Detlev Glanert erzählt von „Marschland und großen Himmeln“; Emmanuel Tjeknavorian begeistert mit Sibelius’ Violinkonzert
Dass sich Notbesetzungen als absolute Glücksbesetzungen erweisen können, hat in der letzten Saison bereits Martin Helmchen am Klavier bewiesen. Im heutigen Großen Concert des Gewandhausorchesters übernimmt Emmanuel Tjeknavorian für die erkrankte Janine Jansen den Solopart in Sibelius’ Violinkonzert. Als Preisträger des Jean-Sibelius-Violinwettbewerbs 2015 für die beste Interpretation eben jenes Konzerts bringt Tjeknavorian die besten Voraussetzungen mit, den Abend zu retten, und es gelingt ihm bravourös.
Mit schlankem, klarem Ton geht der Wiener Geiger das Konzert an und legt durch seinen Verzicht auf Pathos und aufgesetzte Dramatik die etwas spröde Schönheit des Werkes frei. Es ist ein schlichter, verinnerlichter Zugang, der durch noble Zurückhaltung und Klangschönheit überzeugt.
Das Gewandhausorchester unter Semyon Bychkov reagiert sensibel auf den Solisten, wobei einzelne rhythmische Ungenauigkeiten im ersten und dritten Satz den Gesamteindruck trüben. Auch könnten die dynamischen Abstufungen präziser umgesetzt werden. Ein ppp quasi niente spielen die Hörner am Ende des zweiten Satzes nicht einmal ansatzweise.
Umrahmt wird das Violinkonzert von Detlev Glanerts Komposition „Weites Land“ von 2013 und Antonín Dvořaks Sinfonie Nr. 7 d-Moll op. 70. Glanert bezeichnet seine knapp zehnminütige Brahms-Hommage als „Musik mit Brahms“ und nimmt die ersten Takte aus dessen 4. Sinfonie zum Ausgangspunkt einer Reise, die ihn in die gemeinsame norddeutsche Heimat führt. Dabei kann von Weite zunächst keine Rede sein – eher beengt und bedrängt beginnt die Komposition, die erst im Laufe ihres Weges, vorbei an zahllosen Terzen, in offenes Gelände gelangt. Währenddessen hellt sich die Stimmung auf und vom bedeutungsschwangeren Beginn bleibt nur noch eine ironische Geste. Dies ist unbedingt hörenswert und es ist daher sehr erfreulich, dass Semyon Bychkov das Werk nicht nur in Leipzig, sondern auch in anderen Städten dirigert. Besonders freut mich aber, dass Glanert diese wunderbare Musik für ein ganz gewöhnliches Sinfonieorchester à la Brahms komponiert und auf selbstzweckhafte modische Klangeffekte verzichtet hat.
Antonín Dvořaks 7. Sinfonie ist nach wie vor nicht so bekannt wie die beiden nachfolgenden und wird es mangels vieler Ohrwurmmelodien auch wohl niemals sein. Sie ist von tiefem Ernst geprägt und wer sich darauf einlässt, wird getreu dem Gewandhaus-Motto „Res severa verum gaudium“ („Wahre Freude ist eine ernste Sache.“) reich belohnt. Herbert Blomstedt hat einmal gesagt, dass ihm die siebente die liebste der neun Dvořak-Sinfonien sei, und ich kann das gut nachvollziehen. Das Gewandhausorchester unter Semyon Bychkov präsentiert das dramatische Werk in sehr überzeugender Weise. Vom ungewohnt scharf gespielten düsteren Kopfsatz über den brahmsisch-elegischen zweiten und den tänzerischen dritten spannt sich ein musikalischer Bogen bis zum dramatisch bewegten Finalsatz, wobei der Ausdrucksgehalt jedes Satzes intensiv, aber immer subtil ausmusiziert wird. Semyon Bychkov, seit dieser Saison Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, leitet das Orchester mit der Souveränität seiner langjährigen Erfahrung und einer stets wachen Aufmerksamkeit für den Moment. Großer Jubel.
Frank Sindermann
Vor dem Konzert haben Orchestervorstand Matthias Schreiber und Gewandhausdirektor Andreas Schulz ein Plädoyer für Dialogbereitschaft und gegenseitigen Respekt verlesen, das implizit auf die jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz Bezug nimmt:
6. September 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester Leipzig
Semyon Bychkov, Dirigent
Emmanuel Tjeknavorian, Violine