Musikalische Wunderlampe

Das MDR-Sinfonieorchester spielt im Gewandhaus orientalische Fantasien, darunter zwei Raritäten.

Kerem Hasan | © Tristan Fewings

Mehr Zauber geht nicht. Rimski-Korsakows Dauerbrenner „Sheherazade“, Borodins „Steppenskizze“, dazu zwei passend ausgewählte Neuentdeckungen: Das Programm des Konzerts „1001 Nacht“ passt ideal in die MDR-Reihe „Zauber der Musik“ und verspricht einen ebenso abwechslungsreichen wie inspirierenden Abend. Mit Engelbert Humperdincks „Ritt in die Wüste“ und Karol Szymanowskis Orchesterliedern nach Gedichten des Hafis erklingen zwei Werke, die völlig zu Unrecht ein Schattendasein im gegenwärtigen Konzertleben fristen – schon allein für diese lohnt sich der Besuch des Konzerts.

Den Anfang macht aber ein altbewährter Klassiker, Alexander Borodins schlichte, aber wirkungsvolle „Steppenskizze aus Mittelasien“. Hinter diesem etwas sperrigen Titel verbirgt sich eine stimmungsvolle Miniatur, die vor allem von der Schönheit der zwei kontrastierenden Themen lebt. Der britische Dirigent Kerem Hasan wählt ein mittleres Tempo und und hält die Musik stets im Fluss. Die Steigerung bis zum Höhepunkt, wenn die beiden Themen gleichzeitig erklingen, gestaltet er ebenso überzeugend wie das abschließende Verlöschen im Nirgendwo. Das MDR-Sinfonieorchester spielt klangschön (Soli!), aber noch etwas unsortiert, was die Intonation (hohe Violinen) und die Präzision gemeinsamer Akkorde (Holzbläser) angeht. Es wirkt, als seien noch nicht alle Beteiligten von Anfang an zu 100 Prozent bei der Sache.

Dies kann sich bei Szymanowskis Liebesliedern niemand mehr erlauben – nicht das Orchester, nicht der Dirigent und schon gar nicht der Solist. Bei letzterem handelt es sich heute Abend um den wunderbaren Mauro Peter, dessen warmer, edler Tenor ideal zum (gerade noch) spätromantischen Stil dieser acht schwelgerischen Lieder passt. Mit intelligenter Phrasierung, perfekter Artikulation und stimmlicher Durchsetzungskraft beweist Peter einmal mehr, dass er nicht nur im klassischen Repertoire zuhause ist. In manchen Liedern hätte ich mir noch ein wenig mehr interpretatorische Tiefe gewünscht. So spiegelt sich die große emotionale Bandbreite der acht Gedichte nicht durchweg in Peters Gesang wider. Immer schön und kultiviert, aber zu ähnlich geht Peter die einzelnen Lieder an. Kerem Hasan dirigiert die farbenreiche Partitur mit Gespür für feine Details und reagiert sehr umsichtig auf den Solisten, sodass dieser zum Glück nur selten vom luxuriös besetzten Orchester übertönt wird.

Nach der Pause folgt mit Engelbert Humperdincks „Ritt durch die Wüste“ die zweite Entdeckung des Abends. Das effektvolle, dramatisch bewegte Stück ist klar von Wagner inspiriert, geht aber doch eigene Wege. Die rundum gelungene Aufführung zeigt, dass man dem Komponisten beliebter Märchenopern Unrecht tut, wenn man ihn nur auf diese reduziert. Tipp: Auch die übrigen Sätze der „Maurischen Rhapsodie“ lohnen sich!

Den Abschluss bildet Nikolai Rimski-Korsakows sinfonische Suite „Scheherazade“, ein Meisterwerk der musikalischen Charakterisierung und Instrumentation und für viele sicherlich der Höhepunkt des Abends. Den Part der Solovioline übernimmt Orin Laursen, der heute als Gast die Position des Konzertmeisters innehat. Der erste Satz beginnt vielversprechend: dräuende Blechbläserakkorde, Laursens filigranes erstes Solo… doch dann macht sich matte Müdigkeit breit. Ich höre ein Orchester, das eine Musik, die es im Schlaf spielen könnte, so spielt, als schliefe es tatsächlich. Derart unterspannt habe ich diesen Satz selten gehört. Dies liegt nicht zuletzt am Dirigenten, der mehr Einsatz fordern müsste und auch sonst eher unauffällig bleibt. Zum Glück bessern sich die Dinge im weiteren Verlauf deutlich. Hervorzuheben sind vor allem der gefühlvoll musizierte dritte Satz und das Finale, welches schon allein aufgrund seiner enormen Schwierigkeit die letzten Feierabendträume der Musiker:innen verscheucht. Warum nicht gleich so? Ein wahres Fest sind die zahlreichen Soli von Flöte, Klarinette, Fagott, Horn, Harfe – und natürlich Orin Laursen, der das verkappte Violinkonzert virtuos und mit edlem, schlankem Ton spielt. Dieser Scheherazade hört man gern zu – vielleicht sogar 1001 Nacht lang.

Eine Aufzeichnung des Konzerts ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.mdr.de/klassik/hoeren-sehen/leipzig-gewandhaus-kerem-hasan-dirigiert-100.html

Frank Sindermann

Sonntag, 14. April 2024
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Orin Laursen, Konzertmeister
Mauro Peter, Tenor
Kerem Hasan, Dirigent

Mehr als Meer

Im „Zauber der Musik“ spielen Sinfonieorchester und Chor des MDR Musik von Ethel Smyth und Ralph Vaughan Williams.

Foto: pixabay

Der heutige „Zauber der Musik“ beginnt mit einem selten gespielten Werk – zu selten gespielt, könnte man sagen, denn die Ouvertüre zu Ethel Smyth‘ Oper „The Wreckers“ ist ebenso interessant wie effektvoll und findet nach dem Applaus zu urteilen beim Publikum großen Anklang. Zugleich dienen die technischen Schwierigkeiten des Werks den Musiker:innen des MDR-Sinfonieorchesters als ideale Vorbereitung auf das große, überaus anspruchsvolle Werk des Abends: Ralph Vaughan Williams‘ „Sea Symphony“, die das Meer im Namen trägt, in der es aber um weitaus mehr als das Meer geht.

Das Meer wird nämlich nicht im Sinne eines Naturbildes tonmalerisch nachgeahmt, sondern dienst als Metapher für die individuelle Lebensreise und die Reise der Menschheit auf der Suche nach neuen Ufern und dem Sinn des Lebens. Die tiefsinnigen Texte Walt Whitmans sind dem MDR-Rundfunkchor sowie Solo-Sopran und -Bariton anvertraut, die auf ganzer Linie überzeugen. Dirigent Dennis Russell-Davies entlockt dem Orchester wundervolle Farben und vereint strukturelle Klarheit mit dem nötigen „Zauber der Musik“-Glanz. Der Chor zeigt sich in Höchstform und wird den wechselnden, dabei stets hohen Anforderungen vollauf gerecht. Manchmal ist die Klangbalance zwischen Chor und Orchester nicht ideal, jedoch tritt dieses Problem zum Glück nur in besonders lauten Tutti-Passagen auf. Bariton Christopher Maltman überzeugt mit würdevoller Autorität und stimmlicher Durchsetzungskraft, Sopranistin Eleanor Lyons gestaltet klangschön und mit ergreifender Schlichtheit.

In berückender Stille endet diese durchweg beeindruckende Aufführung eines zentralen Werks der britischen Sinfonik – ein mehr als würdiger Beitrag zu Vaughn Williams‘ 150. Geburtstag.

Frank Sindermann

Hörtipp: https://youtu.be/2w4hHS5Ys2U

Sonntag, 8. Mai 2022
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Christopher Maltman, Bariton
Eleanor Lyons, Sopran
Dennis Russell Davies, Dirigent

The Touches of Sweet Harmony

Das MDR Sinfonieorchester beendet die lange Corona-Durststrecke mit einem rundum überzeugenden Shakespeare-Programm.

Aquarell von Felix Mendelssohn Bartholdy | © gemeinfrei

Allzu lange ist es mittlerweile her, dass man sich in Live-Konzerten den „Berührungen süßer Harmonie“ hingeben konnte; die vielen Streaming-Angebote waren und sind zwar ein willkommener Ersatz, aber leider – oder zum Glück? – auch nicht mehr als das. Verständlich also, dass heute im Großen Saal des Gewandhauses eine ganz besondere Atmosphäre freudiger Erwartung herrscht, gemischt mit Erleichterung darüber, dass endlich Stück für Stück Normalität ins Leben zurückkehrt.

Das MDR-Sinfonieorchester unter seinem Leiter Dennis Russell Davies spielt an diesem Abend derart motiviert und inspiriert, dass es der einleitenden Worte vor dem Konzert gar nicht bedurft hätte, um zu erkennen, wie sehr auch die Musiker:innen darauf brennen, wieder für ein Live-Publikum zu spielen.

Das Programm umfasst sehr unterschiedliche Werke, die durch ihren gemeinsamen Shakespeare-Bezug dramaturgisch miteinander verknüpft sind. Am Anfang steht Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Musik, die ich selten differenzierter musiziert gehört habe. Besonders facettenreich gelingt die Ouvertüre, deren Reichtum an Kontrasten voll ausgekostet wird. Erfreulich auch, wie über die Sätze hinweg die Spannung ebenso wenig nachlässt wie die Präzision des Zusammenspiels.

Davon profitiert auch Dvořáks „Othello“-Konzertouvertüre, deren schroff auffahrende Gesten klingen wie in Stein gemeißelt. Vom verhaltenen Beginn bis zum prägnanten Schluss zeigt das Orchester nach dem farbenfrohen Bilderbogen des „Sommernachtstraums“, dass es auch mitreißende Geschichten im Kinoformat erzählen kann.

Ralph Vaughan Williams‘ ätherische „Serenade to Music“ bringt das Konzert zu einem emotional ergreifenden Abschluss, drückt sie doch als Hymne auf die Musik genau jenen Zauber aus, der auch das heutige Konzert durchzieht. Dieser speist sich einerseits aus großartigen individuellen Leistungen der Orchestermusiker:innen, der Chorsolist:innen, der Konzertmeisterin, zu keinem geringen Anteil aber auch aus dem inspirierten und klaren Dirigat des Chefdirigenten. Es ist ein schwieriges und gleichzeitig dankbares Programm, das allen Beteiligten reichlich Gelegenheit bietet, ihr beeindruckendes Können unter Beweis zu stellen.

Und doch sind es am Ende nicht allein die wunderbaren Klänge des Orchesters und des großartigen Chors, die mir bewusst machen, was mir seit Monaten gefehlt hat: Es sind vor allem jene wertvollen andächtigen Sekunden der Stille vor dem Einsetzen des begeisterten Beifalls, die kein Stream jemals wird adäquat übermitteln können.

Hinweis: Aufgrund technischer Probleme beim Fortführen des Blogs nach fast einjähriger Unterbrechung erscheint dieser Text deutlich später als geplant. Ich bitte die Leser:innen um Verständnis.

Frank Sindermann

5. Juni 2021
Gewandhaus, Großer Saal
MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Dirigent: Dennis Russell Davies

Mit Glut und Klapperstöcken

Im ersten Matinéekonzert der neuen Spielzeit lässt Risto Joost beim MDR die Funken sprühen.

Caspar David Friedrich: Abtei im Eichwald (1809) | gemeinfrei

Mendelssohns „Erste Walpurgisnacht“ ist eher selten zu hören. Dies ist schade, denn die knapp halbstündige Kantate hat alles zu bieten, was auch seine großen Oratorien auszeichnet: spannungsgeladene orchestrale Klangmalereien, wunderbare Chöre und wirkungsvolle Solopartien.

Letztere sind im heutigen Matinéekonzert des MDR sehr respektabel besetzt, wobei Bassbariton Matthias Winckhler einen besonders starken Eindruck hinterlässt. Winckhler verfügt nicht nur über eine tragfähige und flexible Stimme, sonden verleiht auch der Rolle des Priesters die nötige Autorität, wenn dieser beispielsweise das Volk dazu anstachelt, „mit Zacken und mit Gabeln und mit Glut und Klapperstöcken“ die Christen zu vertreiben. Maximilian Schmitt macht als heidnischer Druide eine ebenso gute Figur wie als christlicher Wächter, dessen Schrecken er glaubhaft verkörpert, klingt in der Höhe allerdings etwas eng. Katharina Magieras Einsatz ist sehr kurz, dafür aber sehr berührend gesungen.

Der MDR-Rundfunkchor präsentiert sich so klangschön, flexibel und rhythmisch präzise wie eh und je: Da raunt und wispert es eben noch geheimnisvoll, um kurz darauf entfesselt zu „lärmen“, wie es im Text heißt. Das Orchester gerät im Eifer des Gefechts manchmal klanglich ins Hintertreffen, harmoniert ansonsten aber hervorragend mit dem Chor. Außerdem hat das Orchester ja bereits im ersten Teil des Konzerts einen denkwürdigen Auftritt, in dem Beethovens „Fidelio“-Ouvertüre und vierte Sinfonie auf dem Programm stehen.

Um es gleich vorweg zu sagen: Ästhetisch habe ich eine andere Vorstellung von Beethovens Vierter als Risto Joost, der sie derart dramatisch angeht, dass sie wie eine Vorstudie zur Siebten anmutet. Was mir dabei fehlt, ist der Witz im Haydnschen Geiste, das Augenzwinkern, die Leichtigkeit. Damit kann ich in diesem Fall aber sehr gut leben, denn Joosts Konzept ist so konsequent und überzeugend umgesetzt, dass mir diese Vierte nicht falsch, sondern einfach anders erscheint.

Dass seine linke Hand im Verband steckt, hält Joost nicht davon ab, sich mit vollem Körpereinsatz in die Musik zu werfen. Der Funke springt denn auch von ihm auf das Orchester und von dort direkt aufs Publikum über. Es ist eine Freude, den Musikerinnen und Musikern zuzuschauen und dabei zu sehen, wie motiviert und konzentriert sie bei der Sache sind. Exemplarisch zeigt dies Konzertmeister Andreas Hartmann, der eine fast unbändige Freude am Musizieren sehen und hören lässt.

Hervorragend gespielte Soli an allen Pulten und ein knackiger, transparenter Tuttiklang lassen diesen Beethoven zu einem besonderen Ereignis werden. Derart engagiert und stilsicher gespielt, überzeugt mich auch diese stürmische Vierte von Anfang bis Ende. Mein persönlicher Höhepunkt ist aber trotzdem das wunderbar lyrisch und zurückgenommen gespielte Adagio.

Frank Sindermann

29. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Katharina Magiera, Mezzosopran
Maximilian Schmitt, Tenor
Matthias Winckhler, Bassbariton
Risto Joost, Dirigent

Schlicht und ergreifend

Im ersten Konzert der neuen MDR-Saison erklingen geistliche Werke des jungen Puccini und des alten Verdi in mustergültigen Interpretationen.

Dirigent Domingo Hindoyan | © MDR/Hagen Wolf

Es ist ein spannendes und klug durchdachtes Programm, mit dem der MDR seine neue Konzertsaison beginnt: Vor der Pause erklingt mit Puccinis „Messa di Gloria“ das Werk eines jungen Kirchenmusikers auf dem Weg zur Oper, nach der Pause zeigen Verdis „Quattro pezzi sacri“ einen alten Mann, der die Oper fast hinter sich gelassen hat.

Mit Domingo Hindoyan konnte ein hervorragender Dirigent verpflichtet werden, der die Musik offenkundig wichtiger nimmt als sich selbst und alle Beteiligten zu Höchstleistungen motiviert. Mit eleganten, fließenden Handbewegungen und bewundernswertem Feingefühl führt er Orchester und Chor durch die kontrastreichen Werke und verliert bei aller Detailarbeit doch nie den Spannungsbogen aus den Augen. Vor allem aber wahrt er stets eine ausgezeichnete klangliche Balance innerhalb der Orchestergruppen, aber auch im Zusammenspiel mit dem Chor. Selbst im lautesten Tutti verschwimmt nichts, geht nichts unter, bleibt alles transparent.

Das MDR-Sinfonieorchester zeigt sich heute von seiner allerbesten Seite. Strahlende Blechbläser-Fanfaren, samtig-weiche Streicher, bei denen jedes Pizzicato perfekt sitzt, und ein wunderbar homogen spielendes Horn-Quartett sind nur einige Beispiele für das exzellente Niveau des Orchesters – neben geschmackvollen Holzbläsersoli, präzisen Paukenschlägen etc. Besonders hervorheben möchte ich noch das Vermögen und die Bereitschaft aller Beteiligten, auch einmal WIRKLICH leise zu spielen.

Der MDR-Rundfunkchor lässt weder in den berührenden A-cappella-Sätzen, noch im Zusammenspiel mit dem Orchester irgendwelche Wünsche offen. Technische Perfektion und tiefempfundener Ausdruck verleihen der Musik eine innere Spannung, der sich auch das Publikum nicht entziehen kann. Immer wieder ist es völlig still im Saal, und wenn nicht in Ermangelung einer fallenden Stecknadel hin und wieder Bonbongeknispel zu hören wäre, könnte man fast vergessen, dass Hunderte von Menschen der Musik lauschen.

Auch bei den Solisten gibt es rein gar nichts zu beanstanden: Sung Min Songs schlanker, warmer Tenor verleiht dem „Gratias agimus tibi“ genau jenen Ausdruck schlichter Dankbarkeit, den Text und Musik verlangen; Bassbariton Milan Siljanov überzeugt im „Benedictus“ mit würdevollem Ernst. Auch Chorsolistin Katharina Kunz sorgt in ihrer kurzen, aber wichtigen Solopartie am Schluss noch einmal für einen besonderen Moment.

Der begeisterte Applaus am Ende bestätigt meinen Eindruck: Besser kann eine Saison gar nicht starten!

Frank Sindermann

Hinweis: Am 15. September 2019 wird ab 19.30 Uhr ein Mitschnitt des Konzerts auf MDR Kultur und MDR Klassik gesendet. Anhören!

8. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Domingo Hindoyan, Dirigent
Sung Min Song, Tenor
Milan Siljanov, Bariton
Katharina Kunz, Sopran

Ohren zu und durch?

Das Leipziger Konzertpublikum hat offenbar ein Problem mit Neuer Musik, auch wenn diese schon über 100 Jahre alt ist; Schumanns Violinkonzert und Brahms’ Vierte haben es da deutlich leichter.

Carolin Widmann © Lennard Rühle

Vielleicht ist die Reihe „Zauber der Musik“ einfach der falsche Rahmen für diese großartige Musik. Anders kann ich mir jedenfalls kaum erklären, mit welcher Ablehnung das Publikum im heutigen MDR-Konzert auf Charles Ives’ „Three Places in New England“ reagiert. Vor mir hält sich ein Herr demonstrativ die Ohren zu, andernorts verlässt jemand fluchtartig den Saal. Dabei ist dieses Schlüsselwerk der amerikanischen Musikgeschichte doch mittlerweile auch schon über 100 Jahre alt! Sicherlich, diese Musik ist nicht ganz einfach zu hören, klingt stellenweise laut bis grell und tritt manche Konvention mit Füßen; gleichzeitig ist sie aber so zart und subtil, so reich an Farben und Motiven, dass man ins Schwärmen geraten könnte – gesetzt den Fall, dass man sich auf diese Art Musik überhaupt einlassen WILL.

Das MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Markus Poschner bietet jedenfalls keinerlei Anlass zum Davonlaufen – ganz im Gegenteil. Schon der erste der drei Sätze schlägt mich unmittelbar in seinen Bann. Der sphärische Streicherklang der Eröffnungstakte, die nebelhaft verhangene Grundstimmung der Musik, vor allem aber die wunderbar zurückhaltend geblasenen Soli von Horn, Flöte, Oboe und Klarinette üben eine geradezu magische Wirkung aus. Leider verliert sich Dirigent Markus Poschner bisweilen allzu sehr im Klanglichen und verwischt das durchaus vorhandene Grundmetrum zum atmosphärischen Ungefähr. Das zweite Stück gestaltet Poschner als wahres Klanginferno. Dabei behält er stets die Übersicht über das komplexe Geschehen, wenn sich auch die unterschiedlichen musikalischen Ebenen mitunter noch ein wenig mehr gegeneinander verschieben als von Ives vorgesehen. Das Orchester spielt kraftvoll und mit dem hier nötigen Mut zum Hässlichen und zeigt damit – besonders im direkten Vergleich zum ersten Satz – seine stilistische Wandlungsfähigkeit. Der letzte Satz knüpft stimmungsmäßig wieder an den ersten an. Hier gefällt mir vor allem die gleichmäßig aufgebaute Steigerung und Intensivierung des Geschehens. Als die Musik auf ihrem Höhepunkt abrupt abreißt und nach wenigen leisen Takten einfach aufhört, bleibe ich tief bewegt zurück.

Gemäß der heutzutage in Stein gemeißelten Programmfolge „kurzes Stück – Solokonzert – Pause – Sinfonie“ folgt nun das Solokonzert. Carolin Widmann, Geigenprofessorin an der Leipziger Musikhochschule, spielt Robert Schumanns Violinkonzert und beweist eindrucksvoll, dass dieses nach wie vor stiefmütterlich behandelte Werk sein Schattendasein im Konzertbetrieb nicht im Geringsten verdient hat. Dabei betont sie schon im dramatisch bewegten Kopfsatz eher den poetischen Gehalt des Konzerts. Warum sie bereits die Orchesterexposition mitspielt, erschließt sich mir allerdings nicht, läuft sie damit doch sozusagen auf dem Teppich mit, der ihr gerade ausgerollt wird. Herzstück des Konzerts ist für mich der lyrische Mittelsatz, den Widmann sehr gefühlvoll und klanglich differenziert spielt. Das Finale verweigert sich den genretypischen großen Gesten und wird zum Glück auch von Solistin und Dirigent nicht künstlich aufgebauscht. Auch beim von Schumann vorgesehenen gemäßigtem Tempo ist der Satz alles andere als leicht zu spielen, was sich an der einen oder anderen technischen Ungenauigkeit zeigt. Wichtiger ist aber der musikalische Ausdruck und hier gelingt Carolin Widmann eine stimmige Interpretation. Das Orchester erweist sich als verlässlicher Partner, ohne aber starke eigene Akzente zu setzen. Dass Widmann als Zugabe ein Stück des wohl meistunterschätzten Komponisten der Musikgeschichte wählt – Georg Philipp Telemann -, freut mich ganz besonders. Widmann zeigt anhand des Dolce aus der Fantasie TWV 40:20, dass Telemanns Musik viel öfter gespielt werden sollte.

Die nach der Pause gespielte Brahms-Sinfonie überzeugt mich heute am wenigsten. Da ist zunächst das Spiel des Orchesters, das insgesamt deutlich unkonzentrierter und fehleranfälliger als im ersten Teil des Konzerts wirkt. Schwerer wiegt jedoch das Fehlen eines stimmigen Kozepts seitens des Dirigenten, der schon im ersten Satz nicht weiß, ob er ihn elegisch und getragen (Anfang) oder dramatisch (Durchführung, Schluss) angehen soll. Steigerungen werden nur halbherzig aufgebaut, die klangliche Balance gerät oft zu Lasten der Streicher aus dem Gleichgewicht. Und es wird nicht wirklich besser: Der zweite Satz beginnt viel zu statisch, kommt zunächst nicht richtig in Fluss. Der Mittelteil mit seinem wundervollen Querflöten-Solo entschädigt dafür leider nur bedingt. Der dritte Satz klingt eher martialisch als glanzvoll, selbst das Triangel-Geklingel wirkt blechern und stumpf. Im Finale schließlich dirigiert Poschner vor allem die Passacaglia-Abschnitte durch und ignoriert dafür weitgehend den übergreifenden Spannungsbogen. So bildet die Sinfonie den eher enttäuschenden Abschluss für ein verheißungsvoll beginnendes Konzert.

Frank Sindermann

11. Mai 2019
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Markus Poschner, Dirigent
Carolin Widmann, Violine

Ist es wirklich schon so spät?

Alexander Shelley lässt im „Zauber der Musik“ Debussys Faun entspannt träumen, dreht dafür bei Brahms das Tempo auf; Gabriela Montero sprengt in Mozarts c-Moll-Klavierkonzert effektvoll den klassischen Rahmen.

Gewandhaus mit Mendebrunnen © Florian Koppe (CC BY-SA 3.0)

Alexander Shelleys Dirigierstil kann man vielleicht am besten mit dem etwas altmodischen Wort „schneidig“ bezeichnen; mit schnellen, präzisen, beinahe zackigen Gesten teilt Shelley Phrasen in Takte und Takte in Schläge, ohne dabei aber die Musik zu zerhacken – am Ende fügt er das klar Gegliederte wieder zu einem organischen Ganzen zusammen. Das ist faszinierend zu beobachten und überzeugt heute Abend vor allem in Mozarts c-Moll-Klavierkonzert, in dessen Kopfsatz Shelley die dramatische Energie wunderbar kanalisiert und klar auf den Punkt bringt. Das MDR-Sinfonieorchester spielt unter seiner Leitung einen modernen, frischen Mozart, der stilistisch voll auf der Höhe der Zeit ist und mit schlankem, kernigem Klang begeistert.

Den Klavierpart spielt die venezolanische Pianistin Gabriela Montero, die vor allem für ihr Improvisationstalent, aber auch ihr politisches Engagement berühmt ist. Letzteres zeigt sich heute Abend, als Montero das Entrollen der venezolanischen Flagge im Zuschauerraum mit einem „Gefällt mir!“-Daumen honoriert, ersteres äußert sich vor allem in der virtuosen Solokadenz des ersten Satzes und in der Zugabe, die sie nach Zuruf aus dem Publikum über den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ improvisiert.

Monteros lebhaftes, klar akzentuiertes Mozart-Spiel passt bestens zu Shelleys forscher Interpretation des Orchesterparts. Die Kommunikation zwischen Montero und Shelley funktioniert tadellos und trägt ihren Teil zum runden Gesamteindruck bei.

Der zu Beginn des Konzerts gespielte „Nachmittag eines Fauns“ weiß vom zauberhaften Flötensolo zu Anfang bis zum Verklingen des letzten Tons vollauf zu überzeugen. Shelley widersteht gekonnt der Versuchung, aus der komponierten Bewegungslosigkeit des Stücks auszubrechen und lässt die vielen klanglichen Farbnuancen in immer neuen Kombinationen aufleuchten und wieder verlöschen.

Nach der Pause gibt es dann Brahms’ zweite Sinfonie. Shelley scheint all jene Lügen strafen zu wollen, die seit der Uraufführung den pastoralen, frühlingshaft-freundlichen Ton der Sinfonie betonen, indem er nicht nur (zu) schnelle Tempi wählt, sondern auch die durchaus vorhandenen dramatischeren Passagen des Kopf- und Finalsatzes etwas einseitig in den Vordergrund rückt. Das Seitenthema des ersten Satzes wird so zur vernachlässigten Episode, die flüchtig vorüberhuscht. Dem gesamten Satz fehlt die nötige Luft zum Atmen, alles wirkt unangenehm gehetzt und hyperaktiv. Das ist vor allem deshalb schade, weil das MDR-Sinfonieorchester soviel Schönes anzubieten hat, vor allem die grandiosen Holzbläser. Selbst dem strahlenden Blechbläser-Jubel des Schlusssatzes scheint Shelley nicht zu trauen und bietet stattdessen schrilles Siegesgeschrei. Das ist nicht schön, aber effektvoll, wie der tosende Beifall beweist. Viel besser gelingen hingegen die Mittelsätze, vor allem das originelle Scherzo. Hier erweist sich Shelleys präzise, energische Schlagtechnik als das Mittel der Wahl.

Frank Sindermann

14. Oktober 2018
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
Alexander Shelley, Dirigent
Gabriela Montero, Klavier

Der Weg zum ewigen Licht

Sinfonieorchester und Rundfunkchor des MDR eröffnen unter der Leitung von Risto Joost mit Gustav Mahlers „Auferstehungssinfonie“ die neue Konzertsaison.

Foto: © Andreas Lander

„Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du, mein Herz, in einem Nu!“ – so heißt es in Klopstocks Text, den Gustav Mahler im letzten Satz seiner „Auferstehungssinfonie“ vertont; doch musikalisch dauert es immerhin über 80 Minuten, bis diese erlösenden Worte erklingen. Dass die Zeit an diesem Abend trotzdem wie „im Nu“ verfliegt, liegt vor allem an der hervorragenden Leistung aller Beteiligten.

Risto Joost erweist sich vor allem als energiegeladener Motivator, der die Spannungskurve über alle Brüche und Kontraste der Partitur hinweg stets aufrecht erhält und vor allem den nervösen, psychisch angespannten Aspekt der Musik betont. Dies kommt dem düster-zerrissenen Kopfsatz sehr zugute, dem tänzerischen zweiten nicht in gleichem Maße. Das MDR-Sinfonieorchester folgt Joost stets aufmerksam und bleibt über die gesamte Spieldauer der Sinfonie konzentriert und engagiert.

Besonders gefällt mir am Orchester der Mut zum Risiko, das kompromisslose Ausloten der Extreme ohne doppelten Boden. Der Lohn ist vor allem eine große emotionale Unmittelbarkeit der Musik. Wenn die Hörner tatsächlich sehr, sehr leise spielen, dann wackelt zwar vielleicht der Einsatz in einem von zehn Fällen – die anderen neun geraten dafür aber einfach traumhaft und sind den Einsatz allemal wert. Auch das oft beobachtete zaghaft klappernde „Anspringen“ von Bläserakkorden ist heute Abend kein Problem. Selbstbewusstsein ist hier alles!

Die viefältigen orchestralen Mittel der Sinfonie ermöglichen es dem Orchester, zur Saisoneröffnung an jedem Pult zu glänzen: Von zarten Pizzicato-Klängen bis durchdringenden Dies-irae-Tuben, von Vogelgezwitscher bis Ferntrompeten bietet Mahler alles auf, was an Klangeffekten gut und teuer ist – und die MDR-Sinfoniker_innen machen daraus ein wahres Fest.

Gerhild Romberger verleiht der menschlichen Pein und Sehnsucht nach dem Paradies mit würdigem Ernst Ausdruck und wirkt stets emotional engagiert, ohne dabei je ins Sentimentale oder Kitschige zu verfallen. Katharina Konradi überzeugt ebenfalls auf ganzer Linie. Besonders beeindruckend gelingt ihr der von Mahler geforderte Wechsel vom klanglichen Verschmelzen mit dem Chor zum solistischen Hervortreten.

Der MDR-Rundfunkchor muss sich zunächst gedulden und eine gute Stunde lang auf seinen Einsatz im letzten Satz warten, der dann aber umso beeindruckender gelingt. Vom zarten, geradezu mystischen A-Cappella-Einsatz im dreifachen Pianissimo bis zum durchsetzungsstarken dreifachen Forte des Finales meistert der Chor jede noch so große Herausforderung mit Bravour – besser kann dieser verboten schwere Chorpart wohl nicht gesungen werden.

Um den Chor schon früher ins Spiel zu bringen, ist heute Abend der Sinfonie eine A-cappella-Bearbeitung des Rückert-Liedes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ vorangestellt, in der man die hohe Klangkultur des Chores bereits ausgiebig bewundern kann. Ästhetisch überzeugt mich Clytus Gottwalds Bearbeitung nicht – so schön sie auch klingen mag; zum einen ist der wunderbare Dialog zwischen Singstimme und Englischhorn in der Chorfassung komplett in der Klangfläche aufgelöst, zum anderen wird die Struktur des Stückes sehr verunklart, wenn Einleitung, Hauptteil und Nachspiel jeweils auf Text gesungen werden. Auch geht es bei dem Lied um das Gefühl eines einzelnen Menschen, der sich von der Welt abgewendet hat, was durch eine Solostimme meines Erachtens passender verkörpert wird als durch einen Chor. Da das Lied generell nicht zwingend zur nachfolgenden Sinfonie passt und Mahlers eigene Dramaturgie der monumentalen Sinfonie letztlich verfälscht, hätte man auf diesen Effekt vielleicht besser verzichtet.

Abgesehen davon lässt die heutige Aufführung kaum Wünsche offen und zeigt Sinfonieorchester und Rundfunkchor des MDR zur Saisoneröffnung in bester Verfassung. Das Publikum dankt mit begeistertem Beifall.

Frank Sindermann

16. September 2018, 19.30 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Risto Joost, Dirigent
Katharina Konradi, Sopran
Gerhild Romberger, Alt