Herbstliches Leuchten

Das Gewandhausorchester unter Vasily Petrenko weckt Tschaikowskis Streicherserenade aus dem viel zu langen Dornröschenschlaf und spielt Prokofjews wundervolle letzte Sinfonie.

Herbstlicher Wald © pixabay

Warum Tschaikowskis wunderbare Streicherserenade seit über 25 Jahren nicht mehr auf dem Programm des Gewandhausorchesters stand, ist kaum zu erklären. Die heutige Aufführung unter dem ersatzweise eingesprungenen Vasily Petrenko zeigt jedenfalls, dass es höchste Zeit war, sie aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken.

Petrenkos Lesart der Serenade gefällt mir ausgesprochen gut. Deren emotionale Vielschichtigkeit, ihr ständiges Changieren zwischen Walzerseligkeit und Gefühlsausbruch, zwischen fröhlichem Überschwang und tiefer Melancholie, arbeitet er deutlich – aber niemals überdeutlich – heraus und hält die Musik dabei stets im Fluss. Die Gewandhaus-Streicher verschmelzen nach anfänglicher Findungsphase zu einem gemeinsamen Körper, dessen Glieder wie selbstverständlich miteinander harmonieren und aufeinander reagieren. Besonders beeindruckend das unbeschreiblich zarte Ansetzen des dritten Satzes und wie dieser zum Schluss in himmlischem Flageolett verklingt.

Nach der Pause füllt sich das Podium merklich. Auf dem Programm steht Anatoli Ljadows reich orchestrierte sinfonische Dichtung „Kikimora“, die das zugrunde liegende Märchen ansprechend und effektsicher in Musik verwandelt. Das Orchester besticht durch Präzision und Spielfreude und hat nach dem kuriosen Piccolo-Schluss so manchen Lacher des Publikums auf seiner Seite.

Und dann folgt eines jener Ereignisse, die man so schnell nicht mehr vergisst. Prokofjews siebente und letzte Sinfonie ist in ihrer stimmungsmäßigen Ambivalenz Tschaikowskis Streicherserenade gar nicht mal so unähnlich, wenngleich die musikalischen Mittel natürlich andere sind. Die heutige Aufführung der Sinfonie stellt alle Aufnahmen, mit denen ich mich im Vorfeld des Konzerts beschäftigt habe, mühelos in den Schatten. Manche Version auf Tonträger disqualifiziert sich allein schon durch die Einspielung des vom Komponisten selbst verworfenen alternativen Krawall-Endes, manche wiederum langweilen durch ihre Harmlosigkeit oder sind einfach nicht besonders gut gespielt. Heute Abend hingegen passt einfach alles: Vom überraschend lauten, aber durchaus partiturkonformen, Eröffnungs-Cis in Harfe und Klavier bis zum letzten Pizzicato-Cis der Streicher ereignen sich Wunder über Wunder; genannt seien hier stellvertretend die gefühlvollen Bläsersoli, die präzisen Akzente des Schlagwerks, die brillanten Harfenglissandi, der punktgenaue Schluss des Allegrettos und die „nachdenklichen“ (pensieroso) Trompetenrufe im letzten Satz. Vor allem aber: Welch eine tiefe Ruhe und Abgeklärtheit strahlt Petrenkos Interpretation aus! Ohne die durchaus vorhandenen Ecken und Kanten der als eher harmlos geltenden Sinfonie zu glätten, zeigt er vor allem ihre zeitlose Schönheit und lässt sie herbstlich leuchten. Am Schluss ist das Publikum sichtlich bewegt.

Frank Sindermann

21. Februar 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Vasily Petrenko, Dirigent

Augenmusik

Andris Dzenītis’ „Māra für Orchester“ erschließt sich zumindest nicht auf Anhieb, Kristine Opolais begeistert mit Auszügen aus Tschaikowski-Opern und Andris Nelsons gibt einen titanischen Mahler.

Kristine Opolais, Andris Nelsons, Gewandhausorchester © Frank Sindermann

Das heutige Konzert des Gewandhausorchesters beginnt mit einer Uraufführung. Das etwa zwanzigminütige „Māra für Orchester“ des lettischen Komponisten Andris Dzenītis ist dessen Landsmann Andris Nelsons gewidmet und verdankt seine Entstehung einem Auftrag des Gewandhausorchesters und des Boston Symphony Orchestra. Laut Selbstauskunft des Komponisten wurde dieser durch „uralte Traditionen lettischer Folklore“ inspiriert, die indes kaum hörbar werden, sondern vor allem verschlüsselt den Noten eingeschrieben sind. Schon Johann Sebastian Bach verwendete oft Kreuzvorzeichen, wenn in einem vertonten Text von der Kreuzigung Jesu die Rede war; im Unterschied zum heute uraufgeführten Werk kann man mit der Musik jedoch auch etwas anfangen, ohne diesen Bezug zu kennen. Schon in der Renaissance wurden Effekte, die allein den Notenkundigen ins Auge fallen, wie beispielsweise schwarze Notenköpfe als Sinnbild der Nacht, als Manierismus kritisiert, und „Māra“ bietet diesen Manierismus in Reinkultur.

Denn was bleibt, wenn man die verbale und grafische Bedeutungsebene verlässt und sich allein auf das Klangerlebnis einlässt? Nicht viel. Einzelne Klangereignisse, oftmals zu Lasten der Streicher schlecht abgemischt, Leerlauf-Ostinati, die üblichen Klang-Eskalationen mit Blech und Gong, oftmals einfach ein sämiger, undifferenzierter Klangbrei. Dies alles ergibt für mich weder strukturell noch klangästhetisch viel Sinn. Wenn Dzenītis sagt, man erkenne seine Musik an „direkter Narration“, dann frage ich mich umso mehr, was er mir heute Abend eigentlich erzählen will. Alles in allem denke ich eher nicht, dass ein Werk wie „Māra“ einer Aufführung durch das Gewandhausorchester wirklich würdig ist. Die Musiker_innen des Orchesters scheinen das ähnlich zu sehen; Begeisterung sieht jedenfalls anders aus.

Als nächstes folgen Szenen aus Tschaikowski-Opern, die weder zu „Māra“ noch zur nachfolgenden Mahler-Sinfonie passen und ohnehin besser auf der Opernbühne aufgehoben sind. Die seltsame Konzeption des Konzerts einmal beiseite gelassen, überzeugt Weltstar Kristine Opolais mit emotionaler Einfühlung in die Rollen der Lisa und der Tatjana, wobei sie erstere vielleicht etwas überdramatisch angeht. Vor allem in Tatjanas Briefszene aus „Eugen Onegin“ trifft sie sehr genau deren Unsicherheit und Stimmungsschwankungen und lässt die Situation durch Mimik und Gestik so plastisch werden, wie dies im Rahmen einer konzertanten Aufführung nur möglich ist. Andris Nelsons und das Gewandhausorchester begleiten dezent und auf den Punkt, Oboe und Horn steuern wunderschöne Soli bei. Zwischen die Gesangsszenen hat man noch die brillant musizierte Polonaise aus „Eugen Onegin“ gesetzt und für kurze Zeit wähnt man sich im Wunschkonzert der Klassik.

Nach der Pause erklingt dann Mahlers 1. Sinfonie. Die Aufführung überzeugt von Anfang bis Ende und lässt die etwas unfokussierte Fünfte von Ende September vergessen. Wie Nelsons im ersten Satz das Entstehen der Musik aus dem Naturlaut zelebriert, den tänzerischen zweiten musikantisch feiert, im dritten den grotesken Trauermarsch über „Bruder Jakob“ klanglich abdämpft und es im Finale heroisch krachen lässt, ohne dabei die strukturelle Klarheit des Satzverlaufs zu vernachlässigen, ist durchweg bewundernswert. Immer spürt man, dass Nelsons einen bestimmten Zweck verfolgt, auf eine bestimmte Wirkung aus ist. Dass er stets bekommt, was er möchte, verdankt er (und verdanken wir) dem Gewandhausorchester, das sich heute Abend von seiner besten Seite zeigt. Herausforderungen und Fallstricke bietet Mahlers Partitur zuhauf – wie man sie scheinbar mühelos bewältigt, ist heute Abend zu erleben.

Schon die ersten Minuten wissen mit zartem Geigen-Flageolett und akzentuierten Klarinetten-, Horn- und Trompeten-Motiven zu überzeugen, und wenn dann die Celli mit warmem Klang das Hauptthema intonieren, möchte man dem Moment zurufen: „Verweile doch, du bist so schön!“ Aber dann würde man so viel Wunderbares verpassen in der kommenden Dreiviertelstunde – und wer möchte das schon?

Frank Sindermann

4. Oktober 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent