Mit Glut und Klapperstöcken

Im ersten Matinéekonzert der neuen Spielzeit lässt Risto Joost beim MDR die Funken sprühen.

Caspar David Friedrich: Abtei im Eichwald (1809) | gemeinfrei

Mendelssohns „Erste Walpurgisnacht“ ist eher selten zu hören. Dies ist schade, denn die knapp halbstündige Kantate hat alles zu bieten, was auch seine großen Oratorien auszeichnet: spannungsgeladene orchestrale Klangmalereien, wunderbare Chöre und wirkungsvolle Solopartien.

Letztere sind im heutigen Matinéekonzert des MDR sehr respektabel besetzt, wobei Bassbariton Matthias Winckhler einen besonders starken Eindruck hinterlässt. Winckhler verfügt nicht nur über eine tragfähige und flexible Stimme, sonden verleiht auch der Rolle des Priesters die nötige Autorität, wenn dieser beispielsweise das Volk dazu anstachelt, „mit Zacken und mit Gabeln und mit Glut und Klapperstöcken“ die Christen zu vertreiben. Maximilian Schmitt macht als heidnischer Druide eine ebenso gute Figur wie als christlicher Wächter, dessen Schrecken er glaubhaft verkörpert, klingt in der Höhe allerdings etwas eng. Katharina Magieras Einsatz ist sehr kurz, dafür aber sehr berührend gesungen.

Der MDR-Rundfunkchor präsentiert sich so klangschön, flexibel und rhythmisch präzise wie eh und je: Da raunt und wispert es eben noch geheimnisvoll, um kurz darauf entfesselt zu „lärmen“, wie es im Text heißt. Das Orchester gerät im Eifer des Gefechts manchmal klanglich ins Hintertreffen, harmoniert ansonsten aber hervorragend mit dem Chor. Außerdem hat das Orchester ja bereits im ersten Teil des Konzerts einen denkwürdigen Auftritt, in dem Beethovens „Fidelio“-Ouvertüre und vierte Sinfonie auf dem Programm stehen.

Um es gleich vorweg zu sagen: Ästhetisch habe ich eine andere Vorstellung von Beethovens Vierter als Risto Joost, der sie derart dramatisch angeht, dass sie wie eine Vorstudie zur Siebten anmutet. Was mir dabei fehlt, ist der Witz im Haydnschen Geiste, das Augenzwinkern, die Leichtigkeit. Damit kann ich in diesem Fall aber sehr gut leben, denn Joosts Konzept ist so konsequent und überzeugend umgesetzt, dass mir diese Vierte nicht falsch, sondern einfach anders erscheint.

Dass seine linke Hand im Verband steckt, hält Joost nicht davon ab, sich mit vollem Körpereinsatz in die Musik zu werfen. Der Funke springt denn auch von ihm auf das Orchester und von dort direkt aufs Publikum über. Es ist eine Freude, den Musikerinnen und Musikern zuzuschauen und dabei zu sehen, wie motiviert und konzentriert sie bei der Sache sind. Exemplarisch zeigt dies Konzertmeister Andreas Hartmann, der eine fast unbändige Freude am Musizieren sehen und hören lässt.

Hervorragend gespielte Soli an allen Pulten und ein knackiger, transparenter Tuttiklang lassen diesen Beethoven zu einem besonderen Ereignis werden. Derart engagiert und stilsicher gespielt, überzeugt mich auch diese stürmische Vierte von Anfang bis Ende. Mein persönlicher Höhepunkt ist aber trotzdem das wunderbar lyrisch und zurückgenommen gespielte Adagio.

Frank Sindermann

29. September 2019
Gewandhaus, Großer Saal

MDR-Sinfonieorchester
MDR-Rundfunkchor
Katharina Magiera, Mezzosopran
Maximilian Schmitt, Tenor
Matthias Winckhler, Bassbariton
Risto Joost, Dirigent

Meeresstille und glückliche Fahrt

Das Gewandhausorchester spielt Schumann zum Niederknien, Hélène Grimaud enttäuscht auf ganzer Linie.

Meeresstille (pixabay-Lizenz)

Entweder hat Hélène Grimaud ihren pianistischen Zenit bereits überschritten oder sie ist heute Abend einfach nicht gut in Form – einen anderen Schluss lässt ihre bestenfalls mittelmäßige Interpretation des Schumann-Klavierkonzerts eigentlich nicht zu. Schon die technische Bewältigung enttäuscht, mehr als einmal spielt die Pianistin schlicht falsche Töne, wirkt ihr Passagenspiel eher bemüht als gekonnt. Von natürlichem Fluss oder gar Brillanz keine Spur. Alles klingt stumpf, der Anschlag uneinheitlich bis beliebig, allzu viel versinkt mulmig im Pedal. Dazu schwankt Grimaud stellenweise derart im Tempo, dass Andris Nelsons mit dem Gewandhausorchester nur mühsam nachziehen kann. Mitunter misslingt dies auch, z. B. im Finale des ersten Satzes, wo Klavier und Orchester metrisch eigene Wege gehen. Der zweite Satz gelingt etwas besser, aber auch hier wirkt vieles belanglos, bleibt die Poesie auf der Strecke. Der Schlusssatz läuft zumindest glatt, wenn auch uninspiriert durch. Aus pianistischer Sicht ist dies insgesamt die schlechteste Aufführung des Konzerts, die ich je gehört habe, was umso bedauerlicher ist, als das Gewandhausorchester Grimaud einen mustergültigen Orchesterpart zu Füßen legt, ihr also gleichsam den roten Teppich aurollt. Vielleicht geht es der Pianistin heute tatsächlich nicht gut, was auch erklären würde, dass sie sich trotz erheblichem Applaus nicht zu einer Zugabe überreden lässt.

So enttäuschend das Schumann-Konzert, so begeisternd die beiden anderen Werke des Abends. Mendelssohns Konzertouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ erfreut vom zurückhaltend-geheimnisvollen Anfang bis zum energiegeladenen Ende. Die Zweiteilung in Meeresstille und glückliche Fahrt wird mustergültig herausgearbeitet, die individuellen Leistungen der Gewandhaus-Musiker_innen sind nahezu makellos, unter ihnen vor allem jener erste Windhauch der Soloflöte, der die Meeresstille beendet, und die strahlenden Trompeten, welche die glückliche Fahrt feiern.

Und dann erst die „Rheinische“ – wie sehr wünschte ich mir, statt der eher anständigen als beeindruckenden Bruckner-Deutungen würden die Mendelssohn- und Schumann-Sinfonien auf CD veröffentlicht! Die heutige Aufführung der dritten Schumann-Sinfonie kann man nicht anders als maßstabsetzend nennen. Der kraftvolle Optimismus des Kopfsatzes, die Eleganz des zweiten, der sakrale Ernst des vierten – hier bleiben nirgends Wünsche offen. Ein Orchester in Höchstform und ein bis in die Zehenspitzen motivierter Dirigent bescheren dem Publikum ein musikalisches Großereignis, das ich nicht so bald vergessen werde. Besonders erfreulich ist dieser gelungene Abschluss des Konzertabends nach dem verunglückten Klavierkonzert im ersten Teil, nach dessen Untiefen das Gewandhaus seine glückliche Fahrt vom Konzertbeginn fast noch glücklicher – und beglückender – fortsetzt.

Frank Sindermann

17. Januar 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent
Hélène Grimaud, Klavier

Manueller Fokus

Andris Nelsons überzeugt im Gewandhaus mit einer sehr persönlichen Sicht auf Mendelssohn und Schumann.

Schärfentiefe (CC0, pixabay)

Die Gewandhauskonzerte dieser und der nächsten Woche sind Teil des Saisonschwerpunkts „Fokus: Mendelssohn & Schumann“, was an sich so notwendig ist wie Bach-Wochen beim Thomanerchor oder ein Wagner-Special in Bayreuth – hat doch das Gewandhausorchester Mendelssohn und Schumann ohnehin permanent im Autofokus. Auch die beiden Sinfonien des heutigen Konzerts wurden beide bereits in der vergangenen Saison gespielt, harren also auch nicht gerade ungeduldig der heutigen Aufführung.

Zum Glück deaktiviert Andris Nelsons zumindest musikalisch den Autofokus und zeigt seinen ganz eigenen Blick auf dieses Leipziger Standardrepertoire, präsentiert also das gängige Schnappschuss-Motiv gleichsam aus neuer Perspektive und mit einem manuellen Fokus, der andere Details scharfstellt als üblich.

Dies kommt vor allem Schumanns 2. Sinfonie zugute, deren große emotionale Tiefe Nelsons vor allem im ergreifenden langsamen Satz (Adagio espressivo) mit großem Ernst auslotet. Vom unsagbar zarten Anheben der Musik über die verhangenen Kontrapunkt-Abschnitte bis zum verklingenden Schluss entfaltet sich ein weite Klanglandschaft, deren Details Nelsons mit hoher Schärfentiefe belichtet.

Die Stimmung des Adagios färbt auch auf die übrigen Sätze ab, was den Kopfsatz geheimnisvoll, stellenweise fast düster wirken lässt. Erst gegen Ende weicht die Zurückhaltung emphatischer Freude. Das Scherzo kommt kontrastreich und spannend daher, die Streicher spielen ihre rasanten Figuren klar und präzise.

Der Finalsatz fällt gegen die grandiosen ersten drei leider etwas ab. Neben einigen spieltechnischen Ungenauigkeiten liegt dies vor allem an einer gewissen interpretatorischen Unentschlossenheit, die den Schlussjubel zwar zulässt, ihn aber nicht konsequent genug ausspielt. Man vergleiche z. B. Michael Gielen mit dem SWR-Orchester, der es am Schluss in Rekordtempo krachen lässt, oder Christoph von Dohnány mit dem Cleveland Orchestra, bei dem die letzten Paukentöne wie Hammerschläge des Schicksals zelebriert werden. Man muss diesen Lesarten nicht zustimmen, kann sie übertrieben oder pathetisch finden, aber sie sind prägnant und eindeutig, während das Finale heute etwas im Ungefähren verschwimmt.

Von Mendelssohn steht neben der schön gespielten, als Stück aber eher unspannenden „Ruy Blas“-Ouvertüre seine „Italienische“ Sinfonie auf dem Programm. Andris Nelsons lebt den freudigen Überschwang des eröffnenden Allegros körperlich aus und überträgt seine Begeisterung mühelos auf das Gewandhausorchester, das in jeder Hinsicht, vor allem aber in Holzbläser-Hinsicht, vollauf begeistert. So klingt es, wenn Energie zu Musik wird, wenn Begeisterung auf technisches Können trifft, wenn einzelne Instrumente in idealer Weise zu einem Klangkörper verschmelzen.

Das hohe musikalische Niveau wird in diesem Fall über alle vier Sätze gehalten. Die würdevolle Prozession des „Andante con moto“, das elegante Menuett, das wirbelnde Tanz-Finale: Ihnen allen verleiht Nelsons ihren ganz spezifischen Charakter – deutlich, aber ohne Übertreibung.

Angesichts der herausragenden Qualität der heutigen Aufführungen gerät die Frage nach Sinn oder Unsinn eines Mendelssohn- und Schumann-Schwerpunkts im Gewandhaus am Ende doch wieder in den Hintergrund. In diesem Sinne freue ich mich schon auf den nächsten Fokus. Mein Tipp: Beethoven.

Frank Sindermann

10. Januar 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Andris Nelsons, Dirigent