Anspruchsvoller Auftakt

Das Gewandhausorchester eröffnet seine 241. Saison mit Werken von Gubaidulina und Rachmaninoff.

Sofia Gubaidulina, 1981 (Detail) | © Dmitri N. Smirnov (Lizenz: CC BY 2.5)

Mit fast 90 Jahren ist Sofia Gubaidulina noch immer eine Visionärin, die mit musikalischen Mitteln den letzten Dingen nachspürt. In ihrem Tripelkonzert für Violine, Violoncello, Bajan und Orchester, uraufgeführt 2017 in Boston, nimmt sie die Dreierbesetzung zum Anlass, „Drei-heiten“ auf unterschiedlichsten musikalischen Ebenen zu untersuchen; vom fundamentalen harmonischen Prinzip des Dreiklangs bis zur dreiteiligen Form des Konzerts reichen die Bezüge zur Zahl drei, welche am Ende auf die göttliche Trinität verweisen. Somit ist dieses Werk wie viele andere der Komponistin Ausdruck tiefer Religiosität, wenn auch weniger offensichtlich als das „Offertorium“ oder die „Sieben Worte“.

Entgegen der gewählten Gattungsbezeichnung nimmt Gubaidulina das konzertante Element im Tripelkonzert sehr zurück. Kaum einmal spielen die Solist:innen zusammen, über weite Strecken agieren sie eher nach- als miteinander. Gleichzeitig bietet das Werk nur wenig Raum für virtuose Selbstdarstellung. Dass die Solopartien dennoch alles andere als nebensächlich wirken, liegt vor allem an den hervorragenden Solist:innen. Anders als Martynas Levickis, der heute aus unerfindlichen Gründen Akkordeon statt Bajan spielt, waren Baiba Skride (Violine) und Harriet Krijgh (Violoncello) bereits an der Uraufführung beteiligt, und man merkt ihnen an, dass ihnen das Konzert ebenso viel bedeutet wie dem Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, der es mit ihnen gemeinsam aus der Taufe gehoben hat.

Als Eröffnungsstück stellt das Werk nicht nur für die Musiker:innen eine Herausforderung dar: Der tiefe Ernst der Komposition, die Strenge, mit der die eher abstrakten Prämissen durchexerziert werden, und das Fehlen leicht fasslicher melodischer Gestalten erfordern vom Publikum große Konzentration. Dieses bedankt sich am Ende mit freundlichem Applaus, der zwar keine Begeisterung ausdrückt, wohl aber Respekt vor einer Komponistin, die auch im hohen Alter unbeirrt sagt, was sie sagen muss. Ihr zuzuhören, lohnt jede Mühe.

Rachmaninoffs 2. Sinfonie schließt sich nach der Pause überraschend gut an, obwohl sie mehr als ein Jahrhundert vor Gubaidulinas Tripelkonzert entstanden ist. Wie nur wenige weitere Werke des Komponisten belegt diese Sinfonie den hohen satztechnischen Anspruch einer Musik, die allzu oft auf schöne, um nicht zu sagen: kitschige Melodien reduziert wurde und immer noch wird. Leider wird Andris Nelsons der hohen Komplexität der Sinfonie heute nicht vollauf gerecht. Während der Kopfsatz unter rhythmischen Unstimmigkeiten und einer suboptimalen Klangbalance leidet, gewinnt die Aufführung dann zwar von Satz zu Satz deutlich an Qualität; insgesamt vermisse ich aber immer wieder den langen Atem, der die wunderbaren Einzelbeiträge des Orchesters zum großen Ganzen verwöbe. Nichts wirkt hier logisch zwingend, die Steigerungswellen entfalten kaum Sogwirkung, das Timing ist oft nicht auf den Punkt. Mitunter gerät der musikalische Zusammenhalt sogar fast ins Wanken, wie etwa kurz nach der langen Generalpause im Adagio. Dass die Aufführung trotzdem hörenswert ist, liegt vor allem an der großen Spielfreude aller Beteiligten, an den hervorragenden Soli – nicht nur der Klarinette! – und natürlich dem unnachahmlichen Klang des Gewandhausorchesters, der zu Rachmaninoff perfekt passt und anscheinend kaum unter der Corona-Zwangspause gelitten hat. Nelsons weiß dies und kostet es in vollen Zügen aus; dass diese Musik aber weit mehr ist als eine Aneinanderreihung schwelgerischer Klänge, wird heute leider nur selten hörbar.

Der begeisterte Applaus am Ende des Konzerts ist sicherlich nicht nur dem effektvollen Schluss der Sinfonie geschuldet, sondern auch Ausdruck der Freude darüber, dass Veranstaltungen wie diese nun endlich wieder möglich sind. Hoffen wir, dass dies möglichst lange so bleibt.

Frank Sindermann

17. September 2021
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Baiba Skride, Violine
Harriet Krijgh, Violoncello
Martynas Levickis, Akkordeon

 

 

Unter Freunden

Die Schwestern Baiba und Lauma Skride spielen mit Harriet Krijgh Musik von Lili Boulanger und Clara Schumann. Als Gast schaut Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons vorbei.

Clara Wieck 1840 | Gemälde von Johann Heinrich Schramm

Clara Schumanns 200. Geburtstag scheint dem Gewandhaus sehr am Herzen zu liegen. Dies sieht man nicht nur an der Vielzahl ihrer Kompositionen, die dieser Tage in vielen Konzerten erklingen, sondern auch daran, dass Gewandhaus-Kapellmeister Andris Nelsons es sich in der heutigen Sonder-Kammermusik nicht nehmen lässt, den Solistinnen des Abends einen Kurzbesuch abzustatten. Ursprünglich wollte Nelsons, der nicht nur Dirigent, sondern auch studierter Trompeter ist, Paul Hindemiths Sonate für Trompete und Klavier vortragen. Stattdessen – vielleicht fehlte die Probezeit? – bläst er zwei Lieder Clara Schumanns als Lieder ohne Worte auf der Trompete sowie ein thematisch passendes Stück der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina. Leider fügt sich der Klang der Trompete trotz sensiblen Spiels nicht besonders gut zu den nachdenklichen, stillen Liedern Clara Schumanns. Auch Andris Nelsons scheint sich nicht so recht wohl in seiner Haut zu fühlen und wirkt ein wenig unsicher. Trotzdem ist es eine schöne Geste, sich am Jubiläumskonzert zu beteiligen, die vom Publikum auch freundlich honoriert wird.

Gerahmt wird Nelsons’ Auftritt durch zwei wunderbare Stücke der jung verstorbenen Lili Boulanger, die wie zwei Seiten einer Medaille komponiert sind: Zwar unterscheiden sich „D’un soir triste“ und „D’un matin de printemps“ ausdrucksmäßig sehr stark, beruhen musikalisch aber auf dem gleichen Gedanken. Dies wird durch das Auseinanderreißen der Stücke leider etwas kaschiert – ich hätte sie jedenfalls lieber direkt hintereinander gehört, was auch den zweimaligen Bühenumbau vermieden hätte. Die Skride-Schwestern an Violine und Klavier sowie die Cellistin Harriet Krijgh sind hervorragend aufeinander eingespielt und arbeiten den unterschiedlichen Stimmungsgehalt der beiden Stücke zwischen stiller Traurigkeit und frühlingshaftem Optimismus überzeugend heraus.

Im zweiten Teil des Konzerts wird zunächst wieder in Zweierbesetzung musiziert. Baiba Skride spielt Clara Schumanns drei Romanzen op. 22 mit viel Herzblut, wobei ihr besonders die „brahmsische“ zweite sehr gut gelingt. Ihre Schwester Lauma begleitet umsichtig, fast zurückhaltend, setzt aber auch eigene Akzente. Das Zusammenspiel mit Harriet Krijgh in Robert Schumanns effektvollen „Adagio und Allegro“ op. 70 gerät nicht immer ganz präzise, auch ist die Intonation der niederländischen Cellistin nicht immer perfekt. Es entsteht ein wenig der Eindruck gekonnten Vom-Blatt-Spiels mit den dabei unvermeidlichen kleinen Unschärfen, die jedoch durch den frischen Eindruck spontanen Musizierens – wie damals im Haus der Schumanns! – mehr als ausgeglichen wird.

Claras Klaviertrio op. 17, sicherlich ihr ambitioniertester Beitrag zur Kammermusik, bildet schließlich den gelungenen Abschluss eines (fast) reinen Frauen-Konzerts, das einigen selten gespielten Werken zu neuer Aufmerksamkeit verholfen und gleichzeitig die freundschaftliche Atmosphäre eines musikalischen Salons im 19. Jahrhundert vermittelt hat.

Frank Sindermann

10. September 2019
Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Baiba Skride, Violine
Harriet Krijgh, Violoncello
Lauma Skride, Klavier
Andris Nelsons, Trompete