Fragen über Fragen

Mit einem ebenso abwechlungsreichen wie anspruchsvollen Programm gibt der israelische Dirigent Lahav Shani sein erfolgreiches Gewandhaus-Debut.

Lahav Shani | Foto: Marco Borggreve

Leise, ganz leise setzen die Streicher des Gewandhausorchesters an und bereiten damit jener Frage der Trompete den Grund, die sich auch durch die zunehmend aggressiven Einwände der Holzbläser nicht zum Schweigen bringen lässt. Schon nach wenigen Minuten ist Charles Ives‘ „The Unanswered Question“ vorüber – die Frage bleibt unbeantwortet, die ätherische Klangfläche der Streicher verklingt im unhörbaren Nirgendwo. Das lässt sich nicht besser spielen und man fragt sich, warum dieses wunderbare Orchester dieses ebenso wunderbare Stück ganze achtzehn Jahre lang nicht gespielt hat.

Mahlers Rückert-Lieder werfen ebenfalls Fragen auf, jedoch keine angenehmen: Wie kann es sein, dass ein so berühmter und weltweit gefragter Bariton wie Matthias Goerne eine derart enttäuschende Mahler-Interpretation abliefert? Dass er die Spitzentöne kaum einmal souverän aussingt, sich immer wieder vom – durchaus nicht zu laut spielenden – Orchester übertönen lässt, die Textverständlichkeit übermäßigem Vibratoeinsatz opfert und manche musikalische Phrase durch sinnwidrige Zwischenatmungen zerreißt? Vielleicht ein schlechter Tag? Gewiss, Matthias Goernes dunkel timbrierter, samtiger Bariton klingt immer noch fast so schön wie zu seinen Glanzzeiten und seine gestalterischen Fähigkeiten sind ebenso unbestritten wie sein inneres Engagement; an den stimmlichen Problemen ändert dies jedoch leider nichts. Da kann der Dirigent noch so subtile Farben aus dem Orchester zaubern und Gundel Jannemann-Fischer noch so betörend ihr Englischhorn-Solo spielen: Diese Aufführung ist keine Sternstunde des Liedgesangs.

Hat Lahav Shani, der in diesem Konzert sein Gewandhaus-Debut gibt, sich bisher dezent im Hintergrund gehalten, so geht er bei den „Manhattan Broadcasts“ des aktuellen Gewandhauskomponisten HK Gruber deutlich mehr aus sich heraus und bringt das ehrwürdige Gewandhausorchester gehörig zum Swingen. Gruber schrieb die beiden kurzen, jazzigen Stücke im Alter von siebzehn Jahren, was vielleicht ihren jugendlichen Übermut erklärt. Gleichzeitig ist diese Unterhaltungsmusik überaus originell und kompositorisch sowie spieltechnisch anspruchsvoll. Immer wieder biegt Gruber überraschend auf Seitenwege ab, statt auf allzu ausgetretenen Pfaden zu wandeln. Das Orchester macht bei dieser eher untypischen Musik eine sehr gute Figur und lässt mehr als nur einen Funken überspringen. Am Ende nimmt der anwesende Komponist den begeisterten Applaus des Publikums entgegen – für Musik, die er vor über fünfzig Jahren geschrieben hat!

Mit Kurt Weills zweiter Sinfonie vollbringt Lahav Shani schließlich eine wahre Meisterleistung. Mit vollem Körpereinsatz und unbändiger Energie beweist der erst dreißigjährige Dirigent hier und heute, warum diese zugängliche, aber sich niemals dem Mainstream anbiedernde Sinfonie viel öfter gespielt werden müsste. Obwohl er ohne Partitur dirigiert(!), achtet Shani auf jedes noch so kleine Detail und fügt die wunderbaren Solo-Beiträge von Flöte bis Trompete zu einem faszinierenden Gesamtbild. Manchmal gerät ihm, vor allem im dritten Satz, im Eifer des Gefechts das Klangbild etwas verwaschen und intransparent, doch das verzeiht man angesichts dieser kraftvollen, emphatischen Interpretation gern. Und so stellt sich mir am Ende nur noch eine letzte Frage: Wird Lahav Shani wohl wieder eingeladen? Ich würde es mir wünschen!

(Frank Sindermann)

21. November 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Lahav Shani, Dirigent
Matthias Goerne, Bariton

Ohren zu und durch?

Das Leipziger Konzertpublikum hat offenbar ein Problem mit Neuer Musik, auch wenn diese schon über 100 Jahre alt ist; Schumanns Violinkonzert und Brahms’ Vierte haben es da deutlich leichter.

Carolin Widmann © Lennard Rühle

Vielleicht ist die Reihe „Zauber der Musik“ einfach der falsche Rahmen für diese großartige Musik. Anders kann ich mir jedenfalls kaum erklären, mit welcher Ablehnung das Publikum im heutigen MDR-Konzert auf Charles Ives’ „Three Places in New England“ reagiert. Vor mir hält sich ein Herr demonstrativ die Ohren zu, andernorts verlässt jemand fluchtartig den Saal. Dabei ist dieses Schlüsselwerk der amerikanischen Musikgeschichte doch mittlerweile auch schon über 100 Jahre alt! Sicherlich, diese Musik ist nicht ganz einfach zu hören, klingt stellenweise laut bis grell und tritt manche Konvention mit Füßen; gleichzeitig ist sie aber so zart und subtil, so reich an Farben und Motiven, dass man ins Schwärmen geraten könnte – gesetzt den Fall, dass man sich auf diese Art Musik überhaupt einlassen WILL.

Das MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Markus Poschner bietet jedenfalls keinerlei Anlass zum Davonlaufen – ganz im Gegenteil. Schon der erste der drei Sätze schlägt mich unmittelbar in seinen Bann. Der sphärische Streicherklang der Eröffnungstakte, die nebelhaft verhangene Grundstimmung der Musik, vor allem aber die wunderbar zurückhaltend geblasenen Soli von Horn, Flöte, Oboe und Klarinette üben eine geradezu magische Wirkung aus. Leider verliert sich Dirigent Markus Poschner bisweilen allzu sehr im Klanglichen und verwischt das durchaus vorhandene Grundmetrum zum atmosphärischen Ungefähr. Das zweite Stück gestaltet Poschner als wahres Klanginferno. Dabei behält er stets die Übersicht über das komplexe Geschehen, wenn sich auch die unterschiedlichen musikalischen Ebenen mitunter noch ein wenig mehr gegeneinander verschieben als von Ives vorgesehen. Das Orchester spielt kraftvoll und mit dem hier nötigen Mut zum Hässlichen und zeigt damit – besonders im direkten Vergleich zum ersten Satz – seine stilistische Wandlungsfähigkeit. Der letzte Satz knüpft stimmungsmäßig wieder an den ersten an. Hier gefällt mir vor allem die gleichmäßig aufgebaute Steigerung und Intensivierung des Geschehens. Als die Musik auf ihrem Höhepunkt abrupt abreißt und nach wenigen leisen Takten einfach aufhört, bleibe ich tief bewegt zurück.

Gemäß der heutzutage in Stein gemeißelten Programmfolge „kurzes Stück – Solokonzert – Pause – Sinfonie“ folgt nun das Solokonzert. Carolin Widmann, Geigenprofessorin an der Leipziger Musikhochschule, spielt Robert Schumanns Violinkonzert und beweist eindrucksvoll, dass dieses nach wie vor stiefmütterlich behandelte Werk sein Schattendasein im Konzertbetrieb nicht im Geringsten verdient hat. Dabei betont sie schon im dramatisch bewegten Kopfsatz eher den poetischen Gehalt des Konzerts. Warum sie bereits die Orchesterexposition mitspielt, erschließt sich mir allerdings nicht, läuft sie damit doch sozusagen auf dem Teppich mit, der ihr gerade ausgerollt wird. Herzstück des Konzerts ist für mich der lyrische Mittelsatz, den Widmann sehr gefühlvoll und klanglich differenziert spielt. Das Finale verweigert sich den genretypischen großen Gesten und wird zum Glück auch von Solistin und Dirigent nicht künstlich aufgebauscht. Auch beim von Schumann vorgesehenen gemäßigtem Tempo ist der Satz alles andere als leicht zu spielen, was sich an der einen oder anderen technischen Ungenauigkeit zeigt. Wichtiger ist aber der musikalische Ausdruck und hier gelingt Carolin Widmann eine stimmige Interpretation. Das Orchester erweist sich als verlässlicher Partner, ohne aber starke eigene Akzente zu setzen. Dass Widmann als Zugabe ein Stück des wohl meistunterschätzten Komponisten der Musikgeschichte wählt – Georg Philipp Telemann -, freut mich ganz besonders. Widmann zeigt anhand des Dolce aus der Fantasie TWV 40:20, dass Telemanns Musik viel öfter gespielt werden sollte.

Die nach der Pause gespielte Brahms-Sinfonie überzeugt mich heute am wenigsten. Da ist zunächst das Spiel des Orchesters, das insgesamt deutlich unkonzentrierter und fehleranfälliger als im ersten Teil des Konzerts wirkt. Schwerer wiegt jedoch das Fehlen eines stimmigen Kozepts seitens des Dirigenten, der schon im ersten Satz nicht weiß, ob er ihn elegisch und getragen (Anfang) oder dramatisch (Durchführung, Schluss) angehen soll. Steigerungen werden nur halbherzig aufgebaut, die klangliche Balance gerät oft zu Lasten der Streicher aus dem Gleichgewicht. Und es wird nicht wirklich besser: Der zweite Satz beginnt viel zu statisch, kommt zunächst nicht richtig in Fluss. Der Mittelteil mit seinem wundervollen Querflöten-Solo entschädigt dafür leider nur bedingt. Der dritte Satz klingt eher martialisch als glanzvoll, selbst das Triangel-Geklingel wirkt blechern und stumpf. Im Finale schließlich dirigiert Poschner vor allem die Passacaglia-Abschnitte durch und ignoriert dafür weitgehend den übergreifenden Spannungsbogen. So bildet die Sinfonie den eher enttäuschenden Abschluss für ein verheißungsvoll beginnendes Konzert.

Frank Sindermann

11. Mai 2019
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Markus Poschner, Dirigent
Carolin Widmann, Violine