Ehrendirigent Herbert Blomstedt (96) dirigert zur Saisoneröffnung im Gewandhaus Sinfonien von Schubert und Berwald.
Es vermag mir nicht recht einzuleuchten, warum alte Menschen besser geeignet wären, die Sinfonie eines Neunzehnjährigen aufzuführen, wie dies ein Leipziger Musikkritiker jüngst behauptete; schaden kann ein hohes Alter andererseits auch nicht, wie der 96-jährige Herbert Blomstedt im Eröffnungskonzert der neuen Gewandhaussaison eindrucksvoll unter Beweis stellte. Bei allen physischen Beeinträchtigungen, die ein fast hundertjähriges Leben mit sich bringt – entscheidend ist die Geisteshaltung. Herbert Blomstedt hat in den letzten zehn Jahren einige seiner frischesten, lebendigsten Einspielungen vorgelegt, und auch das heutige Matineekonzert im ausverkauften Gewandhaus sprüht geradezu vor Energie. Schuberts bezaubernde Fünfte mit ihrer Mozartischen Eleganz ist bei Blomstedt in den denkbar besten Händen. Der erste Satz voller Esprit, lebendig fließend das Andante, akzentuiert ohne Grobheiten der dritte, ein quicklebendiges Finale der vierte. Ein bestens aufgelegtes Orchester erfüllt seinem Ehrendirigenten jeden Wunsch, vermutlich, ohne dessen sparsamer Gesten wirklich zu bedürfen.
Nach der Pause dann Werke des schwedischen Komponisten Franz Berwald, dessen Musik Blomstedt immer wieder aufgeführt und mehr oder weniger bekannt gemacht hat, nicht zuletzt in Leipzig. Das Tongemälde „Erinnerung an die norwegischen Alpen“ überzeugt vor allem durch seine stimmungsvolle Atmosphäre und eine klangliche Weite, die dem erhabenen Sujet angemessen ist. Blomstedts gelassenes Dirigat lädt das reizvolle, unspektakuläre Stück nicht unnötig auf, sondern lässt es seine knapp zehn Minuten lang fließen – eine gute Entscheidung. Besonderer Respekt gebührt Blomstedt dafür, dass er das selten gespielte Stück für die Konzerte dieser Woche erstmals erarbeitet hat.
Berwalds „Sinfonie Singulière“ ist ein völlig anderes musikalisches Kaliber und hätte sich einen festen Platz im Repertoire mehr als verdient. Blomstedt hat die Urtextausgabe der Sinfonie seinerzeit selbst herausgegeben und sie seither oft genug gespielt, um sie auch heute noch auswendig dirigieren zu können. Für das Orchester ist Berwalds originelle, aber mitunter sperrige Sinfonik kein Selbstläufer, was sich beispielsweise an einigen rhythmischen Unebenheiten im ersten Satz zeigt. Dafür gerät der herausragende Mittelsatz mustergültig, vor allem der tief empfundene langsame Rahmenteil. Auch der schroffe, wechselhafte Schlusssatz überzeugt durchweg. Den größten Anteil daran haben die Musiker:innen des Gewandhausorchesters, von denen hier stellvertretend die Flötistinnen genannt seien: Von den berückenden Kantilenen im langsamen Satz der Schubert-Sinfonie bis zu Berwalds fragmentarisch knappen Antwort-Floskeln meistern sie alle Herausforderungen technisch souverän und musikalisch überzeugend.
Am Ende steht der Saal und jubelt „seinem“ gerührten Dirigenten zu, der es immer noch versteht, Publikum und Orchester durch seine Musik und seine Persönlichkeit zu inspirieren. Dies gelingt vor allem deshalb, weil das Gewandhausorchester seinen Ehrendirigenten musikalisch auf Händen trägt und mittlerweile fürsorglich am Arm führt. Ohne diese herzerwärmende Unterstützung wäre alles nichts.
(Frank Sindermann)
10. September 2023, 11 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal
Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Dirigent
Foto: User „Moralist“ auf Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)