Wenn Worte nicht ausreichen

Michael Sanderling dirigiert mit Schostakowitsch’ Sinfonie-Kantate „Babi Jar“ ein musikalisches Mahnmahl gegen das Vergessen.

Shalom Goldberg: Babi Jar; Lizenz: Public Domain

Schostakowitsch’ Sinfonie „Babi Jar“ macht es niemandem leicht; nicht dem Orchester, nicht dem Männerchor und ebensowenig dem Solo-Bass – vom Publikum ganz zu schweigen. Neben dem hohen musikalischen Anspruch liegt dies vor allem am emotional aufwühlenden Thema dieser sinfonischen Kantate, die ein Massaker an Zehntausenden Juden im Jahr 1941 durch die SS in eindringlichen Bildern heraufbeschwört. Angesichts sowjetischer Verdrängungspolitik sah sich Schostakowitsch genötigt, jenes Grauen Klang werden zu lassen, für das es kaum Worte gibt.

Ich zolle allen Beteiligten des heutigen Konzerts meinen höchsten Respekt: dem warm timbrierten Bass Peter Nagy, dessen starke Präsenz immer wieder für Momente großer Intensität sorgt; den Herren des MDR-Chores samt Verstärkung, die den Unisono-Marathon intonationssicher und präzise meistern; dem Gewandhausorchester, das ich zu den führenden Schostakowitsch-Orchestern überhaupt zähle, und dem Dirigenten, der bei aller Komplexität und durch alle emotionalen Wechselbäder hindurch stets die Fäden in der Hand hält. Eine wirklich beeindruckende Aufführung, getragen vom unbedingten Einsatz aller Mitwirkenden.

Gleichwohl lässt mich die Sinfonie eher befremdet als berührt zurück. Dieses ungefilterte musikalische Nachzeichnen der Textvorlagen, das zudem noch für das falsche Abwiegen betrügerischer Ladenbesitzer vergleichbar drastische Ausdrucksmittel in Anschlag bringt wie für den organisierten Massenmord, wirkt auf mich stellenweise recht banal und derart auf emotionale Wirkung berechnet, dass man fast von negativem Kitsch sprechen könnte. Manchmal ist eine Schweigeminute vielleicht wirkungsvoller als alle Versuche, den Schrecken musikalisch zu illustrieren. Dies ändert freilich nichts daran, dass Schostakowitsch damals viel riskiert hat, um die problematische Vergangenheitsbewältigung seiner Zeit anzuprangern, und damit ein wichtiges politisches Zeichen gesetzt hat. Die Sinfonie ist in jedem Fall, wie immer man sie ästhetisch bewerten mag, ein bewegendes musikalisches Zeitdokument.

Das Mozart-Konzert vor der Pause passt nicht nur überhaupt nicht zur Schostakowitsch-Sinfonie, sondern ist vom Orchester derart uninspiriert und ungenau gespielt, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, die intensive Vorbereitung auf „Babi Jar“ habe am Ende vielleicht nicht mehr genug Probenzeit für den Mozart übriggelassen. Dies ist umso bedauerlicher, als Martin Helmchen ein hervorragender Mozart-Interpret ist, dessen Darbietung durchweg überzeugt. Sein glasklarer Anschlag, das perlende Passagenspiel, die kluge Phrasierung und die gestalterische Fantasie sind der Stoff, aus dem Träume gemacht werden. Leider ist das Orchester nicht so gut in Form wie der Pianist bzw. nicht hundertprozentig bei der Sache. Wirft hier Schostakowitsch bereits seinen Schatten voraus? Vielleicht rächt sich aber auch nur das allgemeine Haydn- und Mozart-Defizit des Orchesters, dessen sinfonisches Kernrepertoire zur Zeit erst mit Beethoven zu beginnen scheint?

Frank Sindermann

7. Februar 2019
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Michael Sanderling, Dirigent
Martin Helmchen, Klavier
Herren des MDR-Rundfunkchores und Gäste
Michael Nagy, Bass

Trallali, trallaley

Matthias Goerne singt im Großen Concert Lieder von Gustav Mahler; Neeme Järvi unternimmt einen Ausflug in deprimierende musikalische Landschaften.

Matthias Goerne – Foto: Caroline de Bon

Das Programm des heutigen Großen Concerts ähnelt ein wenig jenen Opern-Doppelabenden, an denen jeweils zwei kürzere Einakter kombiniert werden, die außer ihrer Spieldauer oft wenig gemeinsam haben. Auch die Bezüge zwischen Gustav Mahlers Wunderhorn-Liedern und Schostakowitsch’ letzter Sinfonie sind derart allgemein, dass man den Teil vor und nach der Pause getrost als getrennte Konzerte verstehen kann.

Die emotionale Bandbreite der ausgewählten Wunderhorn-Lieder reicht von verliebter Schwärmerei bis zu dunkler Todesangst und erfordert ein rasches Umschalten des Sängers, Matthias Goerne ist nicht ohne Grund einer der gefragtesten Liedinterpreten unserer Tage und beherrscht die Klaviatur menschlicher Gefühle virtuos. Vom sehnsuchtsvollen „Urlicht“ bis zum gespenstisch-fatalistischen „Tamboug’sell“ und dem verzweifelten „Trallali, trallaley“ des Soldaten in „Revelge“ trifft Goerne so gut wie immer die richtige Stimmung; nur in der „Fischpredigt“ vermisse ich etwas den spöttischen Humor, der dieses Lied so großartig macht. Und das „Rheinlegendchen“ passt für mich generell eher zu einer Frauenstimme, hätte aber vor allem mehr nach Volkslied klingen dürfen.

Goernes unverwechselbarer Bariton tönt warm und dunkel wie eh und je, wenn auch nicht mehr ganz so flexibel und unangestrengt wie früher. Durch sein recht starkes Vibrato leidet bedauerlicherweise mitunter die Textverständlichkeit, vor allem in der tiefen Lage. Daran trägt auch das Gewandhausorchester unter Neeme Järvi eine gewisse Schuld, das zwar differenziert und klangschön (Solovioline!), aber leider oft etwas zu laut musiziert.  Besonders stark ist Goerne in den kantablen Passagen, denen er mit seinem samtenen Bariton einen warmen Glanz verleiht und so Momente berührender Schönheit erschafft.

Mit Schönheit hat Schostakowitsch’ 15. und letzte Sinfonie nicht mehr viel am Hut. Ausgelaugt, hohl und leer wirkt die Musik über weite Strecken, wie eine Zugfahrt durch öde Landschaften und wird dadurch zum bewegenden, aber auch deprimierenden Zeugnis eines Mannes, der den Tod vor Augen hat. Mein persönliches Problem: So ergreifend die Umstände der Entstehung auch sein mögen, wird die Musik dadurch trotzdem nicht besser. Es mag ja sein, dass Stalin Rossinis „Tell“-Ouvertüre gern mochte; sie im Jahr 1971 als Zitat in den ersten Satz einer Sinfonie einzufügen, ergibt aber musikalisch trotzdem keinen Sinn. Da kann das Orchester noch so präzise spielen, Järvi ein noch so großer Kenner dieser Musik sein – auf mich wirkt sie wie ein gequälter letzter, leider letztlich misslungener, Versuch. Am eindringlichsten wirkt noch der Schluss: Nach und nach verstummt das Orchester, bis nur noch Liegetöne der Streicher und ein im Leerlauf klapperndes Schlagwerk zurückbleiben. Als sei schlicht der Strom abgeschaltet worden, kommt schließlich auch dieser letzte Rest Musik zum Stillstand. Der Rest ist Schweigen.

Frank Sindermann

8. November 2018
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester
Neeme Järvi, Dirigent
Matthias Goerne, Bariton

Auftakt in Überlänge

Das Gewandhaus beginnt seine 238. Saison und die zweite Boston-Woche mit ambitioniertem Programm.

Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons © Gert Mothes

Es ist 22:45 Uhr. Soeben sind die letzten Takte eines Gewandhaus-Konzerts verklungen, das nicht nur das Orchester, sondern auch einen großen Teil des Publikums an seine Grenzen gebracht haben dürfte. Auch ich fühle mich, ehrlich gesagt, etwas erschlagen. Dies liegt aber nicht allein an der schieren Länge des Programms, sondern vor allem an seinem hohen musikalischen und emotionalen Anspruch.

Am Anfang des Konzerts steht ein gemeinsames Auftragswerk des Boston Symphony Orchestra und des Gewandhausorchesters. In der viersätzigen Komposition „Express Abstractionism“ setzt sich Sean Shepherd mit fünf Maler_innen des abstrakten Expressionismus auseinander, ohne jedoch einzelne Bilder musikalisch nachzumalen. Dies wäre auch schlechterdings unmöglich, schon allein wegen der prinzipiellen Unterschiede zwischen Malerei und Musik, andererseits aber auch wegen der geringen musikalischen Prägnanz der Shepherdschen Komposition, die konzeptionell und intellektuell durchaus von hoher Qualität sein mag – dies kann ich nach dem ersten Hören nicht beurteilen –, meinen Ohren allerdings als technisch anspruchsvolle Instrumentationsstudie erscheint, die man fast noch schneller vergisst, als man sie gehört hat. Während man in einem Museum die Möglichkeit hat, sich auf Form- und Farbstrukturen eines abstrakten Gemäldes einzulassen, um diese auf sich wirken zu lassen, erlaubt die Kürze der Sätze es kaum, sich in die jeweiligen Klangwelten einzuhören – fast, als würde man die Gemälde Richters oder Mondrians in einer Onlinegalerie durchscrollen. Die Knappheit der Darstellung führt hier leider zu einer eher oberflächlichen Annäherung. Der Titel sagt es schon: Es ist kein Expressionismus, sondern „Abstraktionismus“ im Expresstempo. Der Applaus für den Komponisten fällt höflich, aber nicht überschwänglich aus. Nelsons‘ Ansatz, mehr Neue Musik zu spielen, ist grundsätzlich großartig und wichtig, wie die Konzerte zur Amtseinführung vor einem Jahr eindrucksvoll bewiesen haben. „Express Abstractionism“ spricht mich persönlich weniger an.

Es folgt Dmitri Schostakowitsch’ 1. Cellokonzert, für das sich Weltstar Yo-Yo Ma als idealer Solist erweist. Dabei verleitet ihn seine emotionale Hingabe an die Musik nicht zu Übertreibungen: Den Beginn spielt er nicht mit überspitzter Dramatik, sondern so, wie es vom Komponisten notiert ist: allegretto und piano. Neben diesem begrüßenswerten Verzicht auf aufgesetzte Schroffheiten beeindruckt vor allem der intensive, fast intime Dialog des Cellisten mit Andris Nelsons, der sehr flexibel auf ihn reagiert. Das Orchester spielt schlicht phänomenal: Der ätherische Fis-Moll-Einsatz der gedämpften Streicher im zweiten Satz tönt wie aus einer anderen Welt herüber, das Horn klingt warm und edel. Schade finde ich, dass die Hörner zu selten wirklich leise spielen. Nehmen wir gleich die Solopassage im zweiten Satz: Sie beginnt mezzopiano espressivo, es folgen die Anweisungen pianissimo, piano und danach wird es nochmals leiser. Im Grunde sind diese Unterschiede heute Abend kaum auszumachen. Ich würde auf derartige Details gar nicht weiter eingehen, wenn ich nicht wüsste, dass es hier um eines der weltbesten Orchester geht, um die „Champions League“, wie Gewandhausdirektor Schulz es gerne nennt. Der dritte Satz besteht aus einer großen Solokadenz, die Yo-Yo Ma ganz im Geiste Bachs angeht. Im rhythmisch vertrackten Finalsatz lässt dann die Präzision des Orchesters etwas nach, was den hervorragenden Gesamteindruck aber kaum trüben kann. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich kein Schostakowitsch-Fan bin – nach solch einer Aufführung könnte ich fast einer werden.

Nach der Pause hat Yo-Yo Ma gleich einen weiteren Einsatz als Solist. Leonard Bernsteins „Three Meditations“ aus der musiktheatralischen Anti-Messe „Mass“ zeigen den Komponisten, der als solcher von der Kritik lange nicht ernst genommen wurde, von einer eher unbekannten Seite. Sowohl den introvertierten Stil der drei Sätze als auch die Hinwendung zu Atonalität und Zwölftontechnik würde man zunächst kaum mit dem Komponisten der „West Side Story“ verbinden. Entsprechend groß ist meine Neugier; als die letzte der Meditationen verklungen ist, bleibe ich allerdings mit gemischten Gefühlen zurück. Einigen sehr berührenden Momenten stehen Phasen gegenüber, in denen die Musik gleichsam auf der Stelle tritt. Auch die manchmal sehr unvermittelten Stilbrüche überzeugen mich nicht so recht. Es ist bezeichnend, dass die dritte Meditation in jenen Momenten besonders wirkungsvoll ist, in denen sie am meisten an Aaron Coplands „Appalachian Spring“ erinnert. Der wieder sehr hingebungsvolle Yo-Yo Ma und Andris Nelsons bemühen sich redlich um einen Spannungsbogen und halten die sehr heterogene Komposition auch in bewundernswerter Weise zusammen – allein, ich bin nicht überzeugt. Leonard Bernstein, der dieses Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, war zweifellos ein bedeutender Komponist, aber die „Three Mediatations“ sind meines Erachtens nicht besonders gut geeignet, dies zu beweisen.

Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ bildet den Abschluss des Konzerts, das ja nicht nur die 238. Gewandhaus-Saison, sondern zugleich auch die zweite Boston-Woche eröffnet. Da Bartók das Werk direkt für das Boston Symphony Orchestra komponiert hat, passt es ideal in dieses intelligent gebaute, fast schon allzu ambitionierte Konzert. Leider wird an mehreren Stellen deutlich, dass die Zeit bereits vorgerückt und die Aufmerksamkeit im Orchester – und Publikum – nicht mehr ganz so frisch ist wie am Anfang des Abends. Besonders im enorm anspruchsvollen Finalsatz reicht die Konzentration nicht mehr für musikalische Höchstleistungen. Was die wunderbaren Soli des zweiten Satzes verheißen, wird so am Ende leider nicht ganz eingelöst.

Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck. Das Programm war ohne Frage abwechslungsreich und anspruchsvoll, dabei aber deutlich zu lang und angesichts der Überlänge für alle Beteiligten etwas zu anstrengend. Daran änderte auch Ausnahmekünstler Yo-Yo Ma nichts, der als Musiker, aber auch als Botschafter für kulturellen Austausch höchste Anerkennung verdient.

Frank Sindermann

31. August 2018, 20 Uhr
Gewandhaus, Großer Saal

Gewandhausorchester Leipzig
Andris Nelsons, Dirigent
Yo-Yo Ma, Violoncello