszene und dem etwas zu drängenden, unentpannten Charakter des Schlusssatzes überzeugt mich diese Interpretation voll und ganz – nicht zuletzt aufgrund zahlreicher schöner Soli, von denen hier stellvertretend Nachtigall (Flöte), Wachtel (Oboe) und Kuckuck (Klarinette) am Ende des zweiten Satzes genannt seien.

Dass der Applaus nach dieser wirklich hörenswerten „Pastorale“ zunächst völlig ausbleibt und sich erst nach einer aufmunternden Geste des Dirigenten Bahn bricht, liegt wohl weniger an der Aufführung selbst als an einem quasi-religiösen, bierernsten Konzertwesen, in dem man lieber gar nicht klatscht als an der falschen Stelle oder als einzige(r). Je länger der Applaus ausbleibt, desto größer wird die Hemmung, den Anfang zu machen – Gruppendynamik à la Gewandhaus.

Frank Sindermann

6. Februar 2020
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Alan Gilbert, Dirigent
Michael Schönheit, Orgel

Musik mit Brahms

Detlev Glanert erzählt von „Marschland und großen Himmeln“; Emmanuel Tjek­­­na­vo­rian begeistert mit Sibelius’ Violinkonzert

Emmanuel Tjeknavorian © Uwe Arens

Dass sich Notbesetzungen als absolute Glücksbesetzungen erweisen können, hat in der letzten Saison bereits Martin Helmchen am Klavier bewiesen. Im heutigen Großen Concert des Gewandhausorchesters übernimmt Emma­nuel Tjek­na­vorian für die erkrankte Janine Jansen den Solopart in Sibelius’ Violinkonzert. Als Preisträger des Jean-Sibelius-Violinwettbewerbs 2015 für die beste Interpretation eben jenes Konzerts bringt Tjek­na­vorian die besten Voraussetzungen mit, den Abend zu retten, und es gelingt ihm bravourös.

Mit schlankem, klarem Ton geht der Wiener Geiger das Konzert an und legt durch seinen Verzicht auf Pathos und aufgesetzte Dramatik die etwas spröde Schönheit des Werkes frei. Es ist ein schlichter, verinnerlichter Zugang, der durch noble Zurückhaltung und Klangschönheit überzeugt.

Das Gewandhausorchester unter Semyon Bych­kov reagiert sensibel auf den Solisten, wobei einzelne rhythmische Ungenauigkeiten im ersten und dritten Satz den Gesamteindruck trüben. Auch könnten die dynamischen Abstufungen präziser umgesetzt werden. Ein ppp quasi niente spielen die Hörner am Ende des zweiten Satzes nicht einmal ansatzweise.

Umrahmt wird das Violinkonzert von Detlev Gla­nerts Komposition „Weites Land“ von 2013 und Antonín Dvořaks Sinfonie Nr. 7 d-Moll op. 70. Gla­nert bezeichnet seine knapp zehnminütige Brahms-Hommage als „Musik mit Brahms“ und nimmt die ersten Takte aus dessen 4. Sinfonie zum Ausgangspunkt einer Reise, die ihn in die gemeinsame norddeutsche Heimat führt. Dabei kann von Weite zunächst keine Rede sein – eher beengt und bedrängt beginnt die Komposition, die erst im Laufe ihres Weges, vorbei an zahllosen Terzen, in offenes Gelände gelangt. Währenddessen hellt sich die Stimmung auf und vom bedeutungsschwangeren Beginn bleibt nur noch eine ironische Geste. Dies ist unbedingt hörenswert und es ist daher sehr erfreulich, dass Semyon Bychkov das Werk nicht nur in Leipzig, sondern auch in anderen Städten dirigert. Besonders freut mich aber, dass Glanert diese wunderbare Musik für ein ganz gewöhnliches Sinfonieorchester à la Brahms komponiert und auf selbstzweckhafte modische Klangeffekte verzichtet hat.

Antonín Dvořaks 7. Sinfonie ist nach wie vor nicht so bekannt wie die beiden nachfolgenden und wird es mangels vieler Ohrwurmmelodien auch wohl niemals sein. Sie ist von tiefem Ernst geprägt und wer sich darauf einlässt, wird getreu dem Gewandhaus-Motto „Res severa verum gaudium“ („Wahre Freude ist eine ernste Sache.“) reich belohnt. Herbert Blom­stedt hat einmal gesagt, dass ihm die siebente die liebste der neun Dvořak-Sinfonien sei, und ich kann das gut nachvollziehen. Das Gewandhausorchester unter Semyon Bychkov präsentiert das dramatische Werk in sehr überzeugender Weise.  Vom ungewohnt scharf gespielten düsteren Kopfsatz über den brahmsisch-elegischen zweiten und den tänzerischen dritten spannt sich ein musikalischer Bogen bis zum dramatisch bewegten Finalsatz, wobei der Ausdrucksgehalt jedes Satzes intensiv, aber immer subtil ausmusiziert wird. Semyon Bychkov, seit dieser Saison Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, leitet das Orchester mit der Souveränität seiner langjährigen Erfahrung und einer stets wachen Aufmerksamkeit für den Moment. Großer Jubel.

Frank Sindermann

Vor dem Konzert haben Orchestervorstand Matthias Schreiber und Gewandhausdirektor Andreas Schulz ein Plädoyer für Dialogbereitschaft und gegenseitigen Respekt verlesen, das implizit auf die jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz Bezug nimmt:

6. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester Leipzig
Semyon Bychkov, Dirigent
Emmanuel Tjeknavorian, Violine