Neubeginn

Das Gewandhausorchester eröffnet die 240. Saison coronabedingt mit einem reinen Beethoven-Programm.

Gewandhaus zu Leipzig © pixabay

Es ist ein wirklich schönes Gefühl, nach Monaten der Corona-Unterbrechung wieder ein Konzert des Gewandhausorchesters im Großen Saal erleben zu können. Das „Sommerfestival“ im Mendelssohn-Saal war zwar ein gut gemeintes und gut gemachtes Trostpflaster, doch erst heute habe ich das Gefühl, dass es wieder „richtig“ losgeht. Zur Eröffnung der 240. Saison sind die Musikerinnen und Musiker jedenfalls hoch motiviert, das Podium frisch renoviert und auf dem Programm stehen Dauerbrenner von der Best-of-Klassik-Playlist, die eigentlich immer gefallen. Als Solist gibt Krystian Zimerman sein lang ersehntes Gewandhaus-Debüt, nachdem er hier bereits im vergangenen Jahr mit einem Klavierabend für Begeisterung gesorgt hat (https://brahmsianer.de/keine-frage-des-alters). Herz, was begehrst du mehr?

Nach freundlichen Worten des Gewandhausdirektors und des Orchestervorstands beginnt das Konzert mit Beethovens Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“, die vor allem daran krankt, dass der Komponist sie als multifunktionales Gebrauchsstück konzipiert hat, das neben seiner ursprünglichen Bestimmung auch zu weiteren Anlässen spielbar sein sollte. Herausgekommen ist entsprechend „irgendein“ Eröffnungsstück, das irgendwie zu jeder Einweihung passt, sei es ein neues Konzerthaus oder ein neues Podium für dasselbe. Das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons spielt engagiert, was das Stück für mich persönlich aber auch nicht interessanter macht. Dass eine der wenigen charakteristischen Stellen, nämlich die virtuosen Begleitfiguren im Fagott, klanglich zugedeckt werden, ist da umso bedauerlicher.

Musikalisch ungleich interessanter wird es in Beethovens drittem Klavierkonzert. Leider wird Solist Krystian Zimerman den hohen Erwartungen nicht in jenem Maß gerecht, das man von ihm erwarten konnte: Technische Ungenauigkeiten und eine undifferenzierte Artikulation trüben den Genuss leider erheblich. Im ersten Satz, den Nelsons relativ schnell angeht, wirkt Zimermans Spiel mitunter kurzatmig und eher gehetzt als souverän, im Schlusssatz setzt er das rechte Pedal allzu oft als Verschleierungswerkzeug ein. Welch großartiger Pianist Zimerman eigentlich ist, scheint vor allem im lyrischen Mittelsatz auf, der mich aber trotzdem bei weitem nicht so berührt wie die in jeder Hinsicht herausragende Aufführung im letzten Jahr mit Igor Levit und Herbert Blomstedt (https://brahmsianer.de/pianissimo). Dies liegt auch an Nelsons, der das überreiche Potenzial der Musik und des Gewandhausorchesters an diesem Abend nicht ansatzweise ausschöpft. Wie ein Künstler, der ratlos vor den schönsten und hochwertigsten Farben und Pinseln steht und nicht weiß, was er damit überhaupt malen soll, liefert Nelsons routiniert die Partitur ab, ohne besondere eigene Akzente zu setzen. Malen nach Zahlen ist aber für ein solches Orchester zu wenig, auch – oder erst recht – wenn das Bild von Beethoven stammt.

In der fünften Sinfonie sieht es kaum anders aus: Das Orchester zeigt sich von seiner besten Seite, der Dirigent fällt eher durch das hektische Umblättern der Partitur auf (bei Beethoven 5!), als dass er durch mitreißende Ideen aufhorchen ließe. Da kann die Oboe im ersten Satz noch so gefühlvoll ihr Solo spielen, können im zweiten Satz die Trompeten um die Wette strahlen – es wird kein kohärentes Ganzes daraus. Erwartet man nach den (zu?) schnellen Eröffnungstakten des Kopfsatzes noch, es mit einer rasanten, dynamischen Interpretation zu tun zu bekommen, verliert sich dieser Impetus sofort danach wieder. Und der Finalsatz vermeidet zwar durch sein schnelles Tempo hohles Pathos, ohne dass aber etwas anderes an dessen Stelle träte. Ich verstehe einfach nicht, worauf Nelsons mit dieser Fünften hinaus will, und das ist sehr bedauerlich, ist sie doch an allen Pulten glänzend gespielt. Bleibt abzuwarten, was Herbert Blomstedt dem Orchester in den nächsten Großen Concerten zu entlocken vermag.

Auch wenn mich der Abend musikalisch etwas enttäuscht hat, ist meine Freude über den musikalischen Neubeginn am Augustusplatz dennoch ungebrochen. Das Orchester hat jedenfalls aufs Schönste bewiesen, dass es die Zwangspause bestens überstanden hat.

Frank Sindermann

12. September 2020
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Krystian Zimerman, Klavier

Keine Frage des Alters

Ausnahmepianist Krystian Zimerman begeistert im Gewandhaus mit Werken des jungen Brahms und Chopin.

Klaviertasten © Johannes Plenio auf Pixabay

Der Auftrittsapplaus ist kaum verebbt, da stürzt Krystian Zimerman sich auch schon mit vollem Körpereinsatz in Johannes Brahms’ 3. Klaviersonate und legt so bereits in den ersten Takten jenes Stürmen und Drängen an den Tag, das seine gesamte Interpretation kennzeichnen wird. Ohne Netz und doppelten Boden, jedes Risiko in Kauf nehmend, greift Zimerman in die Tasten und entführt das Publikum direkt in die bewegte Gefühlswelt des 20jährigen Johannes Brahms. Wo schon der Beginn derart ins Extrem geht, bleibt für die Durchführung nicht mehr viel Luft nach oben; dafür werden die Kontraste zu den gesanglichen Passagen besonders hervorgehoben. Dass es nach den kraftvollen Schlussakkorden des ersten Satzes Zwischenapplaus gibt, nimmt der als eher empfindlich bekannte Pianist gelassen hin.

Im zweiten Satz, dem innigen „Andante espressivo“, entlockt der Pianist seinem eigens mitgebrachten, fast noch unbespielten Flügel Klänge von unvorstellbarer Schönheit und hält für eine Viertelstunde die Zeit an. Es sind intime Momente, in denen man fast vergessen könnte, dass viele hundert Menschen im Saal sitzen. Der erneut einsetzende Zwischenapplaus aus bekannter Saalecke erinnert allerdings wieder daran. Dieses Mal bedankt sich Zimerman sogar dafür.

Im Scherzo ist Zimerman wieder jedes Wagnis recht, um den ungestümen Ausdruck des Satzes überzeugend darzustellen. Dass hierbei nicht jeder Ton technisch perfekt sitzt, nimmt er dabei offenbar bewusst in Kauf. Als der Szenenapplaus dieses Mal überraschend ausbleibt, wendet sich Zimerman mit fragender Geste in die entsprechende Richtung und hat die Lacher auf seiner Seite.

Nach dem bewegend gespielten „Intermezzo“ mit seiner eingetrübten, wie verschleierten Reminiszenz an das gefühlvolle Andante, regiert im Schlusssatz erneut dramatischer Tastendonner. In diesem Satz fehlt mir ein wenig die durchgängige Linie, das Geschehen wird immer wieder unterbrochen – nicht nur durch das etwas störende Umblättern der Noten. Dem ganz und gar beeindruckenden Gesamtbild tut dies allerding keinen Abbruch. Begeisterter Applaus.

Nach der Pause spielt Zimermann alle vier Scherzi seines polnischen Landsmanns Fryderyk Chopin hintereinander – ein unglaublicher Kraftakt! Seine ebenso elegante wie zupackende Interpretation besweist erneut, dass Zimerman völlig zu Recht zu den bedeutendsten Chopin-Interpeten unserer Tage gezählt wird. Dabei empfinde ich in Details durchaus manche Dinge anders: So rauscht Zimermann im h-Moll-Scherzo über die aufsteigenden Fortissimo-Akkorde mit nachfolgender Bass-Figur ab Takt 43 fast flüchtig hinweg, während ich sie eher als eine klar markierte, drastische Zäsur nach dem ersten rasanten Aufschwung sehe (vergleiche hier z. B. Ivo Pogorelichs Einspielung bei der Deutschen Grammophon). Wundervoll hingegen der H-Dur-Mittelteil, in dem Zimerman die zarte Begleitung der linken Hand, die wunderschöne polnische Weihnachtslied-Melodie und die nachschlagenden Töne im Diskant in mustergültiger Weise klanglich differenziert.

Jedes der vier Scherzi wird mit ausgiebigem Applaus bedacht, und nach jedem verlässt Zimerman kurz die Bühne, um sich zu sammeln und vielleicht einen Schluck zu trinken. Denn diese Musik ist Hochleistungssport, physisch und mental. Neben Zimermans Ausdauer beeindruckt vor allem seine Fähigkeit, jedem Scherzo ungeachtet formaler Gemeinsamkeiten einen völlig individuellen Charakter zu verleihen und immer wieder aufs Neue zu überraschen und zu fesseln.

Insgeamt wirkt Zimerman heute Abend sehr gut gelaunt und lässt sich auch nicht lange um Zugaben bitten – viel zu gern möchte er noch seine wiederentdeckte Begeisterung für den jungen Brahms mit dem Leipziger Publikum teilen, wie er selbst verrät. Und während die ersten bedauernswerten Menschen bereits zum Parkhaus hetzen, kommen alle anderen in den Genuss der ersten beiden Balladen aus Brahms’ Opus 10. Damit schließt sich musikalisch der Bogen zum ersten Teil eines Klavierabends, den die Anwesenden so schnell nicht vergessen dürften.

Frank Sindermann

13. Mai 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Krystian Zimerman, Klavier