Endlich September

Ehrendirigent Herbert Blomstedt (96) dirigert zur Saisoneröffnung im Gewandhaus Sinfonien von Schubert und Berwald.

Skandinavische Alpen | Bildnachweis siehe unten

Es vermag mir nicht recht einzuleuchten, warum alte Menschen besser geeignet wären, die Sinfonie eines Neunzehnjährigen aufzuführen, wie dies ein Leipziger Musikkritiker jüngst behauptete; schaden kann ein hohes Alter andererseits auch nicht, wie der 96-jährige Herbert Blomstedt im Eröffnungskonzert der neuen Gewandhaussaison eindrucksvoll unter Beweis stellte. Bei allen physischen Beeinträchtigungen, die ein fast hundertjähriges Leben mit sich bringt – entscheidend ist die Geisteshaltung. Herbert Blomstedt hat in den letzten zehn Jahren einige seiner frischesten, lebendigsten Einspielungen vorgelegt, und auch das heutige Matineekonzert im ausverkauften Gewandhaus sprüht geradezu vor Energie. Schuberts bezaubernde Fünfte mit ihrer Mozartischen Eleganz ist bei Blomstedt in den denkbar besten Händen. Der erste Satz voller Esprit, lebendig fließend das Andante, akzentuiert ohne Grobheiten der dritte, ein quicklebendiges Finale der vierte. Ein bestens aufgelegtes Orchester erfüllt seinem Ehrendirigenten jeden Wunsch, vermutlich, ohne dessen sparsamer Gesten wirklich zu bedürfen.

Nach der Pause dann Werke des schwedischen Komponisten Franz Berwald, dessen Musik Blomstedt immer wieder aufgeführt und mehr oder weniger bekannt gemacht hat, nicht zuletzt in Leipzig. Das Tongemälde „Erinnerung an die norwegischen Alpen“ überzeugt vor allem durch seine stimmungsvolle Atmosphäre und eine klangliche Weite, die dem erhabenen Sujet angemessen ist. Blomstedts gelassenes Dirigat lädt das reizvolle, unspektakuläre Stück nicht unnötig auf, sondern lässt es seine knapp zehn Minuten lang fließen – eine gute Entscheidung. Besonderer Respekt gebührt Blomstedt dafür, dass er das selten gespielte Stück für die Konzerte dieser Woche erstmals erarbeitet hat.

Berwalds „Sinfonie Singulière“ ist ein völlig anderes musikalisches Kaliber und hätte sich einen festen Platz im Repertoire mehr als verdient. Blomstedt hat die Urtextausgabe der Sinfonie seinerzeit selbst herausgegeben und sie seither oft genug gespielt, um sie auch heute noch auswendig dirigieren zu können. Für das Orchester ist Berwalds originelle, aber mitunter sperrige Sinfonik kein Selbstläufer, was sich beispielsweise an einigen rhythmischen Unebenheiten im ersten Satz zeigt. Dafür gerät der herausragende Mittelsatz mustergültig, vor allem der tief empfundene langsame Rahmenteil. Auch der schroffe, wechselhafte Schlusssatz überzeugt durchweg. Den größten Anteil daran haben die Musiker:innen des Gewandhausorchesters, von denen hier stellvertretend die Flötistinnen genannt seien: Von den berückenden Kantilenen im langsamen Satz der Schubert-Sinfonie bis zu Berwalds fragmentarisch knappen Antwort-Floskeln meistern sie alle Herausforderungen technisch souverän und musikalisch überzeugend.

Am Ende steht der Saal und jubelt „seinem“ gerührten Dirigenten zu, der es immer noch versteht, Publikum und Orchester durch seine Musik und seine Persönlichkeit zu inspirieren. Dies gelingt vor allem deshalb, weil das Gewandhausorchester seinen Ehrendirigenten musikalisch auf Händen trägt und mittlerweile fürsorglich am Arm führt. Ohne diese herzerwärmende Unterstützung wäre alles nichts.

(Frank Sindermann)

10. September 2023, 11 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent

Foto: User „Moralist“ auf Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Ein Ende ohne Schrecken

Ehrendirigent Herbert Blomstedt zeigt sich im Gewandhaus erneut als überzeugter Anwalt Franz Berwalds und treibt Berlioz die Dämonen aus.

Herbert Blomstedt © Jens Gerber

Franz Berwalds ebenso interessante wie eigenwillige Sinfonien konnten sich hierzulande bis heute nicht im Konzertbetrieb durchsetzen, und vielleicht wird es auch niemals dazu kommen. Dass sie in Deutschland überhaupt gespielt werden, ist vor allem Herbert Blomstedt zu verdanken, der sie immer wieder mit unterschiedlichen Orchestern in aller Welt aufführt. Berwalds Dritte, die sogenannte „Sinfonie singulière“, zeichnet sich vor den übrigen Sinfonien durch besonders große Originalität und Zugänglichkeit aus, was sie zum Appetitanreger auf Berwalds sonstiges Schaffen geradezu prädestiniert.

Bereits der geheimnisvolle Beginn des ersten Satzes unterscheidet sich deutlich von allem, was Mitte des 19. Jahrhunderts sonst komponiert wurde. Blomstedt dirigiert schon die ersten aufsteigenden leeren Quarten unruhig und vorwärts drängend, mit einer inneren Anspannung, die dem ganzen Satz eine nervöse Grundstimmung verleiht. Das passt wunderbar zu dieser skurrilen Musik, die eher von kleinen Motivpartikeln als großen Linien lebt, eher von schroffen Einwürfen als kontinuierlichem Verlauf. Leider trägt das Gewandhausorchester durch gelegentliche metrische Unsicherheiten eher unfreiwillig noch weiter zum ohnehin schon hektischen Gesamteindruck bei. Diese Sinfonie gehört eben nicht zum Standardrepertoire – was zu beweisen war.

Im Mittelsatz zeigt sich das Orchester dann von seiner besten Seite. Der gesangliche Beginn der Streicher überzeugt durch Homogenität und Wärme, die schmerzlich absteigende Sequenz der Holzbläser über grummelndem Tremolo erzeugt eine geradezu unheimliche Atmosphäre. Zu den formalen Experimenten der Sinfonie zählt Berwalds Idee, das Scherzo in den langsamen Satz zu integrieren. Dieses beginnt nach einen überraschenden Paukenschlag und soll laut Berwalds Anweisung „ungewöhnlich schnell und leicht“ gespielt werden. In Anlehnung daran hätte ich mir für diesen Teil noch etwas mehr Witz und Akzentuierung gewünscht, denn was Blomstedt und seine Musiker_innen dem Satz an Leichtigkeit und Tempo geben, lässt er  an Kontur und Farbe etwas vermissen.

Der zackige, etwas martialische Schlusssatz gelingt wiederum sehr überzeugend. Seine vielen überraschenden Wendungen, so zum Beispiel eine Rückkehr des Adagios kurz vor Schluss, werden stimmig umgesetzt und der von Berwald mitten in der wilden Fahrt mit voller Absicht ungebremst gegen die Wand gefahrene Schluss beeindruckt durch seine Präzision und Unerbittlichkeit. Alles in allem eine sehr gelungene Aufführung.

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„Das war ja wildromantisch, kann man sagen!“ Diese Worte einer begeisterten Konzertbesucherin charakterisieren Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ durchaus treffend – wobei sie mir heute Abend deutlich zu romantisch und zu wenig wild dargeboten wird.

Gewiss, die ersten drei Sätze sind wunderbar musiziert: Der gut ausbalancierte Ensembleklang des bewegten ersten Satzes, die elegant glänzende Tanzseligkeit des zweiten, das betörende Duett von Oboe und Englischhorn im pastoralen dritten – all dies lässt keine Wünsche offen. Doch was ist mit den Alptraumszenen des vierten und fünften Satzes? Warum dirigiert Herbert Blomstedt diese komponierten Horrorvisionen derart heiter-beschwingt, als sei alles nur ein harmloser Faschingsschwank?

Ein vergleichender Blick ins Konzertarchiv der Berliner Philharmoniker, das mehrere Aufnahmen der Sinfonie enthält, darunter eine mit Blomstedt, enthüllt gravierende Unterschiede in der Interpretation dieser Sätze, die sich allein schon in der Mimik der Dirigenten zeigen. Blomstedt wippt und schwingt und lächelt dabei freudig, als dirigere er Mozarts „Kleine Nachtmusik“. Wie Blomstedt während des heutigen Konzerts schaut, kann ich nicht sehen, aber die Musik klingt exakt so.

Es handelt sich aber nun einmal um die grauenvolle Wahnvorstellung eines Hexensabbats und nicht um ein Lagerfeuer mit Bibi Blocksberg. Dem tiefreligiösen Blomstedt muss die Thematik zwangsläufig fremd sein und es wirkt, als ignoriere er bewusst die verstörende Dimension der Musik und betrachte sie lieber als launige Komödie mit viel Theaterdonner. Damit wird er meiner Überzeugung nach der Sinfonie aber nicht gerecht, zumindest nicht den letzten beiden Sätzen. Wenn Werner Kopfmüller in seiner Rezension (LVZ vom 15./16.9., S. 14) auf der einen Seite konstatiert, dass die in der Musik dargestellten Schreckensgestalten „einem Bild von Hieronymus Bosch entstiegen sein könnten“, auf der anderen Seite aber berichtet, dass Blomstedt beim Dirigieren der Sabbatnacht „der Schalk aus den Augen blitzt“, jene mithin so „hinreißend witzig musiziert“ sei, dass sich sogar „der ein oder andere im Orchester das Schmunzeln nicht verkneifen kann“, dann offenbart er hier den ganzen Widerspruch dieser Interpretation. Hieronymus Bosch’ Darstellungen des jüngsten Gerichts bringen mich nämlich nur höchst selten zum Schmunzeln – eigentlich überhaupt nicht.

Aber warum dann überhaupt diese Sinfonie dirigieren, wenn einem das Dämonische an ihr ethisch widerstrebt? Welche ästhetische Haltung steckt dahinter? Einen möglichen Erklärungsansatz bietet Karl Rosenkranz’ „Ästhetik des Häßlichen“ von 1853, für den das Hässliche durch Überzeichnung im Humor letztlich aufgehoben wird:

„Aber die Karikatur löst die Widrigkeit ins Lächerliche auf, indem sie alle Formen des Häßlichen, aber auch des Schönen in sich aufzunehmen vermag. Daß sie in ihrer Verzerrung schön werde, unsterblicher Heiterkeit voll, ist jedoch nur möglich durch den Humor, der sie ins Phantastische übertreibt.“

Wie in einer „Sinfonie fantastique“, zum Beispiel?

Frank Sindermann

13. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester Leipzig
Herbert Blomstedt, Dirigent